18.07.2024
Jurist*innen, Ethiker*innen und Menschenrechtsorganisationen sind sich heute mehrheitlich einig: Inhaftierte Personen sollten nicht im Freiheitsentzug sterben müssen. Denn an diesem Ort ist ein würdiges Sterben schwer möglich. Zu wenige Gefängnisse verfügen über die dafür nötige Infrastruktur.
In der Schweiz wurden Gefängnisse ursprünglich für Straftäter im Alter zwischen 20 und 30 Jahren konzipiert. Dabei soll ihre bestmögliche Resozialisierung im Zentrum stehen, denn sie werden nach der Verbüssung ihrer Strafe in die Freiheit entlassen.
Nun steigt die Zahl der älteren Menschen in Haft aber zusehends, sie soll sich bis 2030 (gegenüber 2015) verdreifachen, bis 2040 versechsfachen und bis 2050 gar um neun bis elf Mal erhöhen. Die Gründe dafür sind vielfältig: Einerseits ist dieses neue demografische Profil auf die allgemein älter werdende Bevölkerung zurückzuführen. Andererseits wird seit rund 20 Jahren von Politik und Gesellschaft eine Null-Risiko-Strategie gefordert. Deshalb besteht heute eine Tendenz zu härteren und längeren Sanktionen, die sich in einer stark gestiegenen Anzahl der ausgesprochenen stationären therapeutischen Massnahmen nach Art. 59 StGB, einer restriktiveren Verwahrungspraxis und in der neuen Möglichkeit der lebenslangen Verwahrung manifestiert (Das schweizerische Vollzugslexikon, Sterben hinter Gitter, S. 584). Zu guter Letzt ist eine Konsequenz eines längeren Gefängnisaufenthalts eine vorzeitige Alterung der Insassen im Vergleich zur Gesamtbevölkerung.
Im Gefängnis sterben?
«Niemand sollte gegen seinen Willen im Gefängnis sterben», sagt der Sozialanthropologe Ueli Hostettler gegenüber swissinfo.ch: «Die Frage des Todes ist etwas, das die Menschen in gewisser Weise miteinander verbindet. Es gibt Menschen, die denken, dass sie anders sind, weil sie Dinge erreicht haben. Aber in der Stunde des Todes sind wir alle gleich». Hostettler forscht mit seinem Team am Institut für Strafrecht und Kriminologie der Universität Bern und leitete im Jahre 2015 das Projekt «Lebensende im Gefängnis». Die Studie ergab, dass Schweizer Gefängnisse den Bedürfnissen der über 50-Jährigen oft nicht gerecht werden. Zum Beispiel ist die personelle Ausstattung der Gesundheitsdienste in Vollzugseinrichtungen oft unzureichend. Diese Situation stellt die Strafvollzugsanstalten vor neue Herausforderungen: sie müssen zusätzliche Ressourcen bereitstellen und das Personal schulen. Zudem braucht es bauliche Massnahmen.
Altersgerechte Vollzugsplätze in Lenzburg
Ein Beispiel, das in diese Richtung geht, ist die 2011 in der JVA Lenzburg eingerichtete 60plus-Abteilung. «Sie soll den altersbedingten Bedürfnissen und gesundheitlichen Beschwerden oder Beeinträchtigungen der Senioren gerecht werden», schreibt Marcel Ruf, Direktor der Anstalt in einer Sonderausgabe des prison-info (S.20). Es brauche nicht nur ausgebildetes Pflegepersonal, sondern auch eine Kombination von Vollzugsmitarbeitenden, die eine Aus- oder Weiterbildung im sozialpädagogischen oder medizinischen Bereich mitbringen. Dabei sei das Thema Nähe und Distanz in einer Altersabteilung für Mitarbeitende und Gefangene nicht zu unterschätzen und ständig zu evaluieren.
Braucht es ein Gefängnishospiz?
Weiter geht die Forderung von Sophie Haesen, Medizinethikerin und Historikerin: Sie überlegt, ob die Einrichtung eines «schweizweiten Gefängnishospizes» sinnvoll sein könnte. In einem solchen Fall müsste die betroffene Person nur innerhalb des Justizvollzugs verlegt werden. «Diese Verlegung könnte rechtzeitig und ohne (…) Hektik geschehen, was bessere Bedingungen für ein menschenwürdiges Sterben schaffen würde», schreibt sie in der Sonderausgabe des prison-info (S.62). Der Vorteil dieser Idee wäre auch, dass nicht jede JVA eine eigene Altersabteilung einrichten müsste und für ein Gefängnishospiz spezifisches Personal engagiert werden könnte. Auch könnten so Angehörige der Gefangenen angemessen in den Sterbeprozess einbezogen werden, was innerhalb einer JVA schwer zu realisieren ist.
Gefangene haben Rechte - auch am Lebensende
Die Rechte der inhaftierten Person dürfen nur so weit beschränkt werden, als der Freiheitsentzug und das Zusammenleben in der Vollzugseinrichtung dies erfordern (Art. 74 StGB und Art. 235 StPO). Zudem bestimmt Art. 75 Abs. 1 StGB, dass der Strafvollzug so weit als möglich den allgemeinen Lebensverhältnissen zu entsprechen habe (sog. Normalisierungsprinzip). Dies gilt insbesondere auch bei der medizinischen Versorgung von Inhaftierten. Der Staat ist somit verantwortlich dafür, dass sowohl die somatische, psychiatrische als auch die pflegerische und präventive Behandlung und Betreuung der Inhaftierten nach denselben Standards, wie in der ordentlichen öffentlichen Gesundheitsversorgung gewährleistet wird (sog. Äquivalenzprinzip). Der Staat hat eine Fürsorgepflicht für die inhaftierten Menschen. Jede urteilsfähige Person kann in einer Patientenverfügung festlegen, welche medizinischen Massnahmen sie im Fall ihrer Urteilsunfähigkeit zustimmt oder ablehnt (Art. 370 Abs. 1 ZGB). Aus Gründen der Praktikabilität und Rechtsicherheit erscheint es sinnvoll und angezeigt, dass Gefangene ihre Patientenverfügung der/dem Anstaltsärztin/Anstaltsarzt und der Anstaltsleitung unterbreiten und abgeben, damit sichergestellt werden kann, dass diese dem aktuellen Willen der Gefangenen entspricht, dem Personal bekannt gegeben und somit respektiert werden kann.
Assistierter Suizid in der Verwahrung?
Der Grundsatz der Selbstbestimmung gemäss Art. 8 Abs. 1 EMRK und Art. 10 Abs. 2 BV beinhaltet auch das Recht eines jeden urteilsfähigen Einzelnen, die Art und den Zeitpunkt seines Todes frei zu wählen (BGE 142 I 195 E. 3.2). Das Prinzip der Patientenautonomie, d.h. ein Recht auf Selbstbestimmung, stellt zudem ein Leitprinzip der medizinischen Ethik dar. Dies gilt auch im Falle eines Freiheitsentzugs und wird in besonderem Masse relevant im Rahmen einer unter Umständen lange und bis ans Lebensende dauernden Verwahrung. Eine verwahrte Person hat ihre Strafe abgesessen. Wenn sie den Wunsch äussert, aus dem Leben gehen zu wollen, wird zuerst abgeklärt, ob sie urteilsfähig ist und den Entscheid freiwillig getroffen hat. Das tödliche Medikament muss von einer Sterbehilfeorganisation oder einem Arzt/einer Ärztin verabreicht werden. Im März 2023 hat in der Schweiz eine Sterbehilfeorganisation erstmals eine verwahrte Person in den Suizid begleitet. Der assistierte Suizid wurde ausserhalb der Gefängnismauern durchgeführt.
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Livia Schmid
Leiterin Beratungsstelle Freiheitsentzug
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