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Tagungsbericht: Strategische Prozessführung in der Schweiz – Aktuelle Entwicklungen und Trends

24.07.2024

Am 18. Juni 2024 fand in Bern die von humanrights.ch organisierte Tagung zum Thema «Strategische Prozessführung in der Schweiz» statt. Sie folgte auf die Grundrechtstagung 2021, welche bereits erste Ansätze der strategischen Prozessführung in der Schweiz beleuchtet hatte. Rund 80 Personen aus NGOs, Advokatur und Wissenschaft nahmen teil und diskutierten über (Erfolgs-)kriterien, Möglichkeiten und Grenzen der strategischen Prozessführung.

Die Rolle der Anlaufstelle für strategische Prozessführung

Marianne Aeberhard, Geschäftsleiterin von humanrights.ch, erklärte in ihrer Begrüssung, wie sich die Idee der Anlaufstelle gewandelt hat: Konzipiert wurde sie, um Menschen beim Führen strategischer Prozesse zu unterstützen. Mit der Zeit wurde aber immer deutlicher, dass ein grosser Teil der Arbeit schon bei früheren Hürden ansetzt, nämlich dem Zugang zum Recht und zur strategischen Prozessführung überhaupt. Denn Betroffene von strukturellen Menschenrechtsverletzungen sind meist ausserordentlich vulnerabel, etwa da sie sich in Abhängigkeitsverhältnissen (z.B. Gefängnissen oder Asylverfahren) befinden oder gesundheitlich angeschlagen sind. Diese Menschen verfügen selten über genügend finanzielle Mittel, um die Prozesskosten zu tragen. Folglich sehen sie von einem Prozess ab oder der Zugang zu juristischem Beistand ist ihnen verwehrt, sollte keine Aussicht auf unentgeltliche Rechtspflege bestehen. Von diesen Schwierigkeiten abgesehen, muss ein potenziell strategischer Fall von Fachpersonen auch überhaupt als solcher erkannt und entsprechend triagiert werden. Hierfür fehlt neben der Zeit oft auch das spezifische Fachwissen für systematische Grundrechtsverletzungen, die über den Einzelfall hinausgehen. Aus diesem Grund widmet sich die Anlaufstelle nun vor allem der Sensibilisierung und Weiterbildung.

Keynote Speech: Strategische Prozessführung aus Sicht einer Wissenschaftlerin und Richterin

Professorin und ehemalige EGMR-Richterin Helen Keller erörterte zuerst den Begriff der strategische Prozessführung, welcher der Bürgerrechtsbewegung in den USA entstammt. Der Begriff sei heikel, denn die Einordnung als strategische Prozessführung geschieht oft retrospektiv und ist eine Wertungsfrage. Der Begriff ist gemäss der Definition von Aidan O’Neill vor dem Hintergrund einer liberalen, demokratischen Rechtsordnung zu verstehen. Gemäss dessen Definition kann es als anti-majoritäres und dennoch zutiefst demokratisches Instrument gesehen werden, weil es gerade darum geht, mittels Zugang zum Recht die fundamentalen Grundrechte innerhalb einer Demokratie zu wahren. So seien zum Beispiel SLAPP-Klagen (kurz für «Strategic Lawsuits against Public Participation», also das heisst missbräuchliche Klagen gegen Personen der Zivilgesellschaft, um diese mundtot zu machen) wohl nicht als strategische Prozessführung zu bezeichnen – obwohl sie allemal strategisch sind. Strategische Prozessführung wird zuweilen aber zum Beispiel als «gouvernement des juges» kritisiert, oder dessen Motive werden in Frage gestellt.

Anhand von erfolgreichen Fällen vor dem EGMR wie El-Masri v. the former Yugoslav Republic of Macedonia oder Centre for Legal Resources on behalf of Valentin Câmpeanu v. Romania zeigte Professorin Keller auf, welche Faktoren zu einem Urteil im Sinne der Kläger*innen beitragen könnten. Es gehe darum, einen eindeutigen Fall auszuwählen sowie sorgfältig zu argumentieren und die menschenrechtlichen Aspekte bereits innerstaatlich zu rügen. Fachliche und finanzielle Unterstützung durch NGOs sei ebenfalls wichtig. Sie betonte aber, dass es oft auch eine Prise Glück braucht und man als Anwält*in gut daran tue, dies den Klient*innen von Anfang an offenzulegen. Aber: auch ein Fall, der vor Gericht abgewiesen wird, könne «erfolgreich» sein, wenn dieser zum Beispiel medial abgedeckt wird und so Rückkoppelungseffekte auf die Politik hat.

Zugang zum Recht für Jenische und Sinti*zze mit fahrender Lebensweise: ein strategischer Prozess an den CERD

Rechtsanwältin Melanie Aebli illustrierte das Konzept der strategischen Prozessführung anhand eines Falles, in dem sie die Radgenossenschaft der Landstrasse, die Dachorganisation der Jenischen und Sinti*zze der Schweiz, vertritt. Nach Durchlaufen der nationalen Instanzen ist der Fall nun hängig vor dem CERD, dem UNO-Ausschuss gegen rassistische Diskriminierung. Es geht darin um den Entscheid einer Gemeinde, den seit Längerem geplante provisorische Durchgangsplatz nicht zu realisieren, obwohl dies im kantonalen Richtplan vorgesehen ist. Diese Standplätze sind notwendig, damit Jenische und Sinti*zze ihren traditionellen Lebensstil pflegen können. Jenische und Sinti*zze sind in der Schweiz seit 2016 offiziell als Minderheit anerkannt.

Da die Basis des vorliegenden Falls im Raumplanungsrecht liegt, fehlt hier der Zugang zum Recht; es ist im entsprechenden Gesetz kein Weg vorgesehen, um den individuellen Anspruch auf Bereitstellung von Plätzen geltend zu machen. Dies rügte die Radgenossenschaft der Landstrasse nun vor dem CERD. Melanie Aebli betonte, dass es bei diesem Verfahren nicht nur um diesen einen Platz geht, sondern auch um das dahinterstehende strukturelle Problem. Sie wies darauf hin, dass bereits das innerstaatliche Verfahren Erfolge zu verzeichnen hatte. So wurde das Verbandsbeschwerderecht der Radgenossenschaft anerkannt: das Bundesgericht hat in seinem Urteil angedeutet, dass unter gewissen Umständen eine Rechtsweggarantie bestehen könnte. Ausserdem haben Jenische und Sinti*zze haben im Laufe des Verfahrens Gehör erhalten und der Gemeinde wurde klar aufgezeigt, welches ihre rechtlichen Verpflichtungen sind.

Verwahrung in der Schweiz: Rechtliche Situation, Reformnotwendigkeiten und strategische Prozessführungen

Rechtsanwalt Stephan Bernard erzählte aus seiner Praxis als Strafverteidiger. Das strafrechtliche Massnahmenverfahren, gerade auch bei der ordentlichen und der «kleinen» Verwahrung, sei aus menschenrechtlicher Sicht problematisch. Es geschehe eine faktische Delegation von Verantwortung im Vorverfahren als auch im Hauptverfahren an Psychiater*innen. Die kontradiktorische Natur des Strafprozesses werde beeinträchtigt, was zum Beispiel Fragen hinsichtlich der Vereinbarkeit mit Artikel 6 EMRK, dem Recht auf ein faires Verfahren, aufwirft. Es zeige sich eine Tendenz hin zur sicherheitsgesellschaftlichen Gefahrenabwehr statt einem liberalen Schuldstrafrecht, welches die Menschenrechte der betroffenen Personen sicherstellt.

Ein zentraler Punkt der Strafverteidigung sei die Bereitschaft, in dieser Hinsicht auf unbekanntem Terrain zu agieren und sich der Problematik anzunehmen. Da es für verwahrte Personen keine schlagkräftige NGO oder Lobby gibt, müssen Impulse für strategische Prozessführung in diesem Bereich aus der Advokatur herauskommen, erklärte Stephan Bernard. Dabei ist oberste Maxime, die Klient*innen nicht zu instrumentalisieren. Ein bottom-up approach, wie zum Beispiel beim Fall von Mohamed Wa Baile zum rassistischen Profiling, erlaube dem Fall, seine eigene Dynamik zu entfalten und die Möglichkeiten auszuschöpfen, die sich hierbei präsentieren. Das Zusammenspiel von Wissenschaft, der Advokatur und auch NGOs sei gerade in einem Bereich ohne Lobby wie diesem sehr wichtig, zum Beispiel durch Publikationen zu Fällen aus der Praxis, welche strukturelle Menschenrechtsproblematiken aufzeigen.

Klimaklagen zum Schutz von Individualrechten

Rechtsanwältin Cordelia Bähr thematisierte den Fall der KlimaSeniorinnen, den ihre Mandantinnen im April 2024 vor dem EGMR gewonnen haben. Der Gerichtshof anerkannte den Opferstatus des Vereins KlimaSeniorinnen und bestätigte, dass Artikel 8 EMRK das Recht auf wirksamen staatlichen Schutz vor den negativen Folgen der Klimaerwärmung umfasst. Dies als Konkretisierung seiner langjährigen Rechtsprechung in Umweltangelegenheiten, gemäss der ein Staat Vorschriften zur Gewährleistung des wirksamen Schutzes von Gesundheit und Leben erlassen und umsetzen muss. Die Konvention aus dem Jahre 1950 wurde vom EGMR nach der «lebendiges Instrument» Doktrin harmonisch und im Lichte heutiger Bedingungen ausgelegt, so wie es auch hinsichtlich anderer neuer Entwicklungen wie dem Internet gemacht wurde, erklärte Cordelia Bähr.

Den Staaten kommt laut dem EGMR-Urteil ein geringer Ermessensspielraum mit Blick auf die Klimaziele zu, aber ein weiter Ermessensspielraum mit Blick auf die Massnahmen zur Erreichung dieser Ziele. Der EGMR verlange von der Schweiz, dass sie ihren fairen Beitrag zur CO2-Reduktion, zu der sie sich auch im Pariser Klimaabkommen bekennt hat, leistet. Das Urteil stellte unter Einbezug des Klima- und Innovationsgesetz (KlG) fest, dass der rechtliche Rahmen der Schweiz ungenügend sei. Mit Blick auf die Erklärungen des Parlaments vom Juni, wonach die Schweiz dem Urteil keine weitere Folge zu geben hat, gelte Artikel 46 EMRK, welcher die Staaten verpflichtet, EGMR-Urteile zu befolgen. Zudem erläutert Bär mit Bezug auf wissenschaftliche Grundlagen detailliert, inwiefern die Anforderungen des Urteils entgegen der Behauptung des Parlaments klar nicht erfüllt sind und dieses entsprechend nicht ignoriert werden darf. Denn mit der derzeitigen Klimastrategie hätte die Schweiz ihr verbleibendes CO2-Budget bis 2050 bereit 2034 aufgebraucht. Das Urteil hat aber bereits über die Landesgrenzen hinaus Wirkung gezeigt, sagte Cordelia Bähr. Elemente davon wurden bereits in laufenden Verhandlungen in den Niederlanden, oder auch im Gutachten des Internationalen Seegerichtshof zum Klimawandel vom Mai 2024 zitiert.

Diskussion

Die verschiedenen Referate und angeregten Diskussionen zwischendurch zeigten auf, dass strategische Prozessführung auch in der Schweiz bewegt und besser verstanden werden will. Wiederaufkehrende Themen waren die Begrifflichkeit der strategischen Prozessführung und wie man «erfolgreiche» strategische Prozessführung definiert. Die Einordnung als solche geschieht oft nicht von Anfang an, sondern retrospektiv. Die trennscharfe Definition des Begriffs an sich spielt vielleicht sowieso eine untergeordnete Rolle, da er als Schlagwort hilfreich sein kann, um Diskurs und Vernetzung rund um dieses Phänomen zu ermöglichen, so Stephan Bernard während dem Schlusspanel.

Es wurde auch verschiedentlich diskutiert, welche Faktoren dazu beitragen, dass strategische Prozessführung gelingt. Gleichzeitig wurden aktuelle Kritikpunkte thematisiert. Auch Kritik ist ernst zu nehmen und zu adressieren, darin waren sich die Panelist*innen einig. Es gälte die Öffentlichkeit und die Politik bei diesen Prozessen mitzunehmen.

Ebenfalls diskutiert wurde die Frage, ob bei strategischer Prozessführung ein bottom-up approach oder eher ein top-down approach zu wählen sei. Fazit war, dass es wohl auf die konkrete Problemstellung und das Rechtgebiet ankommt, und es deshalb nicht zielführend ist, diese beiden Wege gegeneinander auszuspielen. Grundsätzlich wichtig ist: Strategische Prozessführung geschieht vor nationalen und supranationalen Instanzen, hierbei ist zu bedenken, bereits national die menschenrechtlich relevanten Rügen anzubringen.

kontakt

Marianne Aeberhard
Leiterin Projekt Zugang zum Recht / Geschäftsleiterin

marianne.aeberhard@humanrights.ch
031 302 01 61
Bürozeiten: Mo/Di/Do/Fr

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