03.11.2011
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat im Fall «Heinisch gegen Deutschland» die Meinungsäusserungsfreiheit (Art. 10 EMRK) höher gewichtet als die Treuepflicht einer Arbeitnehmerin, welche ihren Arbeitgeber angezeigt hatte.
Die Beschwerdeführerin hatte während fünf Jahren als Alterspflegerin in einem Berliner Pflegeheim gearbeitet. Nach Personalkürzungen machte sie ihren Arbeitgeber mehrmals auf Qualitätseinbussen aufmerksam. Der Arbeitgeber wies die Vorwürfe stets zurück, die Beschwerdeführerin reichte schliesslich im Dezember 2004 eine Strafanzeige wegen qualifizierten Betruges ein. Der Arbeitgeber kündigte ihr wenig später regulär. Die Beschwerdeführerin verteilte daraufhin einen Prospekt, in dem sie ihre Kolleginnen und Kollegen zum Widerstand gegen die Missstände aufrief. Der Arbeitgeber kündigte ihr kurz danach fristlos. Die Untersuchung gegen das Pflegeheim wurde eingestellt, es kam nie zu einer Anklage.
Der EGMR hält nun in seinem Urteil fest, dass die fristlose Entlassung in diesem Fall Art. 10 EMRK verletzt. Demnach findet Art. 10 EMRK zumindest dann auch Anwendung auf privatrechtliche Arbeitsverhältnisse, wenn eine staatliche Institution oder Organisation Arbeitgeber ist.
In der Schweiz besteht seit dem 1. Januar 2011 in Art. 22a Bundespersonalgesetz für Bundesangestellte eine ausdrückliche Regelung über Melderecht und Meldepflicht über festgestellte Misstände. Für den Privatsektor liegt ein Vorentwurf für eine Teilrevision des Obligationenrechts nach erfolgter Vernehmlassung wieder beim Bundesrat. Ausdrücklich geregelt werden sollen das Meldeverfahren bei Missständen sowie die Sanktionen bei ungerechtfertigten und missbräuchlichen Kündigungen.
- EGMR schützt Whistleblower
Schweizerisches Kompetenzzentrum für Menschenrechte (SKMR), Newsletter vom 26. Oktober 2011