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UNO-BRK Ausschuss: Die umfassende Beistandschaft gehört abgeschafft

07.09.2022

Trotz vielseitiger Bedenken wurde bei der Revision des Erwachsenenschutzrechts die umfassende Beistandschaft mit automatischem Entzug der Handlungsfähigkeit ins neue Recht übernommen. Dafür wurde die Schweiz Ende März 2022 vom zuständigen UNO-Ausschuss scharf kritisiert. Expert*innen fordern die Abschaffung dieser Massnahme.

Gastkommentar von Daniel Rosch*

Der Ausschuss der UNO-Behindertenrechtskonvention hat es in seinen abschliessenden Bemerkungen vom 23. März 2022 gegenüber der Schweiz klipp und klar benannt. Er ist besorgt darüber, dass es immer noch eine Massnahme wie die «guardianship» («Vormundschaft») in der Schweiz gibt, bei welcher die Handlungsfähigkeit einer Person (automatisch) entfällt. Die umfassende Beistandschaft nach Artikel 398 des Zivilgesetzbuches, mit dem automatischen Entzug der Handlungsfähigkeit in allen (sic!) Lebensbereichen, ist die Nachfolgeinstitution der Vormundschaft des alten Rechts. Ihre Überführung in das revidierte Gesetz war bereits im Reformprozess umstritten. Es stellte sich schon damals die Frage, ob es im Rahmen der sonst massgeschneiderten Massnahmen, nämlich der Begleit-, Vertretungs- und Mitwirkungsbeistandschaft, einer solch schwerwiegenden Massnahme noch bedarf.

Mit den Bedenken des Ausschusses wird die Frage nach der Zulässigkeit der umfassenden Beistandschaft zu Recht wieder aufgeworfen. Es gehört gerade zu der Hauptstossrichtung der UNO-Behindertenrechtskonvention, dass Massnahmen, welche unspezifisch die Handlungsfähigkeit in allen Lebensbereichen entziehen, nicht zulässig sein sollen. So wurden die entsprechenden Massnahmen im deutschsprachigen Raum bereits in Österreich und Deutschland abgeschafft.

Im schweizerischen Erwachsenenschutzrecht wird die Handlungsfähigkeit nur ausnahmsweise beschränkt. Zunächst bedarf es für eine Beistandschaft überhaupt eines «Schwächezustandes», wie etwa einer geistigen Behinderung oder einer psychischen Erkrankung (Art. 390 ZGB). Der «Schwächezustand» muss kausal dazu führen, dass eine Person nicht mehr ausreichend selbstbestimmt handeln kann, also schutzbedürftig ist. Nur dann kommt eine Beistandschaft überhaupt in Frage.

Ist eine Person beispielsweise aufgrund einer psychischen Erkrankung nicht mehr in der Lage ausreichend selbstbestimmt zu handeln, kann es notwendig werden, dass ein*e Beiständ*in gemäss ihrem (mutmasslichen) Willen für sie handelt und sie vertritt. Folge kann sein, dass eine Vertretungsbeistandschaft (Art. 394 ZGB) errichtet wird. Mit einer solchen kann der/die Beiständ*in die betroffene Person vertreten. Deren Handlungsfähigkeit ist jedoch nicht beschränkt. Es wird lediglich eine zusätzliche Vertretung installiert.
Handelt die betroffene Person gegen die Handlungen der*des Beiständ*in und schädigt sich mangels Selbstbestimmung selbst, so kann zudem punktuell ihre Handlungsfähigkeit beschränkt werden (vgl. Art. 394 Abs. 2 ZGB). Dies kann etwa bei einer Person mit bipolarer Erkrankung notwendig werden, die sich selbst infolge mangelnder Selbstbestimmung im Rahmen von Internetgeschäften finanziell massiv schädigt, und gleichzeitig kein Nachweis erbracht werden kann, dass sie im besagten Moment urteilsunfähig war. Um die betroffene Person zu schützen, kann ihr hier unter Umständen punktuell die Handlungsfähigkeit entzogen werden.

Damit hingegen eine umfassende Beistandschaft verhältnismässig wäre, müsste sich die verbeiständete Person in allen Lebensbereichen gleichzeitig massiv selbstschädigend und aktiv verhalten. Das kommt in der Regel nicht vor. Sollte dies dennoch wider Erwarten der Fall sein, könnte solchen Situationen mit anderen Beistandschaften begegnet werden, etwa einer Vertretungsbeistandschaft mit weit gefasster Beschränkung der Handlungsfähigkeit (Art. 394 Abs. 2 ZGB) oder einer Kombination einer Vertretungs- mit einer Mitwirkungsbeistandschaft. Während bei diesen Massnahmen im Einzelfall zudem ausreichend nachgewiesen werden muss, dass die verbeiständete Person die Handlungen der mit der Beistandschaft betrauten Person im entsprechenden Lebensbereich durchkreuzt oder torpediert bzw. sich derart selbstschädigend verhält, geschieht dies bei einer umfassenden Beistandschaft in der Praxis im Regelfall eher summarisch oder gar nicht.

Betrachtet man die Statistik zur umfassenden Beistandschaft, so fällt auf, dass diese nach wie vor sehr häufig vorkommt. Teil dieser hohen Anzahl ist wohl dem Umstand geschuldet, dass bei der Revision des Erwachsenenschutzrechts im Jahr 2013 alle alten Vormundschaften automatisch in umfassende Beistandschaften überführt worden sind. Der Auflage, diese umfassenden Beistandschaften so rasch als möglich entsprechend dem neuen Recht anzupassen, sind die kantonalen Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (KESB) wohl aber nicht überall nachgekommen. Zudem findet sich in der Praxis teilweise ein eher sorgloser Umgang mit der Anordnung dieser schwersten Beistandschaft des Erwachsenenschutzes. So fällt auf, dass vor allem die lateinische Schweiz sehr hohe Zahlen ausweist, insbesondere im Kanton Waadt, jedoch auch in den Kantonen Bern und St. Gallen.

Im Übrigen sei darauf hingewiesen, dass die berechtigte und in der jüngsten Vergangenheit geführte Diskussion über die politische Rechte von umfassend verbeiständeten Menschen auch so gelesen werden kann, dass nicht ausschliesslich der fehlende Zugang zu Wahlen und Abstimmungen ein Problem darstellt(e). Vielmehr geht es dabei um die umfassende Beistandschaft als Massnahme, mit welcher auf Bundesebene automatisch die politische Rechte der Betroffenen eingeschränkt sind (vgl. Art. 136 Abs. 1 BV i.V.m. Art. 2/4 BPR); und dies unabhängig der Frage, ob die unter umfassender Beistandschaft stehende Person urteilsfähig oder urteilsunfähig ist (so laufen besonders Menschen, die urteilsfähig sind oder sich an der Grenze zur Urteilsunfähigkeit befinden Gefahr, unter umfassende Beistandschaft gestellt zu werden).

Neben dem Ausschluss von den politischen Rechten zeigen sich für umfassend Verbeiständete auch in anderen Rechtsbereichen spezifische Einschränkungen, wie z.B. das umfassende Entfallen der Prozess-, Betreibungs- und Geschäftsfähigkeit, das automatische Entfallen der elterlichen Sorge (Art. 296 Abs. 3 ZGB), die ungleiche Behandlung im Ausweisgesetz (Art. 5, Art. 11 Abs. 1, Art. 13 Abs. 1 AwG), bei spezifischen Regeln zur Sterilisation (Art. 6 SterG), bezüglich des Betreibungsorts und des zivilrechtlichen Wohnsitzes am Sitz der KESB (Art. 26 ZGB) oder die Unmöglichkeit einen Waffenerwerbsschein zu erhalten (Art. 8 WG). Damit stellt sich bereits formal die Frage, ob diese Ungleichbehandlung im Vergleich zu den anderen Beistandschaftsarten gerechtfertigt ist. Nach hier vertretener Auffassung ist das klar zu verneinen.

Nach dieser kurzen Tour d’Horizon fällt es leicht, der Auffassung des Ausschusses beizupflichten. Es ist festzuhalten, dass keine Lücke entsteht, wenn die umfassende Beistandschaft abgeschafft wird. Diese ist schlichtweg überholt, unnötig und stigmatisierend. Sie steht im Widerspruch zu einem qualitativ hochwertigen und menschenwürdigen Erwachsenenschutz. Daher ist zu hoffen, dass auch die Verantwortlichen in der Politik, sich (unter anderem) dieser Frage annehmen.


*Daniel Rosch, Prof. (FH) Dr. iur., dipl. Sozialarbeiter, MAS Nonprofit-Management, systemischer Berater und Familientherapeut (DGSF) ist Dozent an der Hochschule Luzern und Autor diverser Kommentare und Bücher im Kindes- und Erwachsenenschutz (u.a. kommentiert er die einschlägigen Artikel der BRK im Kommentar zur BRK). Er äussert hier seine persönliche Meinung.