06.02.2025
Das Bundesgericht hat am 12. Juni 2024 entschieden, dass einem Elternteil das Sorgerecht eines minderjährigen Kindes im Fall einer langjährigen Inhaftierung entzogen werden kann. Dabei wird dem anderen Elternteil das alleinige Sorgerecht erteilt.
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Mit Urteil vom 12. Juni 2024 (5A_853/2023) hat das Bundesgericht die Beschwerde eines Vaters abgewiesen, der gegen die Zuweisung der Alleinsorge für sein Kind an die Mutter vorgegangen war. Hintergrund war die langjährige Haftstrafe des Vaters, die seine Fähigkeit zur Wahrnehmung der elterlichen Verantwortung erheblich beeinträchtigt. Das Gericht stützte sich auf Art. 311 Abs. 1 Ziff. 1 ZGB und stellte fest, dass die alleinige Sorge im konkreten Fall zur Sicherung des Kindeswohls notwendig sei.
Der Hintergrund des Falles
Der Beschwerdeführer (A.) und die Beschwerdegegnerin (B.) haben ein gemeinsames Kind (C.), über deren elterliche Sorge nach der Scheidung gestritten wurde. Im Jahr 2020 wurde A. aufgrund einer Verwicklung in eine Schiesserei zu einer Haftstrafe von neun Jahren und zwei Monaten unter anderem wegen versuchter vorsätzlicher Tötung, schwerer Körperverletzung und mehrfachem Verstoss gegen das Waffengesetz verurteilt. Eine Beschwerde gegen dieses Strafurteil wies das Bundesgericht ab.
Im Juli 2021 reichte B., die Mutter des gemeinsamen Kindes C., die Scheidungsklage ein. Die Ehegatten waren sich dabei uneinig über die Zuteilung der elterlichen Sorge. Das Zivilgericht Basel-Stadt schied die Ehe und sprach die Alleinsorge der Mutter zu, da die Haft des Vaters eine wirksame Ausübung der gemeinsamen elterlichen Fürsorge ausschloss. Das Appellationsgericht Basel-Stadt bestätigte diese Entscheidung.
Grundsatz der gemeinsamen elterlichen Sorge
In einem Scheidungsverfahren überträgt das Gericht einem Elternteil die alleinige elterliche Sorge, wenn dies zu Wahrung des Kindeswohl nötig ist (Art. 298 Abs. 1 ZGB). Es gilt jedoch der Grundsatz, dass Kinder unter der gemeinsamen elterlichen Sorge von Mutter und Vater stehen. Davon soll nur ausnahmsweise abgewichen werden, wenn dem Kindeswohl durch die andere Lösung mehr entsprochen wird. Gemäss Bundesgericht führen diejenigen Gründe, die einen Sorgerechtsentzug nach Art. 311 ZGB rechtfertigen würden, prinzipiell auch eine Alleinzuteilung der elterlichen Sorge zur Folge haben müssten. Die elterliche Sorge kann gestützt auf Art. 311 ZGB entzogen, wenn ein Elternteil wegen Unerfahrenheit, Krankheit, Gebrechen, Abwesenheit, Gewalttätigkeit oder ähnlichen Gründen nicht im Stande ist, die elterliche Sorge pflichtgemäss auszuüben (Art. 311 Ziff. 1 ZGB).
Elterliche Sorge eines Inhaftierten
Das Bundesgericht bezog sich in seinem Urteil vom Juni 2024 auf vergangene Bundesgerichtsurteile, worin entschieden wurde, dass eine Inhaftierung für eine lange Zeitdauer einen «ähnlichen Grund» zur Abwesenheit aus Art. 311 Abs. 1 Ziff. 1 ZGB entspricht. Ein Sorgerechtsentzug kommt in einem solchen Fall jedoch nur in Frage, wenn der Sorgeberechtigte auf unabsehbare Dauer und nicht nur vorübergehend seinen elterlichen Aufgaben nicht nachkommen kann.
Die alleinige elterliche Sorge soll nur in begrenzten Ausnahmefällen einem Elternteil zugeteilt werden. Zu diesen Ausnahmefällen zählen ebenjene Situationen, in denen auch ein Sorgerechtsentzug nach Art. 311 ZGB begründet wäre. Der Ausnahmecharakter der Alleinsorge ergibt sich sodann aus dem Entzugsgrund als solchem; im Zusammenhang mit einem inhaftierten Elternteil, wird vorausgesetzt, dass der Elternteil sein Sorgerecht auf Dauer nicht ausüben kann. Der Vater berief sich in seiner Beschwerde auf die Tatsache, dass eine Inhaftierung nicht per se ein Grund für einen Sorgerechtsentzug sei und es auf den Einzelfall ankommt. Das Bundesgericht ging darauf nicht ein und erkannte im vorliegenden Fall keine Gründe, weshalb die vorausgesetzte dauerhafte Unfähigkeit der Ausübung der elterlichen Sorge nicht erfüllt sein soll.
Umgang mit der Argumentation des Beschwerdeführers
Die Vorinstanz begründete das alleinige Sorgerecht insbesondere damit, dass der Beschwerdeführer A. seit zwei Jahren keinen Kontakt mehr zu seinem Kind hat und er folglich dessen Bedürfnisse nicht mehr kennt. Der Beschwerdeführer bringt dazu vor, dass die Schuld am Kontaktabbruch nicht beachtet wurde und dass durch diese Begründung, das Verhalten der Mutter gerechtfertigt wird, die den Kontakt zwischen dem Beschwerdeführer und dem gemeinsamen Kind aufgrund seiner Straftaten und des angeblichen Sicherheitsbedürfnisses des Kindes abgebrochen hat. Er argumentierte, dass sein Verhalten über das Verbüssen seiner Haftstrafe sanktioniert wird, wenn ihm die strafrechtliche Verurteilung im Sorgerechtsstreit angelastet wird. Das Bundesgericht führte hingegen aus, dass die Vorinstanz die Straffälligkeit nicht als entscheid tragenden Punkt zur Alleinzuteilung betrachtet hat. Sie liess nur ein «gewisses Verständnis für den Kontaktabbruch der Beschwerdegegnerin» durchblicken. Ausschlaggebend für das alleinige Sorgerecht der Mutter ist ausschliesslich die Feststellung, dass das Kind seit zwei Jahren keinen Kontakt mehr zu seinem Vater hatte, dies dürfe mit Blick auf das Kindeswohl berücksichtigt werden.
Der Beschwerdeführer argumentierte, dass mildere Massnahmen wie eine Beistandschaft ausgereicht hätten, um die gemeinsame elterliche Sorge aufrechtzuerhalten. Das Bundesgericht wies dies zurück und stellte klar, dass eine Beistandschaft als Kindesschutzmassnahme auf das Kindeswohl fokussiert ist und kein Instrument sei, eine gemeinsame Sorge möglich zu machen, die ohne fremde Unterstützung nicht in Frage käme.
Inhaftierung wird mit «Abwesenheit» gleichgesetzt
Das Bundesgericht kommt zum Schluss, dass die Vorinstanz sein Ermessen in Einklang mit Bundesrecht ausgeübt hat, indem es entschied, dass die Inhaftierung des Beschwerdeführers und der damit einhergehende Kontaktverlust zu seinem Kind ein ähnlicher Grund der Abwesenheit im Sinne von Art. 311 Abs.1. Ziff. 1 ZGB darstellt. Folglich sei der Entzug der elterlichen Sorge des Beschwerdeführers und die Zuteilung der alleinigen Sorge der Mutter gerechtfertigt. Dies widerspricht der restriktiven Auslegung von Art. 298 Abs. 1 ZGB, welche die Zuteilung der elterlichen Sorge an einen Elternteil als Ausnahme statuiert.
Keine elterliche Sorge bei Inhaftierung?
Für inhaftierte Personen ist es aus menschenrechtlicher Perspektive essenziell, das Sorgerecht für ihr Kind zu übernehmen, da das Recht auf Familie gemäss Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention geschützt ist. Dieses Recht umfasst die Bindung zwischen Eltern und Kind und trägt zur Wahrung der familiären Identität und Stabilität bei. Die Behörden tragen die Verantwortung, Massnahmen zu ergreifen, die das Recht auf Familie auch unter Haftbedingungen ermöglichen. Dazu gehört etwa, regelmässige Kontakte durch Besuche oder digitale Kommunikationsmittel zu fördern und sicherzustellen, dass die Ausübung der elterlichen Verantwortung nicht unnötig eingeschränkt wird. Zudem braucht es kindesgerechte Besuchsräume. Dies schützt nicht nur die Rechte der Eltern, sondern auch das Wohl des Kindes. Ausserdem trägt es zur Resozialisierung der inhaftierten Person bei, was wiederum der Gesamtbevölkerung zu Gute kommt.
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Livia Schmid
Leiterin Beratungsstelle Freiheitsentzug
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