12.01.2023
Offenkundig unbegründete oder missbräuchliche Klagen (SLAPPs) nehmen weltweit zu. Sie setzen die freie Meinungsäusserung und Medienfreiheit unter Druck und greifen die Eckpfeiler der Demokratie an. SLAPPs bedrohen die öffentliche Debatte und bringen diejenigen zum Schweigen, die sich zu Angelegenheiten von öffentlichem Interesse äussern. SLAPPs hindern NGOs und Medien in der Ausübung ihres Informationsauftrages und binden unnötig Ressourcen. Für Betroffene können sie den finanziellen Ruin bedeuten. Die EU-Kommission hat im April 2022 einen Richtlinienvorschlag gegen SLAPPs veröffentlicht. In der Schweiz fehlt ein entsprechender Schutz von kritischen medialen und zivilgesellschaftlichen Stimmen.
Strategische Klagen gegen öffentliche Teilnahme (Strategic Lawsuit against Public Participation oder kurz SLAPP) sind ein weltweit zunehmender Trend. Sie sind nach physischer und psychischer Gewalt nach Angaben der Europäischen Kommission mittlerweile die grösste Bedrohung für Medienschaffende und Nichtregierungsorganisationen (NGOs). Den Betroffenen wird durch die Klage ein Maulkorb verpasst. Sei es direkt durch (superprovisorische) vorsorgliche Massnahmen oder indirekt durch die abschreckende Wirkung der Klage. NGOs sehen sich oft zeitgleich mit mehreren Klagen des gleichen Absenders konfrontiert und werden durch teilweise jahrelange Verfahren in ihrer Arbeit behindert. SLAPPs können für Betroffene den finanziellen und existenziellen Ruin bedeuten wie der (nachfolgend beschriebene) Fall der Journalistin Daphne Caruana Galizia eindrücklich zeigt.
Was zeichnet SLAPPs aus?
Im Gegensatz zu herkömmlichen Klagen gegen Persönlichkeitsverletzungen zeichnen sich SLAPPs insbesondere durch folgende Indikatoren aus: SLAPP-Kläger*innen geht es um die Einschüchterung der Betroffenen und nicht um das eigentliche Obsiegen im angestrebten juristischen Prozess. SLAPPs sind meist unüblich aggressiv, unverhältnismässig und substanzarm. Typischerweise nutzen die Kläger*innen ein bestehendes ökonomisches Machtgefälle aus, indem finanzstarke Unternehmen, Oligarch*innen und Politiker*innen gegen Medien und Mitglieder der Zivilgesellschaft klagen. Kritische Stimmen sollen mit einer SLAPP mundtot gemacht und finanziell unter Druck gesetzt werden.
Das «Daphne»-Gesetz
Der Begriff SLAPP kam erstmals in den 1980er Jahren in USA auf. Mittlerweile kennen 31 US-Bundesstaaten Anti-SLAPP-Gesetzgebungen; eine nationale Gesetzgebung ist in Planung. Als die Journalistin Daphne Caruana Galizia im Oktober 2017 ermordet wurde, entfachte sich auch in Europa eine ernsthafte Debatte um die Problematik von SLAPPs. Die maltesische Journalistin wurde aufgrund ihrer Berichterstattung über Korruption und Geldwäscherei mit insgesamt 47 Klagen eingedeckt. Der Fall war ausschlaggebend für die im April 2022 von der Europäische Kommission lancierte Anti-SLAPP-Richtlinie (auch Daphne-Gesetz genannt). Darin hält die Europäische Kommission fest, dass Journalist*innen und Menschenrechtsverteidiger*innen (wie NGOs) einen unerlässlichen Beitrag zur öffentlichen Debatte und zur Vermittlung von Meinungen und Informationen leisten. Ihnen kommt unter anderem eine zentrale Rolle bei der Bekämpfung von organisierter Kriminalität und Korruption zu. Deshalb ist es wichtig, dass sich Menschenrechtsverteidiger*innen zu Themen von öffentlichem Interesse äussern, ohne Angst vor Einschüchterung zu haben. Die vorgeschlagene EU-Richtlinie verlangt, dass Beklagte bei offenkundig missbräuchliche Klagen einen Antrag auf vorzeitige Einstellung des Verfahrens stellen können. Dieser Antrag soll in einem beschleunigten Verfahren behandelt werden, während das Hauptverfahren in der Zwischenzeit ausgesetzt wird. Wichtige weitere Bestandteile sind eine Beweislastumkehr, die Parteientschädigung für SLAPP-Beklagte sowie eine Sanktionierung von SLAPP-Kläger*innen.
SLAPPs betreffen elementare Menschenrechte
SLAPPs betreffen mit der Einschränkung der freien Meinungsäusserung und Pressefreiheit (vgl. u.a. Art. 16 und 17 BV, Art. 10 EMRK, Art. 19 AEMR) Grund- und Menschenrechte und setzen zentrale Eckpfeiler einer Demokratie unter Druck. Die Schweizer Bundesverfassung spricht jedem Menschen das Recht auf freie Meinungsäusserung zu und erlaubt die Verbreitung von Informationen (Art. 16 BV). SLAPPs unterdrücken die freie Meinungsäusserung und versuchen die Verbreitung von Informationen mit Einschüchterungsklagen zu verhindern. Sie schränken damit diejenigen ein, die sich kritisch zu Themen von öffentlichem Interesse äussern und denen eine wichtige Rolle als Public Watchdog zukommt.
Wie steht es um das Recht auf Medien- und Meinungsäusserungsfreiheit in der Schweiz?
Im 2022 gab die eingeschränkte Medien- und Meinungsäusserungsfreiheit von Schweizer Medien verschiedentlich Anlass zur Sorge. Im Februar 2022 entschied sich Tamedia aufgrund des seit 2015 geltenden Art. 47 des Bankengesetzes auf eine Berichterstattung zu den Suisse Secrets zu verzichten. Bei der Verwendung der geleakten Bankdaten für Medienberichte hätte ihnen potentiell ein Strafverfahren gedroht. Im Mai 2022 stimmte nach dem Ständerat auch der Nationalrat dafür, die Latte für vorsorgliche Massnahmen gegen Medien (Art. 266 ZPO) zu senken. Neu soll für eine Zensur-Massnahme nicht mehr ein „besonders schwerer Nachteil“, sondern nur noch ein „schwerer Nachteil“ erforderlich sein (Änderung von Art. 266 lit. a ZPO).
Der im März 2022 erschienene MediaLex-Artikel der Juristin Regula Bähler zeigt auf, dass SLAPPs die Meinungsäusserungs- und Medienfreiheit von NGOs in der Schweiz einschränken. Eine Befragung des Hilfswerks HEKS bei 11 Schweizer NGOs hielt im April 2022 fest, dass SLAPPs gegen Schweizer NGOs im Aufwind sind: während vor 2018 nur eine Schweizer NGO von einer SLAPP-Klage betroffen war, wurden seit 2018 sechs NGOs mit zwölf Klagen eingedeckt. Mehrere NGOs sehen sich zudem mit Klagedrohungen konfrontiert. Auch Medien sind von SLAPPs betroffen, wie jüngst der Verband Schweizer Medien (VSM) in seinem Newsletter im Oktober 2022 bekannt gab. Nach Angaben des VSM sind insbesondere kleinere Schweizer Medien durch SLAPPs gefährdet und werden aufgrund drohender Rechtsverfahren potentiell zu einem Rückzug ihrer Beiträge gezwungen. Der VSM setzt sich deshalb gemeinsam mit einer Allianz aus der Medienbrache für einen besseren Schutz vor SLAPPs ein und unterstützt politische Initiativen (wie die weiter unten erwähnte).
Anti-SLAPP Gesetzgebung in der Schweiz?
Die Schweizer Gesetzgebung findet bei SLAPPs bis anhin keine oder nur unzureichend Anwendung. Art. 2 Abs. 2 ZGB hält zwar fest, dass ein offenbarer Missbrauch eines Rechts keinen Rechtsschutz findet. Bis anhin wurde jedoch keine SLAPP-Klage auf dieser Rechtsgrundlage abgewiesen. Eine bös- oder mutwillige Prozessführung könnte nach Art. 128 der Zivilprozessordnung (ZPO) mit einer Busse sanktioniert werden. Auch hat das Gericht einen gewissen Ermessenspielraum bei der Kostenverteilung (Art. 107 Abs. 1 ZPO) oder könnte unnötige Prozesskosten dem/der Verursacher*in auferlegen (Art. 108 ZPO). Trotzdem, die aktuelle Gesetzgebung greift bei SLAPP-Klagen (noch) nicht und regelt auch den Umgang damit nicht. Deshalb fordert der Nationalrat und Jurist Raphaël Mahaim mit einer im Mai 2022 eingereichten parlamentarischen Initiative nun eine Anti-SLAPP-Gesetzgebung für einen besseren Schutz der Medien- und Meinungsäusserungsfreiheit in der Schweiz – nach dem Vorbild der Europäischen Union. Ein entsprechender Schutz vor SLAPPs wäre eine enorme Entlastung für (Investigativ)Journalist*innen und NGO-Mitarbeitende, würde sie in der Ausübung ihrer für eine Demokratie wichtigen Rolle als Public Watchdog unterstützen sowie ihre Ressourcen und die Ressourcen der Gerichte schonen.
Dieser Artikel wurde verfasst von Johanna Michel, MA in Social Anthropology, MLaw, Stv. Geschäftsleiterin des bruno manser fonds