08.07.2019
Opfer von privatwirtschaftlich verursachten Menschenrechtsverletzungen haben Anspruch auf wirksame Abhilfe. Ein Überblick über die rechtlichen Mittel in der Schweiz zeigt Handlungsbedarf. Die Konzernverantwortungsinitiative bietet gute Lösungsansätze.
Access to remedy oder der Zugang zu Abhilfe ist eines der drei Grundprinzipen der UNO-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte (UNO-Leitprinzipien). Gemäss diesem Prinzip muss jeder Staat sicherstellen, dass Personen, deren Menschenrechte durch Unternehmen verletzt wurden, ein rechtliches Mittel Verfügung steht (Ziffer 25). Die Praxis in der Schweiz zeigt jedoch, dass der Zugang zu Abhilfe mangelhaft ist. Oft ist es Opfern nicht möglich, Unternehmen zur Verantwortung zu ziehen. Darum muss die Schweiz endlich ein robustes System schaffen, welches es den Opfern von privatwirtschaftlich verursachten Menschenrechtsverletzungen ermöglicht, Gerechtigkeit zu erfahren.
Haftung von Muttergesellschaften – die Konzernverantwortungsinitiative bietet Lösungen
Die bestehenden gesetzlichen Instrumente sind zu wenig entwickelt. Aussergerichtliche oder nichtstaatliche Mechanismen haben oft eine thematisch sehr eingeschränkte Reichweite. Die treibenden Kräfte hinter der Konzernverantwortungsinitiative haben die mangelhafte Situation erkannt und Lösungen ausgearbeitet, welche Opfern von privatwirtschaftlich verursachten Menschenrechtsverletzungen den Zugang zu Abhilfe ermöglichen. Die vorgeschlagene Einführung einer Konzernhaftung ist eine dringend notwendige Verbesserung. Denn in der Schweiz – wie auch in den meisten anderen Ländern – besteht das Problem, dass Muttergesellschaften kaum für die Menschenrechtsverletzungen ihrer Tochtergesellschaften im Ausland zur Verantwortung gezogen werden können.
Neu sollen Konzerne mit Sitz in der Schweiz zivilrechtlich für Menschenrechtsverletzungen oder Umweltschäden haften, die von ihnen kontrollierte Unternehmen im Ausland begehen. Betroffen von dieser Regelung sollen laut Initiative nur grosse Unternehmen sein. Kleine und mittlere Unternehmen sind grundsätzlich ausgenommen, es sei denn, sie sind in einem Hochrisikogebiet tätig (z.B. Kupferabbau und Diamantenhandel). Mit der neuen Regelung können Opfer von Menschenrechtsverletzungen im Ausland die Mutterfirma in der Schweiz auf Schadenersatz verklagen. Die Opfer müssen dazu vor Gericht den erlittenen Schaden, dessen Widerrechtlichkeit und einen Kausalzusammenhang beweisen können. Selbst wenn dies gelingt, haben Konzerne immer noch die Möglichkeit, sich aus der Haftung zu befreien; dies jedoch nur, falls sie nachweisen können, dass sie alle geforderte Sorgfalt angewendet haben, um diesen konkreten Schaden zu vermeiden.
Der Bundesrat sieht nur minimalen Verbesserungsbedarf
Der Bundesrat hat 2018 einen Bericht zu allfälligen gerichtlichen und nichtgerichtlichen Massnahmen verabschiedet, welche einen effektiven Zugang zu Abhilfe ermöglichen. Er zeigt sich darin mit der Situation in der Schweiz im Grossen und Ganzen zufrieden. Es seien nur geringfügige Anpassungen notwendig. Der Bundesrat beschränkt sich dabei auf grundsätzlich begrüssenswerte, aber viel zu wenig weitreichende Massnahmen wie die Erhöhung der Sichtbarkeit von bestehenden Wiedergutmachungsmechanismen und die Förderung von Multi-Stakeholder-Initiativen. Aus Sicht der Zivilgesellschaft ist das nicht genug: Die Schweiz muss den UNO-Leitprinzipien voll entsprechen, um ihrer Verantwortung gegenüber Opfern von Menschenrechtsverletzungen weltweit gerecht zu werden. Dazu braucht es umfassende gesetzliche Anpassungen, insbesondere im Straf- und Zivilrecht.
Grosse Lücken bei gerichtlichen Mitteln
Bereits bei der geltenden Rechtslage können fehlbare Unternehmen belangt werden. Es gibt jedoch zahlreiche Hindernisse für Opfer von privatwirtschaftlich verursachten Menschenrechtsverletzungen. So ist das Unternehmensstrafrecht nur sehr wenig entwickelt. Ein Unternehmen kann für ein Verbrechen oder Vergehen nur belangt werden, wenn die Tat wegen mangelhafter Organisation keiner natürlichen Person zugerechnet werden kann (Art. 102 StGB). Es versteht sich von selbst, dass mit diesen rudimentären Regeln nur ein Bruchteil der privatwirtschaftlich verursachten Menschenrechtsverletzungen abgedeckt werden kann.
Ein weiteres Problem liegt darin, dass grosse Unternehmen oft als Konzerne organisiert sind. Im Schweizer Recht kann die Muttergesellschaft für Taten – und somit auch für Menschenrechtsverletzungen – der im Ausland ansässigen Tochtergesellschaft grundsätzlich strafrechtlich nicht belangt werden, auch wenn sie die wirtschaftliche Kontrolle über diese hat.
Was das Gesellschafts- und Haftpflichtrecht betrifft, verlangen die UNO-Leitprinzipien von den Staaten ausdrücklich, dass sie klare Haftungsregeln für Handlungen von Tochtergesellschaften erlassen. Die Konzernverantwortungsinitiative möchte nun solche Regeln einführen.
Nationale Menschenrechtsinstitution könnte Lücke bei aussergerichtlichen, staatlichen Mitteln füllen
Opfern von privatwirtschaftlich verursachten Menschenrechtsverletzungen steht nur im Zusammenspiel der verschiedenen Arten von rechtlichen Mitteln ein umfassender Rahmen für Beschwerden zur Verfügung. Aussergerichtliche Mittel dienen einerseits der Behandlung von Beschwerden und anderseits der (alternativen) Streitbeilegung.
In der Schweiz gibt es nur den Nationalen Kontaktpunkt für OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen (NKP), welcher speziell auf die Bekämpfung von Menschenrechtsverletzungen ausgelegt ist. Der NKP ist jedoch durch einen Mix von Freiwilligkeit und Unverbindlichkeit geprägt, was einen wirksamen Zugang zu Abhilfe zumindest in Frage stellt.
Zusätzlich verfügt die Schweiz über einige Ombudsstellen und staatliche Organe wie die Eidgenössische Kommission gegen Rassismus. Diese sind zwar nicht ausdrücklich auf die Bekämpfung von privatwirtschaftlich verursachen Menschenrechtsverletzungen ausgelegt, können aber in geringem Masse doch dazu dienen.
In die Lücke springen könnte eine Nationale Menschenrechtsinstitution. Damit ist aber in nächster Zeit nicht zu rechnen: Die Schaffung einer solchen Institution geht weiterhin sehr langsam voran und es ist unklar, wie sie schlussendlich aussehen wird.
Nichtstaatliche Beschwerdemechanismen zu wenig wirksam
Zu den nichtstaatlichen Beschwerdemechanismen gehören unter anderem Beschwerdemechanismen auf Unternehmensebene und Multi-Stakeholder-Initiativen. Im Schweizer Kontext kann das Beschwerdeverfahren des Internationalen Verhaltenskodex für die private Militär- und Sicherheitsindustrie (International Code of Conduct) als Beispiel dienen. Der Verhaltenskodex geht auf eine Schweizer Initiative zurück. Zurzeit haben sich 95 Unternehmen zu dessen Einhaltung verpflichtet. Das Beschwerdeverfahren ist ein freiwilliges Mittel zur Selbstregulierung der Unternehmen. Durch die Freiwilligkeit ist die Wirksamkeit des Kodex in Frage zu stellen. Nur wenn sich die Unternehmen einem Beschwerdeverfahren stellen und daraus auch Konsequenzen ableiten, wird den Opfern wirklich geholfen.
Kommentar von humanrights.ch
Der Zugang zu Abhilfe für Opfer von privatwirtschaftlich verursachten Menschenrechtsverletzungen ist und bleibt ein Problem. Der Bundesrat hat es in seinem Bericht verpasst, echte Verbesserungen vorzuschlagen. Die bestehenden Mechanismen – staatliche und nicht-staatliche – sind klar ungenügend.
Die Konzernverantwortungsinitiative hat die Politik in der Schweiz endlich aus ihrer Lethargie aufgeweckt. Eine Haftungsregelung für Konzerne ist überfällig. Gegner/innen der Initiative bemängeln, dass sich die Konzerne mit den neuen Haftungsregelungen einer Flut von Klagen ausgesetzt sehen würden und ständig ihre Unschuld beweisen müssten. Diese Vorwürfe sind unbegründet. Für die Opfer von privatwirtschaftlich verursachten Menschenrechtsverletzungen wird es auch mit der vorgeschlagenen Regelung weiterhin sehr schwierig sein, einen kausalen Zusammenhang zwischen dem Schaden und dem Handeln des betroffenen Unternehmens zu beweisen. Zudem fehlt den Opfern oft der Zugang zu relevanten Informationen, um überhaupt eine zivile Klage einreichen zu können. So behindern staatliche Organe oder Unternehmen regelmässig Bestrebungen zur Informationsförderung wie beispielsweise Umweltstudien.
Der Nationalrat hatte im Sommer 2018 einem deutlich abgeschwächten Gegenvorschlag der Konzernverantwortungsinitiative zugestimmt: Die verbindlichen Regeln sollen nur für sehr grosse Unternehmen gelten und die Haftungsbestimmungen wurden stark eingeschränkt (z. B. Haftung nur für Verletzungen von Leib, Leben oder Eigentum anstatt von allen Menschenrechten). Das heisst auch, dass der Zugang zu Abhilfe für Opfer im Vergleich zum Vorschlag der Initiative stark reduziert würde. Im Frühjahr 2019 hat der Ständerat den Gegenvorschlag abgelehnt und die Initiative zur Ablehnung empfohlen. Nachdem der Nationalrat am 12. Juni 2019 erneut am Gegenvorschlag festgehalten hat, wird der Ständerat im Herbst 2019 darüber entscheiden, ob es in der ersten Jahreshälfte 2020 zur Abstimmung über die Initiative oder ob der Gegenvorschlag zum Zug kommt.
Die Konzernverantwortungsinitiative hat in der Schweiz eine Diskussion ins Rollen gebracht, welche längst überfällig war. Auch wenn jetzt mit dem Gegenvorschlag eine Lösung im Raum steht, welche den Opfern von privatwirtschaftlich verursachten Menschenrechtsverletzung bedeutend weniger wirksame Zugang zu Abhilfe gewährt, so sind dank der Konzernverantwortungsinitiative doch gewisse Verbesserungen zu erwarten.
Quellen
- Plädoyer für die Reform der strafrechtlichen Unternehmenshaftung
Mark Pieth, Jusletter, 19. Februar 2018