24.05.2022
Der UNO-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (CESCR) kritisiert die Schweiz: Seine Empfehlungen zur Nationalen Menschenrechtsinstitution, Wirtschaft und Menschenrechten sowie Kinderbetreuung wurden mangelhaft umgesetzt. Die Einschätzung der UNO-Expert*innen deckt sich weitgehend mit der Kritik der Zivilgesellschaft.
Kommentar von Léa Winter, Co-Präsidentin von FIAN Schweiz und Koordinatorin der Arbeitsgruppe UNO-Pakt I der NGO-Plattform Menschenrechte Schweiz
Nach der letzten Überprüfung der Schweiz vor dem UNO-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte im Oktober 2019 wurde die Schweiz aufgefordert, zur Umsetzung dreier Empfehlungen einen Zwischenbericht einzureichen. Im August 2021 übermittelte die Schweiz einen äusserst knappen und ausschliesslich faktenorientierten Follow-Up-Bericht, welcher die Bedenken der Zivilgesellschaft nicht berücksichtige. Im Folgenden verfasste die Arbeitsgruppe UNO-Pakt I der NGO-Plattform Menschenrechte Schweiz ihrerseits einen Parallelbericht, welcher von 13 Organisationen unterzeichnet und dem UNO-Sozialausschuss im Dezember 2021 vorgelegt wurde.
In einem Brief an die Schweizer Behörden vom 14. April 2022 stellt das UNO-Gremium fest, dass bei der Umsetzung seiner Empfehlungen zur Nationalen Menschenrechtsinstitution (NMRI) und zur Kinderbetreuung nur teilweise Fortschritte erzielt wurden und seine Empfehlung zu Wirtschaft und Menschenrechten nicht umgesetzt worden sind.
Zu geringer Ausbau von Budget und Mandat der NMRI
Der UNO-Ausschuss wie auch die engagierten NGOs begrüssen die Entscheidung des Schweizer Parlaments über die Einrichtung und Finanzierung einer Nationalen Menschenrechtsinstitution. Die NMRI stellt seit mehr als 20 Jahren eine zentrale Forderung der Zivilgesellschaft dar. Die Institution soll auf nationaler Ebene die einheitliche Umsetzung der Menschenrechte – einschliesslich der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte von UNO-Pakt I – überwachen. Das CESCR betonte bereits in seinen abschliessenden Bemerkungen und Empfehlungen vom Oktober 2019, dass die Menschenrechtsinstitution zur Gewährleistung ihrer Funktionsfähigkeit und Unabhängigkeit mit ausreichenden Ressourcen ausgestattet werden muss. In seinem «Follow-up letter» anerkennt er die Besorgnis der Zivilgesellschaft, dass mit dem vorgesehenen Budget von einer Million Schweizer Franken – insbesondere mit Blick auf die nationalen Menschenrechtsinstitutionen in anderen Staaten – die NMRI ihre Aufgabe nicht erfüllen kann. Darüber hinaus bedauert das UNO-Gremium, dass das Mandat der NMRI keine unabhängigen Untersuchungen von individuellen Menschenrechtsverletzungen in allen Kantonen erlaubt – so wie er es der Schweiz in seinen Empfehlungen bereits nahegelegt hatte.
Keine Fortschritte bei Unternehmen und Menschenrechten
Gemäss UNO-Pakt I sind die Vertragsstaaten verpflichtet, einen Rechtsrahmen für die Einhaltung menschenrechtlicher Sorgfaltspflichten von Unternehmen zu schaffen und Beschwerdemechanismen zur Verfügung zu stellen (Allgemeine Bemerkung Nr. 24, Ziff. 16 und 44). Nach einer beispiellosen Mobilisierung der Zivilgesellschaft stimmte im Jahr 2020 auch die Mehrheit der Schweizer Stimmbevölkerung der Konzernverantwortungsinitiative zu. Das Anliegen scheiterte jedoch am Ständemehr. Der vom Bundesrat als Ausgleich vorgesehene Gegenvorschlag sowie der Aktionsplan für Wirtschaft und Menschenrechte werden von den engagierten NGOs und dem CESCR kritisiert – keine dieser Bestrebungen erlauben es der Schweiz, ihre menschenrechtlichen Verpflichtungen zu erfüllen.
Das UNO-Gremium bedauert in seinem Zwischenbericht, dass keine rechtsverbindlichen Verpflichtungen für Schweizer Unternehmen bestehen, welche in Menschenrechtsverletzungen im Ausland verwickelt sind. Zudem fehle es den Opfern an einem effektiven Zugang zur Justiz. Wie die Zivilgesellschaft weist auch der UNO-Sozialausschuss auf den extrem eingeschränkten Geltungsbereich der im Gegenentwurf vorgesehenen Sorgfalts- und Berichtspflicht hin. Diese beschränkt sich auf die Bereiche Konfliktmineralien und Kinderarbeit.
Grosser Aufholbedarf bei der Kinderbetreuung
Der Familie ist gemäss UNO-Pakt I ein möglichst umfassender Schutz und Beistand zu gewährleisten (Art. 10) und die Gleichstellung von Frau und Mann sicherzustellen (Art. 3). Die von den Kantonen und Gemeinden betriebene Familienpolitik ist jedoch nur rudimentär ausgestaltet. Die öffentlichen Investitionen in diesem Bereich liegen weit unter dem europäischen Durchschnitt, wofür Eltern und insbesondere Mütter einen hohen Preis bezahlen.
Das CESCR ist der Ansicht, dass die im Januar 2021 verabschiedete Budgeterhöhung zur Schaffung neuer Kinderbetreuungsplätze einen Fortschritt darstellt. Er fordert die Schweiz aber dazu auf, die Anzahl der Betreuungsplätze zu erhöhen und diese staatlich zu subventionieren. Seit vielen Jahren fordert die Zivilgesellschaft vom Bund eine den aktuellen Bedürfnissen entsprechende nationale Familienpolitik, welche die unterschiedlichen kantonalen Praktiken – hinsichtlich der bereitgestellten Mittel und den Arbeitsbedingungen des Personals in der Kleinkinderbetreuung – harmonisiert. Vorschulische Kinderbetreuung muss als grund- und menschenrechtlicher Anspruch verstanden werden. Kinder sollen zudem eine Betreuung erhalten, die ihren Bedürfnissen entspricht.
Das UNO-Gremium kritisiert schliesslich, dass der eingeführte zweiwöchige Vaterschaftsurlaub zu kurz angelegt ist. In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass auch der «Mutterschaftsurlaubs» in der Schweiz mit 14 Wochen einer der kürzesten in Europa darstellt. Der Ausschuss stellt schliesslich fest, dass die Schweiz keine nennenswerten Schritte für die Einführung eines Kinderbetreuungsgeldes oder einer Elternzeit zur gerechteren Aufteilung der familiären und gesellschaftlichen Verantwortung unternommen hat.
Die Schlussfolgerungen des UNO-Ausschusses für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte sind eindeutig: In der Schweiz bestehen gravierende Lücken bei der Überwachung der Einhaltung von Menschenrechten, dem Menschenrechtsschutz in der Wirtschaft sowie in der Familienpolitik. Der vom Bund vorgelegte Zwischenbericht zeigt, dass die Schweiz ihren menschenrechtlichen Verpflichtungen im Bereich der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte wenig Beachtung schenkt. Die Zivilgesellschaft wird die Umsetzung von UNO-Pakt I in der Schweiz weiterhin wachsam verfolgen.