17.06.2024
Bürgerrecht hat als Mitgliedschaft in einem Staat notwendigerweise eine ein- und ausschliessende Funktion. Aus rechtlicher Sicht gehört eine Person zu einem Staat – oder im Falle von Menschen mit Doppel- oder Mehrfachbürgerrecht zu mehreren Staaten – aber nicht zu allen anderen Staaten. Jemand hat diesen Pass, aber nicht einen anderen. Jemand kann dort politische Rechte ausüben, aber nicht hier.
Eine solche Zuordnung von Menschen zu Staaten ergibt sich aus der heutigen in (National-)Staaten aufgebauten Weltordnung. Für die Staaten sind die eigenen Staatsangehörigen Grundvoraussetzung. Ohne Staatsvolk gibt es im völkerrechtlichen Sinne keine Staaten. Staaten haben also ein Interesse daran, Staatsangehörige zu haben. Und sie haben auch ein Interesse daran, dass diese Gruppe der Staatsangehörigen über die Zeit hinreichend stabil ist. Vor diesem Hintergrund galt im Völkerrecht lange der Grundsatz, dass die Staaten selbst bestimmen können sollen, wer zum Staatsvolk gehört und wer nicht, wer unter welchen Voraussetzungen die Staatsangehörigkeit erhält und wer nicht.
In demokratischen Ländern ergibt sich aus diesem Grundsatz, dass die Staatsangehörigen die Regeln für den Erwerb und Verlust des Bürgerrechts im Rahmen der demokratischen Mitwirkungsrechte im Prinzip mitbestimmen können. Wobei «die Staatsangehörigen» hier natürlich zu weit greift: mitbestimmen dürfen nur jene, die die vollen politischen Rechte haben und sich im demokratischen Prozess entsprechend Gehör verschaffen können. Zahlreiche Gruppen waren und bleiben nach wie vor Aussen vor: von religiösen Minderheiten, Armen oder Frauen, die lange ausgeschlossen waren, bis hin zu Kindern oder Menschen mit schweren Behinderungen, die auch heute nicht teilnehmen können.
Im dreistufigen Schweizer Bürgerrecht zeigt sich der ausschliessende Effekt besonders deutlich: Auf kommunaler, kantonaler und auf Bundesebene dürfen die Stimmberechtigten die Regeln für den Erwerb und Verlust des Bürgerrechts mitbestimmen. Grundlegende Änderungen, wie etwa die Einführung des ius soli oder einer erleichterten Einbürgerung für die 2. Generation, bedürfen einer Verfassungsänderung und brauchen daher die Zustimmung von Volk und Ständen. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass dies eine hohe Hürde für progressive Reformen schafft. Mehr noch: in etlichen, gerade kleineren Gemeinden entscheidet nach wie vor die Gemeindeversammlung darüber, ob eine Person eingebürgert wird. Aufgrund dieser direktdemokratischen Mitwirkungsrechte haben diejenigen, die bereits dazugehören, einen grossen Einfluss auf die Entscheidung, wer in Zukunft dazugehören soll. Das Schweizer Bundesgericht betont seit seinen Leitentscheiden aus dem Jahr 2003, dass der Entscheid über eine Einbürgerung kein Vorgang im rechtsfreien Raum ist und die Entscheidenden an das Recht und insbesondere an die Grundrechte gebunden sind. Trotzdem prägen strenge Anforderungen und stereotype Vorstellungen des «guten Schweizers»/der «guten Schweizerin» die Einbürgerungsentscheidungen – weshalb diese bei den Betroffenen oft als willkürlich, diskriminierend und herabwürdigend empfunden werden. Im Zusammenspiel führen diese Faktoren dazu, dass das Einbürgerungsrecht in der Schweiz so restriktiv ist.
Aus Sicht des Individuums ist das Bürgerrecht jedoch mehr als ein Zuordnungs- und Ausschlussinstrument. Für das Individuum ist das Bürgerrecht vor allem auch wegen seiner menschenrechtlichen Bedeutung wichtig. An das Bürgerrecht sind nach wie vor wenige, aber zentrale Rechte geknüpft. So können normalerweise nur Personen mit Schweizer Bürgerrecht an Wahlen und Abstimmungen teilnehmen und sich für politische Ämter aufstellen lassen. Alle anderen sind von der direkten Teilhabe am demokratischen Prozess ausgeschlossen, zumindest auf Bundesebene. Im halbdirekten demokratischen System der Schweiz führt dieser Ausschluss von über einem Viertel der Bevölkerung auf Dauer zu einer Untergrabung der Legitimität demokratischer Entscheidungen. Aus individueller Perspektive ist aber ein weiteres, an das Bürgerrecht geknüpftes Recht noch fast wichtiger; nur die Staatsangehörigkeit gewährt ein absolutes und unbedingtes Recht auf Einreise, Aufenthalt und Schutz vor Ausweisung und Auslieferung. Personen ohne Bürgerrecht laufen in der Schweiz – dem Land der Ausschaffungsinitiative – immer Gefahr ihr Aufenthalts- und Niederlassungsrecht zu verlieren, etwa wenn sie straffällig werden oder auf Sozialhilfe angewiesen sind. Dies zeigt, dass das Bürgerrecht in der Schweiz keineswegs zu einem rein formalen Status geworden ist. Vielmehr hat das Bürgerrecht zentrale Auswirkungen auf das Leben und die Perspektiven einer Person. Mit Hannah Arendt gesprochen kann das Bürgerrecht also nach wie vor als «right to have rights» – als Recht Rechte zu haben – bezeichnet werden.
Die Anerkennung der Bedeutung des Bürgerrechts für das Individuum wirft die Frage auf, inwiefern das Bürgerrecht selbst menschenrechtlich geschützt ist oder geschützt sein sollte. Das Recht auf Staatsangehörigkeit ist heute in zahlreichen der wichtigsten Menschenrechtsinstrumenten direkt oder indirekt verankert. Darüber hinaus bekräftigen zahlreiche Resolutionen und Empfehlungen von internationalen Organisationen wie den Vereinten Nationen oder dem Europarat den Status des Rechts auf Staatsangehörigkeit als Menschenrecht. Sogar der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte anerkennt das Recht auf Staatsangehörigkeit, obwohl es in der Europäischen Menschenrechtskonvention selbst nicht enthalten ist. Die Staaten hingegen waren immer zurückhaltend im Bereich der Staatsangehörigkeit völkerrechtliche Pflichten zu akzeptieren und das Recht auf Staatsangehörigkeit als verbindliches Individualrecht anzuerkennen. Trotzdem ist das Recht auf Staatsangehörigkeit heute in so vielen Verträgen geschützt, dass es als Menschenrecht anerkannt werden muss.
Das Recht auf Staatsangehörigkeit schützt zahlreiche Aspekte rund um den Erwerb, die Ausübung und den Verlust des Bürgerrechts. Es schützt den Zugang von Kindern zu einer Staatsangehörigkeit, wenn sie sonst staatenlos wären. Es verbietet den Staaten, Menschen das Bürgerrecht auf willkürliche Art und Weise zu entziehen oder zu verweigern. Es verbietet Diskriminierungen im Bereich des Bürgerrechts, sei dies zum Beispiel auf Grund des Geschlechts bei der Weitergabe des Bürgerrechts an die Kinder oder auf Grund der Herkunft, der Religion oder einer Behinderung bei der Einbürgerung. Es verbietet Kollektiv- oder Zwangseinbürgerungen genauso wie den kollektiven Entzug des Bürgerrechts gegenüber einer ganzen Gruppe. Es verpflichtet die Staaten, die Einbürgerung von Flüchtlingen und Staatenlosen zu erleichtern. Und es verpflichtet diese, die Möglichkeit der Einbürgerung zu schaffen und Einbürgerungsverfahren fair auszugestalten.
Nicht ausdrücklich geschützt ist jedoch nach heutigem Völkerrecht das Recht auf Einbürgerung in einem bestimmten Staat. Aus einer rechtstheoretischen Sicht ist das jedoch nicht überzeugend. Wenn man annimmt, dass die Staatsangehörigkeit so zentral für ein selbstbestimmtes und würdiges Leben, für die Identität und das soziale Leben einer Person ist, dass sie menschenrechtlich geschützt werden muss, dann muss unter Umständen ein Recht auf Einbürgerung in einem bestimmten Staat angenommen werden. Dies ist dann der Fall, wenn eine Person so enge Beziehungen zu einem Staat hat, dass die Zugehörigkeit zu diesem Staat Teil der sozialen Identität der Person wird. Dies hat auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seiner Rechtsprechung anerkannt. Anders gesagt sollte also jede Person das Recht auf die Staatsangehörigkeit jenes Staates haben, mit dem sie durch ihre tatsächlichen Lebensumstände verbunden ist. Ein so verstandenes Recht auf Einbürgerung mag aus einer migrationskritischen Perspektive möglicherweise radikal aussehen. Aus Sicht der betroffenen Person ist es jedoch Ausdruck der Bedeutung des Bürgerrechts für ein menschenwürdiges Leben. Das Bürgerrecht wird von einem Recht des Staates zu einem Recht der Menschen.
Das Schweizer Bürgerrecht ist weit davon entfernt, die menschenrechtliche Bedeutung von Staatsangehörigkeit anzuerkennen. Die Einbürgerung steht nur Personen offen, die seit mindestens zehn Jahren, in der Praxis oft gar seit Jahrzehnten in der Schweiz leben, eine Niederlassungsbewilligung haben, nicht von Armut betroffen sind und ein gutes Bildungsniveau haben. Das Einbürgerungsverfahren ist komplex, langwierig, teuer und anfällig für Diskriminierungen. Selbst Menschen, die in der Schweiz geboren sind und nie in einem anderen Land gelebt haben, müssen für eine Einbürgerung hohe Hürden überwinden. Dies ist problematisch, gehören diese Menschen doch zur Schweiz. Sie haben hier ihre Familien, ihr soziales Netz, ihre Arbeit, ihre Freizeitaktivitäten, ihren Alltag, ihren Lebensmittelpunkt. Aus menschenrechtlicher Sicht ist eine Reform des Schweizer Bürgerrechts daher dringlich: erst wenn das Bürgerrecht in der Schweiz von einem Instrument des Ausschlusses zu einem Mittel der Anerkennung wird, wird das Bürgerrecht seiner Bedeutung als Menschenrecht gerecht.
April 2024 / Barbara von Rütte
Dieser Artikel ist als Teil des Argumentariums für ein neues Bürgerrecht des Instituts Neue Schweiz (INES) erschienen.