14.01.2025
Bernard Rambert, der «Rote Beni», ist einer der bekanntesten und umstrittensten Strafverteidiger der Schweiz. Der von der Presse als «Terroristenanwalt» verunglimpfte Protagonist erzählt im Dokumentarfilm SUSPEKT von Christian Labhart ausführlich von seiner Tätigkeit und seinen Fällen der letzten 50 Jahre. Hat nicht jeder Mensch das Recht auf eine Verteidigung? Und: welche Bilanz zieht ein Mensch, der sein ganzes Leben mit juristischen Mitteln widerständige Menschen verteidigt hat? humanrights.ch hat mit Rambert anlässlich der Filmpremiere ein Interview geführt.
humanrights.ch: Gibt es das aus Ihrer Sicht, Menschenrechtsanwält*innen? Wenn ja, würden Sie sich selber als Menschenrechtsanwalt bezeichnen?
Rambert: Ich habe ein wenig Mühe mit dem Begriff Menschenrechtsanwält*innen. Bin ich ein Menschenrechtsanwalt, weil ich rechtlich verbindliche und einklagbare Menschenrechte durchzusetzen versuche, beispielsweise weil ich seit über 40 Jahre die Isolationsfolter denunziere? Oder ist die Kollegin X eine Menschenrechtsanwältin, weil sie die Europäische Menschenrechtskonvention und die verschiedenen Menschenrechtsverträge im Rahmen der UN bestens kennt und sich für die Rechte von Menschen mit Behinderungen oder für nicht-schweizerische Ausländer*innen beispielsweise im Asylrecht einsetzt? Aber, was ist denn der Kollege Z, der sich «nur» auf die Grundrechte beruft? Ein Grundrechtsanwalt? Die Menschenrechte sind Bestandteil von fast allen Rechtsgebieten, also für alle Anwält*innen von Relevanz. Es ist demnach eine Selbstverständlichkeit, wenn sich Anwält*innen u.a. auf die Menschenrechte berufen. Natürlich kann man diese Arbeit als Menschenrechtsarbeit und diejenigen, die sie machen als Menschenrechtsanwält*innen bezeichnen, aber aussagekräftig ist dies meiner Meinung nach nicht, und ich würde mich daher auch nicht als Menschenrechtsanwalt bezeichnen.
Unter dem Begriff orte ich, wenn schon, andere anwaltliche Aktivitäten.
humanrights.ch: Nämlich?
Rambert: Darf ich ein wenig ausholen? Nach dem 2. Weltkrieg und der Gründung der UNO (1946) war das erklärte Ziel der Staatengemeinschaft, Bedingungen zu schaffen, um eine Wiederholung des Horrors des zweiten Weltkrieges zu verhindern. Die UNO-Charta formuliert den Auftrag an die Staatengemeinschaft, die Achtung und Verwirklichung der Menschenrechte für alle zu fördern. Der Schutz der Menschenrechte sollte nicht mehr eine ausschliessliche Angelegenheit der nationalen Verfassungen seinja So wurde der Schutz der Menschenrechte von der nationalstaatlichen auf eine höherstehende Ebene, eine überstaatliche Organisation verlagert (wobei bekanntlich nicht alle Staaten da mitmachten und mitmachen). Das war die Geburtsstunde des humanitären Völkerrechts. Zwei Jahre später verabschiedete die UNO die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und es folgten weitere völkerrechtlichen Verträge. So wurde 1998 u.a. das römische Statut für den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) verabschiedet und seit 2002 tagt der IStGH in Den Haag. Daneben gibt es verschiedene Sondertribunale. Nur werden diese hehren Ziele kaum eingehalten. Ein Völkerrechtsverstoss jagt den anderen und verfolgt werden sie, wenn überhaupt, nur selektiv. Die politischen Machtverhältnisse bestimmen, welche Verstösse von welchen Staaten verfolgt werden. Die Unabhängigkeit der internationalen Gremien wie den IStGH werden massiv unter Druck gesetzt, wobei es wohl auch naiv wäre zu glauben, dass Instanzen wie der IStGH wirklich unabhängig sind.
Das alles ist nicht neu. In den Nürnberger Prozessen (20. November 1945 bis 14. April 1949) definierte der französische Chefankläger François de Menthon «crime de la guerre» als «ein schweres Verbrechen gegen das Bewusstsein, das die Menschheit heute von dem hat, was sie als Menschheit auszeichnet» (Zitiert nach «Den Schmerz der anderen begreifen» von Charlotte Wiedemann, S.48). Eine schöne Definition! Freilich: Ausgerechnet seine Regierung hatte wenige Monate zuvor, am 8. Mai 1945, dem Tag der Kapitulation der Nazis im algerischen Sétif und in anderen algerischen Städten ein Massaker an fünfundvierzigtausend Menschen mitzuverantworten. Diese feierten das Ende des Krieges und trugen die verbotene algerische Fahne mit sich. Dieses Verbrechen gegen die Menschlichkeit wurde bis heute nicht geahndet. Und so ergeht es bis heute den allermeisten Verbrechen gegen die Menschlichkeit, begangen durch die Kolonialherren in den antikolonialen Befreiungskämpfen gegen Ausbeutung und Unterdrückung, sei es in Malaya (britisch), Indonesien, Vietnam und ich weiss nicht wo überall auf dieser Welt. Das heisst, sie wurden nie verfolgt.
Und die Gegenwart sieht wie gesagt nicht besser aus. Offen wird der IStGH ins Visier der Politik genommen, wenn dieser im derzeit tobenden Machtkampf im geopolitischen Kontext Massnahmen gegen die Mächtigen dieser Welt ergreift. Das sind die Grenzen der im Anblick der nationalsozialistischen Vernichtungsstätten entstandenen neuen «universellen» Ethik, des neuen Universalismus in Sachen Menschenrechte. Wir sollten uns da keinen grossen Illusionen hingeben. Wolfgang Kaleck hat im Übrigen dazu ein interessantes Buch geschrieben (Wolfgang Kaleck «Mit zweierlei Mass, der Westen und das Völkerrecht, 2012, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin).
Aber nichtsdestotrotz sehe ich ein extrem wichtiges Arbeitsfeld für Anwält*innen auf diesem Gebiet und den Begriff Menschenrechtsanwält*innen assoziiere ich mit dem anwaltlichen Engagement im Bereich dieser Verfahren. Man könnte auch von Völkerrechtsanwält*innen sprechen.
humanrights.ch: Wie kommt es dazu, dass ein Anwalt oder eine Anwältin sich des Instrumentariums der Menschenrechte bedient? Was hat Sie über all die Jahre angetrieben, sich unermüdlich für die Menschenrechte einzusetzen?
Rambert: Ich kann die Frage nicht allgemein beantworten. Ich kann nur für mich sprechen. Ich sehe nicht ein, warum sich Menschen das Recht herausnehmen, andere Menschen auszubeuten und zu unterdrücken. Ich sehe nicht ein, warum hierzulande das reichste Prozent in der Schweiz annähernd die Hälfte aller Vermögen besitzt, wenn man den Statistiken Glauben schenken will. Und ich sehe nicht ein, warum zwischen 1980 und 2016 global gesehen die Steuern der Superreichen (inkl. Erbschaftssteuern) und Unternehmen um die Hälfte reduziert wurden, naturgemäss auf Kosten der Armen. Armut und Ungleichheit tangiert das Leben und die Würde der Menschen. Schauen Sie sich beispielsweise die Gefängnisse von innen an, reden Sie mit den eingesperrten Menschen, erkunden Sie deren Lebensgeschichte, die von Ungleichheit und sozialer Isolation geprägt sind. Wenn Sie mich fragen, warum ich mich für die Rechte dieser Menschen eingesetzt habe, kann ich nur antworten: Weil ich all das nicht akzeptieren kann und will.
humanrights.ch: Welcher Einfluss hat es auf ein Verfahren, ob ein Anwalt oder eine Anwältin den Referenzrahmen der Menschenrechte einbezieht oder nicht?
Rambert: Das müssen Sie die Staatsanwält*innen und Richter*innen fragen. Ich fürchte, dass viele das vor allem als lästig empfinden. Das soll uns freilich nicht daran hindern, alles was uns zur Verfügung steht, einzusetzen, um für die Rechte unser Klient*innen zu kämpfen. Es wurden ja in den letzten Jahrzehnten auch gewisse, wenn auch kleine Fortschritte erwirkt.
humanrights.ch: Welche Menschenrechte Ihrer Klient*innen wurden am häufigsten verletzt? Hat sich das im Laufe der Jahre verändert?
Rambert: Das Recht auf Würde eines jeden Menschen, und da hat sich wenig verändert.
humanrights.ch: Wie hat sich Ihr Blick auf die Menschenrechte im Laufe Ihrer Karriere verändert?
Rambert: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat im Laufe der letzten Jahrzehnte zur Entwicklung der Menschenrechte einiges beigetragen und das Studium der Entscheide und Kommentare hat meinen Horizont naturgemäss erweitert. Natürlich haben auch politische Bewegungen und Initiativen dazu geführt. Ich glaube, dass das Bewusstsein über die Frage, was eigentlich Menschenrechte sind, heute um einiges ausgeprägter ist als im Jahre 1974, dem Jahr, in welchem ich als Anwalt ins Berufsleben einstieg. Damals war die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) von der Schweiz erst gerade ratifizierte worden, und im Studium hatten wir nichts darüber erfahren. Aber auch wenn heute das Bewusstsein darüber was Menschenrechte sind, um einiges ausgeprägter ist als vor 60 Jahren oder mehr, steckt deren Verwirklichung noch in den Kinderschuhen.
humanrights.ch: Gibt es eine Menschenrechtsfrage, die Ihrer Meinung nach zu wenig Aufmerksamkeit erhält?
Rambert: Ich möchte nur zwei hervorheben.
Erstens die soziale Frage, also Ausbeutung, miserable Arbeitsbedingungen, Arbeitslosigkeit Armut, um nur ein par Stichworte zu nennen. Der 1966 verabschiedete UNO-Pakt I umfasst diesbezüglich stolze Ziele, die weltweit grösstenteils Makulatur geblieben ist. Dabei sind diese Rechte von existentieller Bedeutung für alle Menschen, was ich ja kaum weiter ausführen muss!
Und zweitens: Die Verfolgung von Kriegsverbrechen, von Verbrechen gegen die Menschlichkeit und der Verantwortlichen für Genozide. Eine Frage ist, die Verantwortlichen in die Pflicht zu nehmen. Eine andere, die mir mindestens so wichtig erscheint, ist diejenige der Wiedergutmachung. Damit meine ich jetzt nicht primär einen finanziellen Ausgleich. Es geht um Erinnerungskultur. Daran erinnern, welch ungeheuerliches Unrecht Millionen von Menschen angetan wurde und wird und aus welchen Motiven. Es geht aber auch um Respekt gegenüber den Opfern und deren Nachfahren, um Empathie und den Versuch, der Verweigerung der Empathie etwas entgegen zu setzen. Bei allem Respekt vor den Bemühungen der Siegermächte, Nazigrössen in den Nürnberger Prozessen zur Verantwortung zu ziehen: Die Bemühungen waren im Grund genommen jämmerlich, wenn man bedenkt, wie wenige zur Verantwortung gezogen wurden und wie viele Nazis bis in die 80er, 90er Jahre des letzten Jahrhunderts im Militär, in den Geheimdiensten und in der Wirtschaft in Schlüsselpositionen verblieben und wieviele Verbrechen nie aufgedeckt wurden. Es ist kein Zufall, dass damals der Tatbestand Genozid keinen Eingang in die Prozesse fand. Der polnische Jude Davon Raphael Lemkin hatte den Begriff im Kontext des Holocaust erfunden, aber die Alliierten und die Sowjetunionen wollten nichts davon wissen, weil sie befürchteten, dass sie sonst bei nächster Gelegenheit für ihr eigenes Verhalten vor Gericht gezerrt würden, für den Umgang mit den Kolonien, mit den ethnischen Minderheiten usw., wie der kanadische Völkerrechtler William Schabas kürzlich in einem lesenswerten Interview im SPIEGEL (Spiegel Nr. 47 vom 16.11.2024) darlegte. Der Tatbestand Genozid ist zwar heute eingeführt, aber die allermeisten Verbrechen in den Kolonien und anderswo sind nach wie vor kein Thema, ausser sie passen im Propagandainstrument «westliche Werte», die ich als westliche Unwerte wahrnehme.
humanrights.ch: Wann können Ihrer Meinung nach Gerichtsprozesse zu politischen und gesellschaftlichen Veränderungen beitragen?
Rambert: Die Macht der Justiz sollte nicht überschätzt werden. Ich glaube nicht an die Unabhängigkeit der Justiz, was nicht heisst, dass die Gerichte, insbesondere der EGMR auch mal mutige Urteil erlassen. Gesellschaftlichen Veränderungen, positive wie auch negative, sind das Resultat von politischen Auseinandersetzungen, welche naturgemäss auch die Justiz beeinflussen.
SUSPEKT feiert seine Weltpremiere an den Solothurner Filmtagen am 24. Januar 17.45 in der Reithalle – in Anwesenheit von Cast und Crew. Mit dabei Brian Keller. Nach dem Film gibt es ein Gespräch mit Bernard Rambert.
Am 20. Februar startet SUSPEKT in den Kinos, in den grösseren Städten finden Podien nach dem Film statt – in Anwesenheit von Bernard Rambert und weiteren Teilnehmer*innen.
Der Film ist eine aktivistische Intervention. Eine einseitige Erzählperspektive durchzuziehen, ist insofern ein legitimer Entscheid, als er die ungleichen Machtverhältnisse widerspiegelt, denen Bernard Rambert Zeit seines Lebens Widerstand entgegensetzte.