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Anspruch auf Intimbesuche im Gefängnis: ein zu restriktives Recht

14.08.2024

Laut Bundesgericht haben nur inhaftierte Personen, die stabile und dauerhafte Beziehungen nachweisen können, das Recht, intime Besuche im Gefängnis zu empfangen. Diese Einschränkung stellt einen Eingriff in das Recht auf Privatsphäre dar, da Intimität und Sexualität elementare Bedürfnisse vieler Menschen sind und zur Persönlichkeitsentfaltung beitragen.

In seinem Urteil vom 3. Januar 2024 entschied das Bundesgericht, dass die Waadtländer Vollzugsbehörde den Antrag eines Inhaftierten, seine Partnerin in einem Intimzimmer zu empfangen, zurecht abgelehnt hatte, da der Nachweis einer stabilen und dauerhaften Beziehung nicht erbracht werden konnte. Die Begründung des Bundesgerichts wirft jedoch Fragen nach der Gleichbehandlung inhaftierter Personen in Bezug auf die Achtung der sexuellen Freiheit auf. Die doppelte Bedingung der Stabilität und Dauerhaftigkeit einer Beziehung für intime Besuche beruht auf einer normativen Sichtweise von Sexualität und Intimität und hat erhebliche Auswirkungen auf die Menschenrechte inhaftierter Personen.

Restriktives Urteil über das Recht auf die Pflege von intimen Beziehungen

Im Jahr 2022 beantragte der Beschwerdeführer A., der in einem Gefängnis im Kanton Waadt inhaftiert ist, seine Partnerin in einem sog. Intimzimmer treffen zu dürfen. Die Gefängnisleitung lehnte dies mit der Begründung ab, dass keine geeigneten Räumlichkeiten zur Verfügung stehen. A. focht die Entscheidung an, wurde jedoch von der Direktion des kantonalen Amtes für Justizvollzug abgewiesen. Die Behörde stützte sich auf Artikel 82 Absatz 5 des Reglements des Kantons Waadt über den Status verurteilter Personen, die sich im Straf- und Massnahmenvollzug befinden (RSPC, 340.01.1). Gemäss diesem Artikel ist der Zugang zu Intimbesuchen nur erlaubt, wenn die inhaftierte Person eine stabile Beziehung zu ihrer Partner*in unterhält, die vor der Inhaftierung bestand oder zum Zeitpunkt der Antragstellung mindestens sechs Monate gedauert hat. A. verlangte daraufhin vom Bundesgericht eine Prüfung, ob die in Art. 82 Abs. 5 RSPC vorgesehenen Kriterien für Intimbesuche mit Konventions-, Verfassungs- und Bundesrecht vereinbar sind.

Das Bundesgericht entschied, dass die Regelungen im Kanton Waadt mit den Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention (Art. 8 EMRK), der Schweizer Bundesverfassung (Art. 13 BV) und dem Strafgesetzbuch (Art. 84 StGB) vereinbar seien (E. 3.2.8). Das Gericht argumentierte, dass intime Besuche hauptsächlich für die Angehörigen der inhaftierten Person vorgesehen sind (E. 3.2.1–3.2.5) und die Kantone die Befugnis haben, zu regeln, wer als Angehörige gilt. Im Kanton Waadt sei dies in Art. 82 Abs. 5 der RSPC genügend klar geregelt (E. 3.2.6).

Es ist zwar nachvollziehbar, dass die Entscheidung des Bundesgerichts die Sicherheitsbedenken und logistische Herausforderungen berücksichtigt, die mit der Einrichtung von Intimbesuchsräumen verbunden sind. Doch diese praktischen Herausforderungen sollten nicht dazu führen, dass das Recht auf intime Beziehungen in unangemessener Weise eingeschränkt wird. Weiter wurde mit dieser Entscheidung eine normative Sicht auf intime Beziehungen manifestiert, die an der Ehe und stabilen Partnerschaften orientiert ist.

Das Recht auf intime Beziehungen als Menschenrecht

Das Recht auf Privat- und Familienleben, verankert in Artikel 8 EMRK und Artikel 13 BV, umfasst auch das Recht auf sexuelle und intime Beziehungen. Dieses Recht sollte nicht auf eine enge normative Vorstellung von Stabilität und Dauerhaftigkeit beschränkt werden. Sexualität ist ein grundlegender Aspekt der menschlichen Autonomie und Persönlichkeitsentwicklung. Der Verzicht auf Sexualität und Intimität ist zudem nicht Teil der rechtlichen Strafe, und die staatliche Einschränkung dieses Rechts darf nur in sehr engen Grenzen erfolgen.

Nationale und internationale Empfehlungen und aktuelle Situation in der Schweiz

Die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter (NKVF) empfiehlt den Schweizer Behörden seit 2012, Intimzimmer in Justizvollzugsanstalten einzurichten. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) anerkennt zwar keinen verpflichtenden Anspruch auf Intimbesuche, fördert jedoch den Zugang zu intimen Begegnungen in Haft aufgrund des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens. Im Fall Aliev v. Ukraine (§ 187) entschied der Gerichtshof, dass die Justizvollzugsanstalt die Aufrechterhaltung von Kontakten zwischen einer inhaftierten Person und ihrer engsten Familie fördern muss, um das Recht auf Familienleben zu wahren. Es liegt im Ermessensspielraum der Staaten, solche Regelungen zu schaffen (Epners-Gefners v. Lettland, § 62), doch der EGMR betont die Bedeutung der Sexualität als «einer der intimsten Aspekte der Privatsphäre» (Dudgeon v. Vereinigtes Königreich) und «das Recht, sexuelle Beziehungen zu unterhalten, ergibt sich aus dem Recht, über den eigenen Körper zu verfügen, was integraler Bestandteil des Konzepts der persönlichen Autonomie ist» (K.A. und A.D. v. Belgien). Letztlich sieht auch die Empfehlung des Ministerkomitees an die Mitgliedstaaten über die Europäischen Strafvollzugsgrundsätze in der Regelung 24.4 vor, dass die Besuchsregelungen so gestaltet sein müssen, dass Gefangene Familienbeziehungen so normal wie möglich pflegen und entwickeln können.

Verschiedene Faktoren spielen eine Rolle, weshalb die Möglichkeit von Intimbesuchen wichtig ist. Zum einen muss die Beziehung zur Aussenwelt gefördert werden, da sie elementar zur Verhinderung der Isolation ist und damit zur Verminderung von sog. Haftschäden beträgt. Je stabiler die Beziehung zur Aussenwelt erhalten bleibt, desto psychisch gesünder sind die inhaftierten Personen und deren Wiedereingliederungsprognose bei der Entlassung ist nachweislich besser. Zum anderen ist das Leben der Sexualität ein Bedürfnis, dass von den vielen Menschen befriedigt werden muss. Insbesondere im belastenden Gefängnisalltag kann sexuelle Befriedigung zum Spannungsabbau und zu einem besseren Wohlbefinden beitragen. «Sexuelle Frustration ist eine Quelle von Gewalt in Haftanstalten», so Quentin Markarian, der sich auf das Thema Sexualität in Haft spezialisiert hat. Studien zeigen, dass Inhaftierte, die sexuelle Beziehungen aufrechterhalten können, weniger gewalttätig sind und weniger Unruhe stiften.

In der Schweiz verfügen derzeit nur neun Anstalten über intime Besuchszimmer, was lediglich 10% aller Justizvollzugsanstalten ausmacht. Dies sind: Pöschwies (ZH), Cazis Tignez (GR), Bostadel (ZG), Grosshof (LU), Hindelbank (BE), Carcere Penale La Stampa (TI) und Les Etablissements de la plaine de l'Orbe (VD) sowie das Etablissement d'exécution des peines Bellevue (NE). In geschlossenen stationären Massnahmenvollzugseinrichtungen oder forensisch-psychiatrischen Kliniken sind solche Räume überhaupt nicht vorhanden, obwohl diese Einrichtungen regelmässig Personen aufnehmen, die zu langen Freiheitsentzügen verurteilt werden.

Schlussfolgerung

Es ist an der Zeit, die Thematik der Sexualität im Straf- und Massnahmenvollzug nicht mehr weiter zu tabuisieren. Das Recht auf intime Beziehungen sollte umfassender geschützt werden, als es die derzeitige Praxis zulässt. Die gegenwärtigen restriktiven Regelungen basieren auf einer veralteten, normativen Sichtweise und berücksichtigen weder die vielfältigen Bedürfnisse der Inhaftierten noch die wissenschaftlichen Erkenntnisse über die positiven Auswirkungen intimer Beziehungen. Eine Reform der gesetzlichen Rahmenbedingungen, die den Zugang zu Intimbesuchen erweitert und flexibler gestaltet, wäre im Interesse sowohl der Inhaftierten als auch der gesamten Gesellschaft.