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Das Wohlergehen von Kindern und Jugendlichen im Nothilferegime ist stark gefährdet

01.10.2024

Die Eidgenössische Migrationskommission EKM veröffentlichte Anfang Oktober 2024 zwei Untersuchungen zum Thema «Nothilfe» im Asylbereich: Ein Rechtsgutachten der Universität Neuenburg kommt zum Schluss, dass die gegenwärtige Situation für Kinder und Jugendliche in der Schweiz weder mit der UN-Kinderrechtskonvention noch mit dem internationalen Völkerrecht oder der Bundesverfassung vereinbar ist. Eine Studie des Marie Meierhofer Institut für das Kind (MMI) legt erstmals ausführliche empirische Daten zur Lebenssituation von ausreisepflichtigen, nothilfebeziehenden Kindern und Jugendlichen vor: Die Erkenntnisse sind besorgniserregend.

In den letzten 20 Jahren haben mehrere Vorstösse im Bundesparlament zu Verschärfungen im Asylgesetz (AsylG) geführt: So erhalten zum Beispiel Asylsuchende, auf deren Gesuche nicht eingetreten wird (die so genannten NEE), keine Sozialhilfegelder mehr; auch sind Personen mit einem negativen Asylentscheid (Wegweisungsentscheid) von der Sozialhilfe ausgeschlossen (Art. 82 AsylG). Sie erhalten auf Gesuch hin lediglich «Nothilfeunterstützung». Diese liegt tiefer als die Ansätze der Asylsozialhilfe. Ihre Höhe variiert von Kanton zu Kanton, oft handelt es sich um rund 8 Franken pro Tag und Person. Ziel ist es dabei, so formulierte es jeweils das Parlament, den Anreiz zum Verbleib in der Schweiz zu minimieren. Heute weiss man, dass diese geringen Finanzhilfen für Familien zur Prekarisierung der Lebensumstände von Kindern und Jugendlichen führen. Dies, obschon die Betroffenen bereits durch ihre Erfahrungen in ihrer Heimat, auf der Flucht oder im Asylverfahren mehrfach belastet sind. Hinzu kommt, dass bis heute nicht belegt ist, dass ein solcher Ansatz die Betroffenen von einem Verbleib in der Schweiz abhält oder ihre Ausreise fördert (Rechtsgutachten der Uni Neuenburg, S. 19). Denn die Gründe, trotz negativem Entscheid hierzubleiben, sind vielfältig: Oft haben die Betroffenen Angst, in ihr Heimatland zurückzukehren, leiden unter gesundheitlichen Problemen oder es gibt keine Rücknahmeabkommen. Das Problem in ihrem Asylverfahren jedoch war, dass ihnen die Migrationsbehörden ihre Geschichte nicht abnahmen.

Gravierende Konsequenzen für die psychische Gesundheit

In den Medien taucht immer wieder Kritik am Nothilfesystem auf. Es wird die Frage gestellt, ob dieses Leben der Kinder und Jugendlichen mit der UN-Kinderrechtskonvention KRK kompatibel sei — oder gar schädlich für ihre Entwicklung und Gesundheit. So gab die EKM im Jahre 2020 beim national und international renommierten Marie Meierhofer Institut für das Kind (MMI) eine Studie in Auftrag; es sollte eine schweizweite, wissenschaftliche Untersuchung über das Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen, die im Nothilferegime leben, durchgeführt werden. Das MMI ist ein Kompetenzzentrum für die frühe Kindheit und ein assoziiertes Institut der Universität Zürich.

Damit wurde zum ersten Mal eine empirisch fundierte und nahezu flächendeckende Erhebung anhand einer multidisziplinären und multimethodalen Herangehensweise durchgeführt. Die Forscherinnen sprachen mit zahlreichen involvierten Fachpersonen und mit betroffenen Kindern, Jugendlichen und ihren Eltern in Notunterkünften. Ihre Erhebungen zeigen, dass in der Schweiz im Jahre 2020 rund 700 Kinder und Jugendliche im Nothilferegime lebten. Über 50 Prozent befanden sich seit mehr als einem Jahr in der Nothilfe, 17 Prozent bereits mehr als vier Jahre. Im Jahre 2022 lebten rund 70 Prozent der erfassten Familien mit minderjährigen Kindern seit mehr als einem Jahr im Nothilfebetrieb.

Besonders besorgniserregend sei, so steht es im Bericht, der «schlechte psychische Zustand» der Ausreisepflichtigen. «Insbesondere jene, die in (gemischten) Kollektivunterkünften untergebracht waren, erlebten eine Reihe verstörender und kontinuierlich traumatisierender Ereignisse», beschreiben die Forscherinnen die Situation (MMI-Studie, S. 9). Die Kinder und Jugendlichen erlebten verschiedene Formen von Kriminalität, regelmässige Polizeieinsätze oder Gewalt unter den Mitbewohner*innen. Auch wird die Unterbringung von Familien auf engstem Raum mit durchschnittlich fünf Familienangehörigen in einem Zimmer bemängelt. Die medizinische Versorgung sei zwar im Grundsatz gewährleistet, hingegen zeigten sich Lücken bezüglich der Kontinuität; auch würden zahnmedizinische Behandlungen massiv vernachlässigt.

Gleichzeitig wird kritisiert, dass die soziale Teilhabe der Kinder und Jugendlichen durch die oft abgeschiedene Lage der Unterkünfte und durch den häufigen Unterbringungswechsel deutlich erschwert ist. Kinder unter vier Jahren zeigten eine Unterstimulation und seien erheblichen Entwicklungsrisiken ausgesetzt. Bei Jugendlichen werde durch das Beschäftigungs- und Weiterbildungsverbot nach dem neunten Schuljahr die Berufsbiografie massiv beeinträchtigt. Als Gesamtbild zeichnet sich klar ab, dass «…alle nothilfebeziehenden Kinder und Jugendlichen grossen Risiken in Bezug auf ihr Wohl, ihre Gesundheit und ihre Entwicklung ausgesetzt sind», schreiben die Forscherinnen (MMI-Studie, S. 10). Und weiter befürchten sie: «Es bestehen erhebliche Zweifel, ob die aktuelle Lage der Kinder und Jugendlichen mit der UN-Kinderrechtskonvention kompatibel ist».

Nicht vereinbar mit der Kinderrechtskonvention

Für die zweite Studie beauftragte die EMK die Universität Neuenburg mit einem Rechtsgutachten. Darin sollte geklärt werden, inwieweit das Nothilferegime mit der Bundesverfassung, der UN-Konvention für die Rechte des Kindes oder anderen internationalen Abkommen kompatibel ist. Für die Gutachterinnen erregt die psychische Gesundheit der Kinder am meisten Besorgnis. Die Mehrheit der Kinder sei psychisch sehr stark belastet. Auch hier stellen die beiden Expertinnen fest: «Die betroffenen Kinder zeigen Entwicklungsstörungen oder Verhaltensauffälligkeiten in vielen Bereichen sowie Schlaf- und Angststörungen» (Rechtsgutachten der Uni Neuenburg, S. 21). Einerseits seien die Kombination von beengten Wohnverhältnissen, Gewalt und Armut zusammen mit der psychischen Belastung der Eltern ein erheblicher Risikofaktor für Misshandlung. Andererseits würden Gesundheitsfachpersonen nicht regelmässig einbezogen, die Kindesschutzbehörden selten eingeschaltet und die Verantwortlichkeiten seien unklar.

So kommt auch die Universität Neuenburg in ihrem Gutachten zum Schluss, dass die gegenwärtige Situation im Bereich der Nothilfe für Kinder weder mit der KRK noch mit den weiteren völkerrechtlichen und verfassungsrechtlichen Bestimmungen vereinbar sei.

humanrights.ch schliesst sich den Forderungen der EKM nach einer Reform der Nothilfe im Asylbereich an. Um die Grundrechte der Kinder und Jugendlichen zu wahren, müssen die Behörden das Wohl und die Interessen des Kindes bei allen Entscheidungen im Migrationsbereich ins Zentrum stellen.

Dieser Text wurde von Barbara Heuberger verfasst. Sie ist freie Journalistin mit Schwerpunkt Kinderrechte und schreibt regelmässig Texte für humanrights.ch.