29.07.2024
Am 28. Juli 2023 hatte der UNO-Ausschuss gegen Folter (CAT) seine Schlussbemerkungen zum achten periodischen Bericht der Schweiz veröffentlicht. Ein Jahr später sind die erzielten Fortschritte minim bis gar nicht vorhanden. Der CAT hatte die Schweizer Regierung aufgefordert, bis am 28. Juli 2024 Informationen über die Umsetzung seiner Empfehlungen vorzulegen. Nun zieht die NGO-Plattform für Menschenrechte Schweiz, der über 100 NGOs angehören, in einem alternativen Bericht Bilanz der Fortschritte und Hindernisse. Sie zeigt sich insbesondere besorgt über die grossen Probleme im Asylbereich und über die Polizeigewalt.
Probleme im Asylsystem und dem Grundsatz der Nichtzurückweisung (Non-Refoulement)
Migrant*innen, die im Rahmen des Dublin-Systems nach Kroatien zurückgeschickt werden, wird vor Ort der Zugang zum Asylsystem und zu einer angemessenen medizinischen Versorgung verweigert. Médecins du Monde hat ihren Widerstand gegen diese Rückführungen im September 2023 bekräftigt. Die Organisation bietet medizinische Behandlung für Personen, die im Rahmen des Dublin-Systems von der Schweiz in ein anderes Land zurückgeschickt werden. Joëlle Spahni, Leiterin der Abteilung für internationale Rechtsstreitigkeiten bei AsyLex, erklärt ihr Unverständnis: «Die Rückführung von Asylsuchenden, die bereits in Kroatien unmenschlich und erniedrigend behandelt wurden, ist sehr traumatisierend, vor allem ohne angemessene medizinische Versorgung. Sie stellt in einigen Fällen eine Verletzung des Non-Refoulement-Prinzips dar». Schutzbedürftige Flüchtlinge, die nach Griechenland abgeschoben werden, sind ebenfalls Gewalt und Armut ausgesetzt, da die Unterstützungsmechanismen nicht funktionieren. Gegen eritreische Asylsuchende mit abgelehntem Asylantrag richteten sich zahlreiche parlamentarische Initiativen, die ihre Abschiebung fordern. Dabei weisen Berichte darauf hin, dass Rückkehrer*innen dem Risiko ausgesetzt sind, gefoltert zu werden.Ausserdem lehnt die eritreische Regierung kategorisch jegliche Zwangsrückführung ab.
Zunehmende Komplexität der Vertretung von Asylbewerber*innen
Die Rechtsvertreter*innen in den Asylzentren sind mit einer erheblichen Arbeitsüberlastung konfrontiert, wodurch sie Schwierigkeiten haben, ihre Rolle effektiv zu erfüllen. Darüber hinaus werden einige wesentliche rechtliche Aspekte wie Racial Profiling oder Familienzusammenführung nicht von den staatlich finanzierten Rechtsvertreter*innen abgedeckt, was die zusätzliche Intervention von NGOs erforderlich macht. Diese Überlastung hat dazu geführt, dass einige NGOs neue Fälle ablehnen, wodurch der Zugang von Asylbewerber*innen zu einer Rechtsvertretung gefährdet wird.
Gleichzeitig sehen sich NGOs wie AsyLex zunehmend mit Hindernissen konfrontiert, wie z. B. mit strategischen Klagen gegen die öffentliche Beteiligung (sog. «SLAPP»), die von staatlichen Akteuren durchgeführt werden, um ihre Arbeit zu behindern. Dazu gehören die Verweigerung der Bezahlung von Rechtsdienstleistungen, die Androhung von Disziplinarstrafen und sogar Versuche, den Zugang zu Asylzentren zu verhindern. Infolgedessen werden NGOs zunehmend dabei eingeschränkt, wirksame rechtliche Unterstützung zu leisten. Dadurch wird das Recht von Asylsuchenden auf Zugang zur Justiz gefährdet.
Racial Profiling und Polizeigewalt
In mehreren Verfahren von Amtsmissbrauch oder Polizeigewalt in Zusammenhang mit Racial Profiling gab es im vergangenen Jahr bedeutende Entwicklungen. Am 10. Oktober 2023 erklärte die Staatsanwaltschaft des Kantons Waadt, ein Polizist habe in Notwehr gehandelt, als er auf Roger 'Nzoy' Wilhelm, einen Schweizer südafrikanischer Abstammung, schoss. Überraschenderweise wurden die vier anwesenden Polizisten nicht wegen unterlassener Hilfeleistung belangt. Dies, obwohl sie damals über sechs Minuten gewartet hatten, bevor sie Erste-Hilfe-Massnahmen einleiteten.
Am 15. Februar 2024 verlor Wilson A. seine Berufung vor dem Obergericht des Kantons Zürich bezüglich der Verletzungen, die er sich bei einer Polizeikontrolle zugezogen hatte. Das Gericht urteilte, der Schweizer nigerianischer Herkunft habe die Eskalation durch sein Verhalten selber herbeigeführt. Der Fall Wilson A. reicht bis ins Jahr 2009 zurück. Er wurde begleitet von zahlreichen Rückschlägen. Der Fall zeigt die Schwierigkeiten, mit denen Opfer von Racial Profiling systematisch konfrontiert sind, wenn sie Zugang zur Justiz erhalten wollen.
Schliesslich wurde die Schweiz am 20. Februar 2024 vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte im Fall «Wa Baile» wegen Racial Profiling verurteilt. «Wir werden auf allen Ebenen des Staates Schritte einleiten, um eine effektive Umsetzung dieses historischen Urteils zu ermöglichen», sagt Tarek Naguib, Koordinator der NGO-Plattform Menschenrechte Schweiz. Der strukturelle Rassismus, der die Ordnungskräfte immer noch behaftet, ist für ihn kein Grund, aufzugeben.
Anschuldigungen wegen Gewalt in einer Asylunterkunft
Zwischen März und Mai 2023 erhoben sechs Jugendliche Anschuldigungen, sie seien Opfer körperlicher Gewalt durch Wachpersonal der vom SEM beauftragten Sicherheitsfirma Protectas AG geworden. Es handelte sich dabei um Asylsuchende im Alter von 16 bis 17 Jahren, die in der Militärkaserne von Les Rochats (VD) untergebracht waren. Die Vorfälle umfassten körperliche Angriffe, willkürliche Festnahmen und den Einsatz von Pfefferspray. Die Jugendlichen haben Strafanzeigen wegen Freiheitsberaubung, Nötigung, Körperverletzung und Amtsmissbrauch eingereicht, die derzeit von der Staatsanwaltschaft untersucht werden. Die beteiligten Sicherheitsbeamten hatten einen militärischen oder polizeilichen Hintergrund, aber keiner von ihnen hatte eine spezielle Ausbildung für die Beaufsichtigung von jugendlichen Migrant*innen erhalten. Zudem gab es keine klaren Richtlinien des SEM, welche die Anwendung von Gewalt und Freiheitsentzug regelten.
Offensichtlicher Mangel an statistischen Daten
Der Ausschuss empfahl der Schweiz, detaillierte und zentralisierte Daten über die Umsetzung des Übereinkommens gegen Folter zu erfassen. Es gibt jedoch keinen klaren politischen Willen, diese Empfehlungen zu befolgen. Dieser Mangel an statistischen Daten macht es besonders schwierig, strukturelle Probleme zu beurteilen, die zu Verstössen gegen das Verbot der Folter oder anderer unmenschlicher Behandlung, einschließlich Racial Profiling, führen können.
Auswirkungen des Föderalismus auf die Umsetzung der Empfehlungen
In der Schweiz sind die Kantone für alle Bereiche zuständig, die nicht ausdrücklich in der Verfassung an den Bund delegiert wurden. Dieses föderale System bedeutet, dass die Kantone für die Umsetzung vieler Empfehlungen des Anti-Folter-Ausschusses zuständig sind, wie z.B. in den Bereichen Polizei, Strafjustiz (mit Ausnahme der vom Bundesgericht ausgeübten Tätigkeit) und Migration (wenn Asylsuchende ihrem Kanton zugewiesen werden). Die NGO-Plattform Menschenrechte Schweiz beklagt jedoch eine mangelnde Koordination zwischen dem Bund, der das Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe unterzeichnet hat, und den Kantonen, die für die effektive Umsetzung des Übereinkommens zuständig sind. Diese Diskrepanz zwischen der Bundes- und der Kantonsebene muss von den Bundesbehörden gebührend berücksichtigt werden, indem sie die Kantone dazu anhalten, das Übereinkommen einzuhalten und die Empfehlungen des Ausschusses zu befolgen. Eine wirksame Koordination zwischen diesen beiden Ebenen ist von entscheidender Bedeutung, um das Recht der in der Schweiz lebenden Personen auf Schutz vor Misshandlung zu gewährleisten.
Hier finden Sie den Zwischenbericht.
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Tarek Naguib
Koordinator der NGO-Plattform Menschenrechte Schweiz
tarek.naguib@humanrights.ch
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