15.12.2022
Am 15. November 2022 wurde der erste Bericht über die Umsetzung der Istanbul-Konvention in der Schweiz veröffentlicht. Die Expert*innen des Europarats kommen darin zum Schluss, dass die Schweiz viele Anforderungen der 2018 in Kraft getretenen Europaratskonvention zur Verhütung von Geschlechtsbezogener, Sexualisierten und Häuslicher Gewalt nicht erfüllt.
Kommentar von Brava (ehemals TERRE DES FEMMES Schweiz)
Nach einem fast zweijährigen Untersuchungszyklus hat die unabhängige Expert*innengruppe des Europarates GREVIO ihren ersten Bericht über die Umsetzung von Massnahmen gegen Geschlechtsbezogene, Sexualisierte und Häusliche Gewalt in der Schweiz veröffentlicht. 2017 hatte sich die Schweiz mit der Ratifikation der Istanbul-Konvention zur Ergreifung dieser Massnahmen verpflichtet.
Die Schlussfolgerungen des GREVIO-Berichtes decken sich mit einem im Juni 2022 von der Schweizer Zivilgesellschaft veröffentlichten Alternativbericht. Beide stellen fest, dass im Zusammenhang mit Geschlechtsbezogener, Sexualisierter und Häuslicher Gewalt nach wie vor rechtliche Bestimmungen und praktische Massnahmen für einen echten Schutz aller Betroffenen, eine nachhaltige Prävention sowie faire Strafverfolgungsmechanismen fehlen.
Definitionen und Datensammlungen zu Gewalt sind unzulänglich
Die Expert*innen des Europarats kritisieren, dass sowohl bei politischen Debatten und Vorgaben in der Schweizer Politik als auch bei praktischen Massnahmen zur Bekämpfung von Gewalt die Geschlechterperspektive häufig vernachlässigt wird. Geschlechtsbezogene Gewalt müsse aber dringend anerkannt und als solche benannt werden. Daher hält es GREVIO für dringend erforderlich, die systematische Sammlung von Daten zu allen Formen von Gewalt gemäss der Istanbul-Konvention in Bezug auf Inhalt, Relevanz und Genauigkeit substanziell zu verbessern. Zudem sollen in der Straf- und Rechtspraxis Evaluationen eingeführt sowie gegebenenfalls Gesetze und die Praxis der Strafverfolgungsbehörden entsprechend angepasst werden.
Zu wenig Ressourcen für den Kampf gegen Gewalt
Laut den Expert*innen des Europarates stehen für die Bekämpfung von Gewalt auf allen Ebenen zu wenig finanzielle und personelle Ressourcen zur Verfügung. Sie fordern die Behörden auf, die Finanzierung von Massnahmen zur Prävention und Bekämpfung von Gewalt – sowie von auf die Bekämpfung von Gewalt spezialisierten Organisationen und Angeboten – dauerhaft sicherzustellen. Um allen Betroffenen von Gewalt und ihren Kindern Schutz zu garantieren, müsse dringend auch eine angemessene und stabile Finanzierung von spezialisierten Unterkünften mit genügend Plätzen gewährleistet werden.
GREVIO fordert zudem die Einführung eines schweizweit standardisierten und gendersensiblen Verfahrens zur Risikobewertung und zum Sicherheitsmanagement e. Dieses solle systematisch in allen Fällen von Gewalt – einschliesslich Zwangsheirat, FGM/C und Sexualisierter Gewalt – angewendet werden, um die Hindernisse für die kantonsübergreifende Zusammenarbeit zu beseitigen.
Lückenhafter Schutz für intersektional diskriminierte Personen
Die Schweiz bietet insbesondere intersektional diskriminierten und von Gewalt betroffenen Personen keinen ausreichenden Schutz. Dazu gehören Menschen mit Behinderungen, LGBTQIA+-Personen , Menschen auf der Flucht sowie alte Menschen. Die Expert*innen des Europarates fordern die Behörden deshalb auf, das Opferhilfegesetz zu überarbeiten. Insbesondere müssten Migrant*innen und Menschen auf der Flucht rechtlich besser vor Gewalt geschützt werden. Auch Brava fordert eine Verbesserung der Situation von Betroffenen von Gewalt mit Tatort im Ausland oder von gewaltbetroffenen Migrant*innen deren Aufenthaltsstatus von der Ehe abhängt. Die Angst um den Verlust des Aufenthaltsstatus könne nämlich dazu beitragen, dass Betroffene in einer gewaltvollen Ehe verbleiben, weshalb der Zugang zu einer unabhängigen Aufenthaltsgenehmigung dringend notwendig sei (Art. 50 AIG). Ausserdem fordern die Expert*innen des Europarates die Schweiz auf, die Zustimmungslösung «Nur Ja heisst Ja» in das Sexualstrafrecht aufzunehmen. Darüber hinaus sollen die Behörden Massnahmen ergreifen, damit die Sicherheit der von Gewalt betroffenen Personen und ihrer Kinder bei der Festlegung und Ausübung des Sorge- und Besuchsrechts berücksichtigt und vorrangig behandelt wird.
«GREVIO bestätigt, was wir in der Praxis erleben: Die Schweiz hat grosse Defizite bei der Bekämpfung von Gewalt und beim Schutz von Gewaltbetroffenen», sagt Simone Eggler vom Netzwerk Istanbul-Konvention und Brava, «jetzt müssen endlich substanzielle und nachhaltige Gelder gesprochen werden, damit alle Gewaltbetroffenen wirklich unterstützt und geschützt werden können».
GREVIO bestätigt die Forderungen der Zivilgesellschaft und fordert Bund, Kantone und Gemeinden zu einer umgehenden Umsetzung der Empfehlungen auf, um allen gefährdeten Gruppen Schutz vor Gewalt garantieren zu können.