05.12.2022
Seit 1999 springt humanrights.ch mit seiner Informations- und Dokumentationsarbeit zu Menschenrechten in eine Lücke, welche die neue Nationale Menschenrechtsinstitution NMRI nun schliessen sollte. Nach bald 25 Jahren Diskussionen und Vorarbeiten, an denen sich humanrights.ch immer zentral beteiligte, wird die NMRI im Mai 2023 gegründet. Dies bedeutet ein Wendepunkt in der Geschichte von humanrights.ch. Neben der eigenen Neuorientierung ist es für humanrights.ch ein Anliegen, die über Jahrzehnte aufgebaute Informationsdatenbank im Bereich der Grundlagendokumentation zu Menschenrechten und deren Umsetzung in der Schweiz an die NMRI zu übergeben. Dieser Übergang gestaltet sich jedoch alles andere als einfach. humanrights.ch steht im Jahr 2023 vor grossen Herausforderungen, insbesondere weil abrupt ein wesentlicher Teil der finanziellen Unterstützung in der Redaktion wegbricht.
Interview mit Marianne Aeberhard, seit 2018 Geschäftsleiterin von humanrights.ch
Würdest du sagen, dass humanrights.ch Ende 2022 an einem Wendepunkt in der Geschichte der Organisation steht?
Ja, weil 2023 in der Schweiz die Nationale Menschenrechtsinstitution NMRI ihren Betrieb aufnimmt, dies 30 Jahre nachdem die Mitgliedstaaten der UNO den Auftrag zur Installation einer Institution zur Förderung und zum Schutz der Menschenrechte erhalten haben. Die Geschichte von humanrights.ch ist eng mit diesem NMRI-Projekt verknüpft.
Ende 2022 bedeutet das für humanrights.ch zum einen eine abrupte Reduktion der zur Verfügung stehenden Mittel von rund einem Sechstel des Gesamtbudgets. Zum anderen müssen wir uns als Organisation neu positionieren und eine neue Identität aufbauen.
Aber das Projekt der NMRI kommt ja nicht von einem Moment auf den anderen, da konntet ihr euch doch vorbereiten?
Das ist so. Wir wissen spätestens seit dem Start der Vernehmlassung zur Gesetzesgrundlage der Nationalen Menschenrechtsinstitution NMRI im Jahr 2017, dass der Moment kommen kann, in dem unsere Informations- und Dokumentationsarbeit nicht mehr vom Bund mitfinanziert wird und wir uns neben der NMRI ein neues Profil geben müssen.
Auf dieses Szenario bereiten wir uns seit 2017 strategisch vor. Wir haben in diesem Prozess Massnahmen insbesondere im Bereich Aussenauftritt und Fundraising definiert und zum grossen Teil auch umgesetzt.
Die Schwierigkeit liegt in der Art und Weise, wie sich der Übergang zur NMRI gestaltet.
Kannst du das genauer erläutern?
Das hat mit der erwähnten Verknüpfung der Geschichte von humanrights.ch mit der Nationalen Menschenrechtsinstitution NMRI zu tun. Die UNO-Generalversammlung legte 1993 allen Mitgliedstaaten nahe, eine solche Institution zu etablieren. humanrights.ch wurde im Jahr 1999 gegründet, weil in der Schweiz nach fünf Jahren noch keine Bestrebungen im Gange waren, eine solche Institution zu schaffen. Es war und ist bis heute ein Hauptziel der Organisation, sich in der Schweiz zusammen mit anderen Organisationen der Zivilgesellschaft für die Installation einer starken Nationalen Menschenrechtsinstitution gemäss Pariser Prinzipien einzusetzen.
Eine andere Aufgabe von humanrights.ch besteht seit der Gründung darin, in die Lücke zu springen und Aufgaben zu übernehmen, die typischerweise eine NMRI übernehmen sollte. humanrights.ch tat und tut dies insbesondere im Bereich Information und Dokumentation (vgl. Informationsplattform), der Beobachtung und Begleitung der Umsetzung der Menschenrechte in der Schweiz (Dokumentation der Rechtsprechung und Empfehlungen an die Schweiz, Koordination der Zivilgesellschaft u.a. zur Verfassung der NGO-Berichte zu den Staatenberichten) und insbesondere in seinen Anfängen im Bereich der Menschenrechtsbildung. So waren wir auch für das Pilotprojekt zur Schweizer Menschenrechtsinstitution – dem Schweizerischen Kompetenzzentrum für Menschenrechte SKMR – engagiert. Mein Vorgänger Alex Sutter hatte die ersten fünf Jahre Einsitz im Direktorium des SKMR. humanrights.ch hat in der ersten Zeit die Website des SKMR aufgebaut und bewirtschaftet sowie den Newsletter erstellt.
Heute stellen wir auf www.humanrights.ch mit rund 8'000 Seiten und über einer Million Nutzer*innen pro Jahr das grösste deutsch- und französischsprachige Informationsportal zu Menschenrechten zur Verfügung. Der Aufbau dieses Informationsportals erfolgte von Anfang an mit wesentlicher Unterstützung des Bundes, mit einem Hauptbetrag des EDA und kleineren punktuellen Beiträgen anderer Departemente oder auch Fachkommissionen des Bundes.
Im Jahr 2015 wurde der Geldhahn mehr oder weniger zugedreht und der Beitrag des EDA an die Redaktionsarbeit von humanrights.ch innert zwei Jahren auf 10% reduziert. Der Grund dafür war die Änderung der Finanzierungsstrategie des EDA. Dies ist aus der Perspektive des Aussendepartements durchaus sinnvoll. Warum jedoch in der Schweiz dieser Bereich der Umsetzung der Menschenrechte im Inland im EDA angesiedelt ist und die anderen Departemente nicht beteiligt wurden, ist nicht nachvollziehbar.
Es geht also insbesondere um die Gestaltung des Übergangs in den Bereichen, in denen humanrights.ch typische Aufgaben der NMRI übernommen hat?
Es geht hauptsächlich um die Informationsplattform und dort um den Bereich der Grundlagendokumentation. humanrights.ch konnte dank einer Grossspende die Informationsplattform bis 2017 mit eigenen Mitteln weiterführen. Der Versuch, die Finanzierung durch neue institutionelle Geldgeber*innen zu sichern, scheiterte. Die Organisation war nicht auf das institutionelle Fundraising im grossen Stil und Generieren von Spenden vorbereitet. Es stellte sich 2017 ernsthaft die Frage, wie das Informationsportal weitergeführt werden kann.
Aber: Ebenfalls 2017 wurde der Vernehmlassungsprozess zur Gesetzesgrundlage für eine Nationale Menschenrechtsinstitution NMRI gestartet. Deswegen entschieden wir, mit dem Informationsportal im ähnlichen Rahmen wie bisher weiterzumachen mit der Idee, die Grundlagendokumentation zum entsprechenden Zeitpunkt an die NMRI zu übergeben. Wenn wir die ganze Informations- und Dokumentationsarbeit aufgegeben hätten, hätte dies bedeutet: Die Arbeit von damals 15 Jahren im Umfang von 2100 Seiten in den Sprachen Deutsch, Französisch und Englisch mit einer Sichtbarkeit von rund 500'000 Seitenabrufen pro Jahr in den Sand zu setzen.
Diese Weiterführung der Informationsplattform war aber eine riesige Belastung für humanrights.ch. Bereits 2019 mussten wir das Volumen der Redaktion herunterfahren und erhebliche Eigenmittel einsetzen. Hätten wir so weitergemacht, wären wir Ende 2020 Konkurs gegangen. So kommunizierten wir Ende 2019, dass wir die Informationsarbeit im Laufe des 2020 auf ein Minimum herunterfahren, um die Existenz der Organisation nicht zu gefährden. Gleichzeitig nahmen wir Neuverhandlungen mit der Abteilung Frieden und Menschenrechte des EDA auf. Wir machten das Angebot, die Grundlagendokumentation an die NMRI zu übergeben, wenn die Redaktionsarbeit bis zum Start der NMRI weiterhin unterstützt würde. Denn dass die NMRI einen Informations- und Dokumentationsauftrag hat, war damals bereits im neuen Gesetz (Art. 10b) festgeschrieben. Wir erhielten auch tatsächlich die mündliche Finanzierungszusicherung der Redaktionsarbeit bis zum NMRI-Start im Jahr 2023. Hingegen konnten wir vorerst nur einen Zweijahresvertrag für die Geschäftsjahre 2020 und 2021 abschliessen, der für das Jahr 2022 noch verlängert wurde. Die Eingabe für das Jahr 2023 wurde im Juni 2022 jedoch abschlägig beantwortet mit der Begründung, dass dieselbe Bundesstelle ab 2023 auch für die Finanzierung der NMRI zuständig sei und eine Doppelfinanzierung vermieden werden müsse.
Du hast aber vorhin erwähnt, dass der offizielle Fahrplan vorsah, dass die Nationale Menschenrechtsinstitution NMRI 2023 ihren Betrieb aufnimmt?
Ja genau, das war das kommunizierte Ziel seitens des EDA. In unserer ersten Projekteingabe gingen wir vom Betriebsstart der NMRI per 1. Januar 2023 aus und sahen eine Überlappung unserer Arbeit mit der NMRI von einem halben Jahr vor. In diesen sechs Monaten sollten die Grundlagen übergeben werden. Wir gingen bei diesem Szenario davon aus, dass ab 1. Januar 2023 eine handlungsfähige Geschäftsleitung existieren würde. Dafür hätten die Vorbereitungsarbeiten jedoch viel früher aufgenommen werden müssen, als sich der positive Parlamentsentscheid abzeichnete.
Tatsache ist aber, dass das EDA erst im Juni 2022 eine Arbeitsgruppe zur Gründung der NMRI konstituiert hat. Neu soll im Mai 2023 die Gründungsversammlung der NMRI stattfinden und ein Vorstand eingesetzt werden. Bis der physische Standort der NMRI festgelegt und bezugsbereit ist und bis eine Geschäftsleitung eingesetzt und handlungsfähig ist, wird es wohl Ende 2023.
Was heisst das nun für die Übergabe der Grundlageninformationen an die NMRI?
Das heisst, dass wir diesen ganzen Bereich der Grundlagen ab 1. Januar 2023 nicht mehr aufrechterhalten können und diese Seiten relativ schnell offline nehmen müssen. Unsere Organisation lebt vom Aussenauftritt, wir können es uns nicht leisten, nicht aktuell zu sein. Das Offline-Nehmen kommt aber einer Vernichtung der Grundlagen gleich, denn die über Jahre aufgebaute Sichtbarkeit im Netz geht schnell verloren. Hier hat das Internet seine eigene ganz brutale Dynamik.
Dies wollen wir aber mit allen Mitteln vermeiden, es geht um nichts Geringeres als bald 20 Jahre und Tausende von Stunden Arbeit von unseren festangestellten und ehrenamtlich tätigen Redaktionsmitarbeitenden. Seit 2004 wurden rund 4 Millionen Franken an Drittmitteln in die Informationsplattform investiert. Und schliesslich geht es auch um darum, Hunderte von Ratsuchenden nicht im Stich zu lassen, die sich auf unserer Website orientieren.
Deswegen verlangten wir nach der abschlägigen Antwort ein Treffen mit der Leitung der AFM im EDA. Dieses Treffen war hilfreich, und wir hatten den Eindruck, dass wir die Situation plausibel darlegen konnten. Wir wurden vom EDA beauftragt, ein «Transferprojekt» zu entwickeln und darin die Kosten des Transfers der Grundlagendokumentation an die NMRI zu berechnen. Das war eine sehr aufwändige Angelegenheit; wer sich mit Websites auskennt, weiss, dass ein solcher Transfer - insbesondere bei dieser Datenmenge - nicht einfach «copy paste» bedeutet, sondern viele konzeptuelle und inhaltliche Überlegungen sowie Programmierarbeit dafür nötig sind. Inhalte auf einer Website können nicht einfach «archiviert» oder «eingefroren», nach Monaten oder Jahren an eine andere Organisation übergeben und dann nahtlos «weiterbenutzt» werden. Die Originaldaten müssen adäquat aufbereitet werden, sodass sie auf der neuen Plattform abgelegt werden können. Dafür muss aber diese neue Plattform – sprich die Website der NMRI – überhaupt erst existieren.
Werdet ihr 2023 nun vom EDA dafür bezahlt, dass ihr die Grundlageninformationen für den Transfer an die NMRI vorbereitet?
Nein. Mitte Oktober 2022 hatten wir noch immer keinen Entscheid über das «wie weiter» im Jahr 2023. Wir befanden uns kurz vor Jahresende in der herausfordernden Situation, uns gleichzeitig darauf vorzubereiten, entweder mit erheblich weniger Mitteln oder auf bisherigem Niveau weiterzufahren. Aus dieser Unsicherheit heraus hatten bereits beide Redaktionsleiterinnen begonnen, neue Stellen zu suchen und diese auch gefunden. Normalerweise schreiben wir im August die neuen Praktika aus, auch das war nicht möglich. Schliesslich kam Ende Oktober der Entscheid des EDA, dass das «Transferprojekt» so nicht finanziert, sondern lediglich ein kleiner Beitrag an die Aufrechterhaltung der Grundlageninformationen 2023 geleistet werden könne, um diese auf der Website aktuell zu halten. Ich gehe nicht davon aus, dass man sich Gedanken dazu gemacht hat, welche Konsequenzen dieser späte Entscheid und die Reduktion von einem Sechstel unseres ganzen Budgets innerhalb von zwei Monaten für uns bedeutet. Es stellte sich für uns sogar die Frage, ob wir überhaupt noch Personal mit der nötigen Qualifikation und Wissen haben, um diesen Minimalauftrag zu übernehmen.
Was bedeutet das nun für die Redaktionsarbeit ab Januar 2023?
Es kommt deswegen nicht zu einer Katastrophe. Ich habe bereits vor Monaten Szenarien für den Fall entwickelt, dass die Finanzierung seitens des Bundes wegfällt. Es wird nicht einfach, und wir müssen die Situation sicher 2023, allenfalls auch 2024 mit Investitionen aus unseren Reserven abfedern. Wir sind ausserdem seit Längerem daran, ein Konzept zu entwickeln, wie und mit welchem Fokus diese verkleinerte Redaktion weiterarbeiten wird.
Ich hätte mir einfach gewünscht, dass dieser Übergang geordneter abläuft und ich die Personalplanung selber steuern kann. Die monatelange Unsicherheit war sehr belastend für das Team, und ich verstehe es absolut, dass Redaktionsmitglieder neue Stellen gesucht haben. Zwischen Dezember 2022 und Januar 2023 wird sich nun das Redaktionsteam von 360 Stellenprozenten auf knapp einen Drittel reduzieren. Dies auch deswegen, weil wir zu spät sind, um das Nachfolgepraktikum ab Februar nahtlos zu besetzen. Die weitaus gravierende Konsequenz ist jedoch der Verlust von Fachwissen und Kenntnissen der riesigen Informationsplattform durch den Austritt der Redaktionsleiterinnen. Dies bedeutet einen erheblichen Mehraufwand, der in die Einarbeitung von neuem Personal gesteckt werden muss, sollten wir später doch noch mit dem Transfer der Grundlageninformationen an die NMRI beauftragt werden.
Ich hoffe sehr, dass wir in der neuen Redaktion einen guten Modus finden. Ab Januar 2023 wird humanrights.ch den Informationsauftrag stärker auf die Kernthemen Zugang zum Recht, Diskriminierung und Rassismus, Freiheitsentzug sowie die Umsetzung der Menschenrechte in der Schweiz ausrichten. Wir müssen uns nun darum bemühen, diese Entwicklungen und die gegen aussen zwangsläufig spürbaren Veränderungen nachvollziehbar zu kommunizieren, um durch diesen Umbruch nicht unsere treuen Unterstützer*innen zu verlieren. Denn auf ihre Spenden sind wir mehr denn je angewiesen.
Wie hätte es besser laufen können?
Das Einfachste wäre gewesen, der Bund hätte unsere Arbeit noch ein bis anderthalb Jahre weiterfinanziert, bis die NMRI ihren Betrieb aufgenommen hat. Es geht um einen vergleichsweise kleinen Betrag. Wenn wir uns vor Augen führen, mit welchen Budgets der Bund sonst hantiert und mit welchem lockeren Geldbeutel sonst ein x-Faches z.B. für die Beschaffung von Kampfjets, den Strassenausbau oder die Förderung von einheimischen Weinen ausgegeben wird, ist dieser ganze Prozess nicht einfach nachzuvollziehen. Er geht auf Kosten einer engagierten Menschenrechtsarbeit in der Schweiz. Wir machen diese Informations- und Dokumentationsarbeit nicht als Selbstzweck, sondern setzen uns Stärkung und Umsetzung der Menschenrechte in der Schweiz ein.
Aus meiner Sicht gibt es nichts Besseres für die NMRI als ein Start mit einem Aussenauftritt, der bereits eine Sichtbarkeit von einer halben Million Menschen hat. Das kann das immer wieder propagierte Bild der Schweiz als Hüterin der Menschenrechte ja nur unterstützen.