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Rassistisches Profiling: Der Gerichtsfall «Wa Baile»

13.02.2024

Mohamed Wa Baile hatte sich im Februar 2015 im Rahmen einer polizeilichen Personenkontrolle am Zürcher Hauptbahnhof geweigert, sich auszuweisen, weil er die Kontrolle als rassistisch empfunden hatte. Am 7. März 2018 bestätigte das Bundesgericht die Verurteilung von Wa Baile durch das Zürcher Obergericht.

In seinem Entscheid verwirft das Bundesgericht alle vorgebrachten Rügen der Verteidigung. Die Vorinstanz habe ihr Urteil hinreichend begründet, eine willkürliche Beweiswürdigung sei nicht gegeben. Wa Baile ist inzwischen mit einer Beschwerde gegen das Bundesgerichtsurteil an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg gelangt.

Parallel zum strafrechtlichen Verfahren hat Wa Baile mit Unterstützung seiner Verteidigerin und dem Juristen und Diskriminierungsexperten Tarek Naguib ein verwaltungsrechtliches Feststellungsbegehren eingereicht. Das Zürcher Verwaltungsgericht entschied am 1. Oktober 2020, dass die Kontrolle Wa Bailes am Hauptbahnhof Zürich rechtswidrig war. Offen liessen die Richter*innen hingegen, ob es sich dabei auch um eine Diskriminierung aufgrund der Hautfarbe gehandelt hat.

Was war passiert?

Wa Baile fährt am Donnerstag, den 5. Februar 2015, von seinem Wohnort Bern nach Zürich, wo er an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) als Bibliothekar arbeitet. Nachdem er morgens um 07.00 Uhr aus dem Zug aussteigt, geht er im Strom der Pendler*innen vom Perron durch die Haupthalle des Hauptbahnhofes Zürich in Richtung Ausgang. Noch in der Halle wird er wird er von zwei Polizisten als Einziger aus der Pendlermasse herausgepickt und aufgefordert, sich auszuweisen. Wa Baile fragt nach, ob eine schwarze Person gesucht werde. Weil dies nicht der Fall ist, weigert sich Wa Baile, den Polizisten seinen Schweizer Pass vorzuzeigen. Stattdessen fragt er den Polizisten, ob er wisse, wie es sich anfühle, ständig von der Polizei kontrolliert zu werden. 

Weil sich Wa Baile weigert, seinen Namen zu nennen oder sich auszuweisen, durchsuchen die Polizisten seine Effekten. Erst nachdem die Polizisten in seinem Rucksack den AHV-Ausweis gefunden haben, lassen sie ihn gehen. Es ist eine Erfahrung, die Wa Baile nur zu gut kennt: «Ich bin seit zehn Jahren Schweizer, werde aber immer wieder von der Polizei kontrolliert, egal ob im Zug, auf dem Arbeitsweg, in der Bibliothek oder Apotheke in Bern oder vor der Kita meiner Kinder», sagt Wa Baile. Er lasse die entwürdigenden Kontrollen in der Öffentlichkeit in der Regel über sich ergehen und befolge die Anweisungen der Polizei grundsätzlich widerstandslos. Jedoch sei er es leid, ständig ins Visier der Polizei zu geraten, ungeachtet dessen, wie er sich verhalte. Und er sei es leid, ständig beweisen zu müssen, dass er Schweizer oder kein Drogenhändler sei. Wa Baile hat zwei kleine Kinder, für welche er sich wünscht, dass sie eines Tages mit dem Gefühl leben können, nicht nach ihrer Hautfarbe beurteilt zu werden und die Polizei nicht als Gegner betrachten.

Polizeirapport und Strafbefehl

Mit Strafbefehl vom 16. März 2015 wurde Wa Baile eine Busse in der Höhe von CHF 100.- (inklusive Kosten- und Gebührenpauschale) wegen Nichtbefolgens polizeilicher Anordnungen auferlegt. Der Strafbefehl beruht auf dem Polizeirapport, indem der Polizist zum einen die Hautfarbe und das Geschlecht erwähnte und die Anhaltung mit dem Abwenden des Blickes von Wa Baile rechtfertigte:

«Anlässlich der Patrouillentätigkeit fiel Schreibendem eine dunkelhäutige, männliche Person (später bekannt als M.Wa Baile) verdächtig auf. Dies aufgrund des Verhaltens der Person (M. Wa Baile wandte seinen Blick von mir ab als er mich als Polizeibeamten erkannte und an mir vorbei gehen wollte). Da sich der Verdacht auf ein AuG-Delikt (Verstoss gegen das Ausländergesetz) aufdrängte, entschloss ich mich M. Wa Baile einer Personenkontrolle zu unterziehen.»

Wa Baile entschied sich, diesen Strafbefehl anzufechten: «Ich möchte mich dagegen wehren, dass ich, sowie auch andere Dunkelhäutige, ständig unter Generalverdacht stehen und in Personenkontrollen der Polizei geraten. Ich will mich für eine Schweiz engagieren, in der alle gleich behandelt werden.» Gemäss Jurist und Diskriminierungsexperte Tarek Naguib hat das Strafverfahren eine starke symbolische Kraft und soll dafür stehen, dass sich Wa Baile und seine Unterstützer*innen nicht abschrecken lassen, egal wie hoch die Hürden sind. Die Bedeutung des strafrechtlichen Verfahrens liege ferner darin, dem Thema die nötige Aufmerksamkeit zu verleihen, die Bevölkerung zu sensibilisieren und Betroffene zu eigenem Handeln zu ermächtigen.

Das Verfahren vor dem Stadtrichteramt Zürich

Am 30. November 2015 fand die Anhörung vor dem Stadtrichteramt Zürich statt. Die Stadtrichterin hatte die Frage zu beurteilen, ob unter den vorliegenden Umständen von einem hinreichenden Anfangsverdacht ausgegangen werden könne bzw. dürfe und die Personenkontrolle damit rechtmässig erfolgt sei. Aufgrund der unsicheren Rechtslage überwies die zuständige Stadtrichterin die Akten mit Weisung vom 30. März 2016 an das Bezirksgericht Zürich zur Durchführung des Hauptverfahrens.

Es folgen einige Auszüge aus dem Wortprotokoll der mündlichen Einvernahmen von Wa Baile und dem hauptbeteiligten Polizisten Herr X:

Mohamed Wa Baile:

«Ich frage mich was die Kriterien sind, mich rauszupicken (…)»

«Wenn die Polizei eine schwarze Person gesucht hätte, hätte ich die Busse akzeptiert. Aber nur weil ich den Blick abgewendet haben soll – gemäss Rapport –, muss ich eine Busse nicht akzeptieren. (…) Ist es nicht normal, dass eine Person, die keine Beziehung aufbauen möchte einfach wegschaut? (…) Ich habe mich nicht speziell anders verhalten als sonst (…)»

«Immer wieder diese Kontrollen. Wie würden Sie sich fühlen? Ich bin auch nur ein Mensch, ein Vater, aber mit dunkler Hautfarbe (…)»

«Alle meine Kollegen mit dunkler Hautfarbe haben solche Situationen schon erlebt, nicht hingegen meine Freunde mit heller Hautfarbe (…)»

«Mir ist es wichtig zu sagen, dass ich persönlich Herrn Meier (Name geändert) nicht als Rassist sehe (…) es ist eher ein Problem der Institution(…)»

Polizeibeamter Herr X:

«Meine Wahrnehmung war, dass der Blick möglicherweise abgewendet wurde, da die Person vielleicht etwas zu verbergen hatte oder es ihr unangenehm war. Dies war für mich ausschlaggebend für eine Kontrolle (…)»

«Das Abwenden des Blickes ist ein Detail, welches ich heute nicht mehr so genau sagen könnte. Wenn ich es so in den Rapport geschrieben habe, wird es so gewesen sein (...)»

«Wir machen eine Kontrolle nur soweit diese nötig ist. Es spielt keine Rolle, ob die Person eine weisse oder schwarze Hautfarbe hat.»

«Ich bin seit 7.5 Jahren Polizist. Es ist die einzige Kontrolle in dieser Zeit, die so verlief, dass sich jemand weigerte, sich auszuweisen, obwohl darauf hingewiesen wurde, dass er dazu verpflichtet sei. Ich denke dies zeigt auch, dass ich keine Kontrollen mit rassistischem Hintergrund durchführe»

Die Frage, wie viele andere Personen denn ebenfalls den Blick abgewendet hätten, liess der Polizist unbeantwortet.

Das Urteil des Zürcher Bezirksgerichts

Am 7. November 2016 wurde Wa Baile vom Zürcher Bezirksgericht erstinstanzlich verurteilt. Der Einzelrichter machte deutlich, dass er einzig den Strafbefehl wegen Nichtbefolgens einer polizeilichen Anordnung zu beurteilen habe und nicht darüber zu befinden habe, ob in der Stadtpolizei rassistische Stereotypen institutionell verankert seien. Der Strafbefehl sei rechtmässig erfolgt, da die Verweigerung einer polizeilichen Aufforderung nur in absoluten Ausnahmesituationen zulässig sei. Gemäss der bundesgerichtlichen Praxis sei einer polizeilichen Anordnung selbst dann Folge zu leisten, wenn sie unrechtmässig ist. Nur wenn eine polizeiliche Anhaltung nichtig sei, habe die angehaltene Person das Recht, sich ihr zu widersetzen (Vgl. hierzu BGE 6B_393/2008, 6B 395/2008/sst E.2.1 / BGE 132 II 342 E. 2.1).

Nichtigkeit sei gemäss bundesgerichtlicher Rechtssprechung allenfalls anzunehmen, wenn der Mangel besonders schwer wiege und ohne weiteres erkennbar sei. Als Nichtigkeitsgründe fallen vorab Verfahrens- und Formfehler in Betracht, namentlich wenn die Behörde oder der Beamte zur Vornahme der Handlung sachlich oder örtlich unzuständig ist. Diese hohe Schwelle sei zentral, um ein reibungsloses Funktionieren der staatlichen Organe zu gewährleisten und die staatliche Autorität zu schützen.

Der Einzelrichter war ausserdem der Ansicht, dass die Aussage des Polizisten, wonach nicht die Hautfarbe für die Kontrolle ausschlaggebend gewesen sei, glaubhaft ist. Die Personenkontrolle weise demnach keinen schwerwiegenden Mangel auf.

Obergericht und Bundesgericht bestätigten das Urteil

Am 25. August 2017 bestätigte das Obergericht des Kantons Zürich die Verurteilung von Wa Baile. Da es sich beim Hauptbahnhof Zürich um eine stark frequentierte Örtlichkeit handle, sei dort vermehrt mit Delinquenz – etwa im Bereich Ausländerrecht - zu rechnen. An die Polizeieinsätze dürften dabei keine überhöhten Anforderungen gestellt werden. Das Obergericht bestätigte die Auffassung der Vorinstanz, wonach sich aus den Beweismitteln und den Aussagen des Polizeibeamten keine Anhaltspunkte für eine Kontrolle aus offensichtlich diskriminierenden Gründen ergeben.

Dieses Urteil wurde am am 7. März 2018 durch das Bundesgericht bestätigt. Im Rahmen seiner eingeschränkten Kognition prüfte es, ob das Bezirksgericht die Beweise willkürlich gewürdigt hatte und das Obergericht demnach eine Willkür zu Unrecht verneint hatte. Hierbei hielt es fest, dass es nicht nachvollziehbar sei, warum die Aussagen des Polizeibeamten als widersprüchlich und deswegen unglaubhaft zu werten seien. Dass sich der Polizeibeamte zum Zeitpunkt der Befragung nicht mehr an sämtliche Einzelheiten der Personenkontrolle erinnern konnte, sei nachvollziehbar.

Das Bundesgericht führte weiter aus, dass die Kritik des Beschwerdeführers weitgehend auf der Annahme beruhe, dass er lediglich aufgrund des Abwendens seines Blickes kontrolliert worden sei. Dabei lasse er den relevanten Gesamtkontext gänzlich ausser Acht. Die situativen Faktoren, insbesondere die von der Vorinstanz dargelegten spezifischen Gegebenheiten des Hauptbahnhofs als «stark frequentierter Ort sowie Knotenpunkt des Fern- und Nahverkehrs, an dem vermehrt mit Delinquenz zu rechnen sei», seien ebenfalls zu berücksichtigen. Die Schlussfolgerung der Vorinstanz, dass «nichts darauf schliessen lasse, dass die Kontrolle aufgrund der Hautfarbe durchgeführt worden sei», erachtete das Bundesgericht demnach als gerechtfertigt.

Ebenfalls verworfen hat das Bundesgericht die Rüge der Verletzung des Legalitätsprinzips. Wa Baile hatte geltend gemacht, dass die einschlägige Norm für Personenkontrollen in Art. 26 i.V.m Art. 4 der Allgemeinen Polizeiverordnung (AVP) derart unpräzise formuliert sei, dass die Adressaten ihr Verhalten nicht danach richten können. Das Bundesgericht hielt demgegenüber fest, dass sich Art. 4 APV klar entnehmen lasse, dass das Nichtbefolgen einer polizeilichen Anordnung strafbar ist. Eine aufzählende Formulierung der davon erfassten polizeilichen Anordnungen wäre gemäss Bundesgericht nicht zweckmässig.

Kritik an der Urteilsbegründung

Das einzige Verhalten, das vom kontrollierenden Polizisten widerspruchsfrei und zudem wiederholt als Grund der Kontrolle angeführt wurde, ist das Abwenden des Blickes. Dies anerkannt auch das Zürcher Obergericht, indem es festhält, dass «zugunsten des Beschuldigten davon auszugehen ist, dass sein als ausweichend wahrgenommenes Verhalten nicht darin bestand, dass er einen Bogen um die Polizeibeamten gemacht hat, sondern lediglich darin, dass er seinen Blick von diesen abgewandt hat» (S. 11).

Das Abwenden des Blickes ist jedoch kein Anhaltspunkt für einen Verstoss gegen das Ausländergesetz oder eine Straftat. Es handelt sich um normales menschliches Verhalten im Pendlerstrom morgens um Sieben an stark frequentierten Orten.

Hinzu kommt, dass der Polizist im Verfahren mehrmals betonte, dass es sich bei der kontrollierten Person um einen dunkelhäutigen Mann handelt. Dies erweckt klar den Verdacht, dass der eigentliche Auslöser der Kontrolle von Mohamed Wa Baile seine dunkle Hautfarbe war. Personenkontrollen aufgrund der Hautfarbe zum Zweck der Migrationskontrolle können aber nicht sachlich gerechtfertigt werden und stellen in jedem Fall einen Verstoss gegen das völker- und verfassungsmässige Diskriminierungsverbot dar (vgl. unseren Artikel hierzu).

Die handlungsweisende Frage muss immer lauten: «Würde der Polizeibeamte oder die Polizeibeamtin dieselbe Personenkontrolle auch bei einer als «weiss» wahrgenommenen Person oder Personengruppe durchführen?». Wenn bei einer dunkelhäutigen Person ein Verhalten als verdächtig gilt, und dasselbe Verhalten bei einer weissen Person als normal, dann besteht die Vermutung einer rassistischen Diskriminierung, die von der Polizei entkräftet werden muss. Diese sogenannte Reduktion des Beweismasses auf eine Glaubhaftmachung einer Diskriminierung mit anschliessender «Beweislastumkehr» wurde jüngst in einer beachtlichen Grundsatzentscheidung des Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz in einem Fall zu rassistischem Profiling bekräftet (vgl. unseren Artikel hierzu).

Zudem ist eine Umkehr der Beweislast auch durch die Völkerrechtspraxis vorgesehen, sofern aufgrund der Umstände eine «starke Vermutung» einer Diskriminierung besteht. Vorliegend konnte der Polizeibeamte die Vermutung der rassistischen Diskriminierung nicht entkräften. Denn offenbar gab es – ausser der Hautfarbe - keinen nachvollziehbaren Anlass zu einer Personenkontrolle. Damit liegt vorliegend ein Verstoss gegen das völker- und verfassungsrechtliche Diskriminierungsverbot vor. Dies bedeutet, dass die Kontrolle einen schwerwiegenden inhaltlichen Mangel aufwies und das Gericht mindestens ernsthaft hätte prüfen müssen, ob die Kontrolle nichtig war. Falls letzteres zutrifft, hätte Mohamed Wa Baile sich der Kontrolle verweigern dürfen.

Demgegenüber haben das Bezirksgericht, das Obergericht Zürich und nun auch das Bundesgericht unter Missachtung des Grundsatzes «im Zweifel für den Angeklagten» und den in der nationalen und internationalen Rechtsprechung entwickelten Regeln zur Beweiswürdigung den Sachverhalt zu Lasten des Beschuldigten einseitig interpretiert. Wa Baile hat den Fall nun nach Strassburg an den Europäischen Geichtshof für Menschenrechte weitergezogen, wie die Allianz gegen Racial Profiling mit einer sehr ausführlichen Beründung bekannt machte.

Zwei namhafte Organisationen, Amnesty International und die Open Society Justice Initiative, haben anfangs 2021 in Wa Bailes Fall am EGMR als Drittparteien interveniert. Drittparteien können am europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zwar keine Stellung zum Sachverhalt beziehen, jedoch den zuständigen Richter*innen zu einer Übersicht über das anwendbare Recht verhelfen. So haben die genannten Organisationen jeweils eine Zusammenfassung über die internationale, europäische und nationale Rechtslage bezüglich Racial Profiling erstellt und in Strassburg eingereicht.

Das verwaltungsrechtliche Verfahren

Parallel zum strafrechtlichen Verfahren hat Wa Baile mit Unterstützung seiner Verteidigerin und dem Juristen und Diskriminierungsexperten Tarek Naguib ein verwaltungsrechtliches Feststellungsbegehren eingereicht. Dieses ist im Bundesgesetz über das Verwaltungsverfahren geregelt (Art. 25a lit. c VwVG) und bezweckt die nachträgliche Feststellung der Widerrechtlichkeit staatlichen Handelns. Juristisch wird die zweispurige Vorgehensweise damit begründet, dass die Voraussetzungen der Strafbarkeit des Verhaltens von Wa Baile einerseits und die der Widerrechtlichkeit der Kontrolle andererseits nicht identisch sind.

Das Bundesgericht hat zwar in seinem Entscheid vom 7. März 2018 bestätigt, dass Wa Baile zu Recht gebüsst wurde. In Bezug auf das anstehende Verwaltungsverfahren hat dieser Entscheid aber keine präjudikative Wirkung. Damals kam das Bundesgericht zum Schluss, dass nicht Artikel 215 der Strafprozessordnung, sondern das Zürcher Polizeigesetz und damit Verwaltungsrecht für derartige Personenkontrollen einschlägig ist. Es handle sich hierbei nicht um eine Strafverfolgung sondern um eine sicherheitspolizeiliche Massnahme und damit um einen Verwaltungsakt. Somit wäre eine Einstellung des Verwaltungsverfahrens aus formellen Gründen unzulässig. Im Strafverfahren wurde zudem einzig festgehalten, dass die Personenkontrolle nicht «offensichtlich nichtig» war und Wa Baile deshalb der polizeilichen Aufforderung hätte Folge leisten müssen. Nicht vertieft behandelt hat das Gericht hingegen die zentrale Frage der Rechtmässigkeit der Kontrolle in Bezug auf das Diskriminierungsverbot nach Artikel 8 der Bundesverfassung.

Gemäss Naguib hat das Verwaltungsverfahren auch eine politische Dimension: «Wa Baile hat den Spiess umgedreht - das Verwaltungsverfahren zeigt deshalb besser, um was es im Kern geht». Hier sei nicht der Gesuchsteller sondern richtigerweise der Staat auf der Anklagebank.

Personenkontrolle war unrechtmässig

Das Verwaltungsgericht in Zürich kommt in seinem Urteil vom 1. Oktober 2020 zum Schluss, dass die Kontrolle Wa Bailes am Hauptbahnhof Zürich rechtswidrig war. Der verantwortliche Polizist begründete die durchgeführte Personenkontrolle damit, dass Wa Baile den Eindruck erweckt habe, einen Bogen um die Gruppe von Polizist*innen machen zu wollen. Zudem hätte er sich am Hauptbahnhof in einer «delinquenten» Umgebung befunden.

Zur Durchführung von Personenkontrollen müssen gemäss dem Zürcher Verwaltungsgericht aber objektiv nachvollziehbare Kriterien vorliegen, was durch das blosse Abwenden des Blicks nicht gegeben sei. Viele Menschen würden beim Gedanken an eine mögliche Polizeikontrolle Nervosität und Unbehagen verspüren. Auch der Hinweis auf den Bahnhof als deliktträchtigen Ort lässt das Gericht nicht gelten, andernfalls stünden alle Passant*innen am Hauptbahnhof unter Generalverdacht. Das Gericht bestätigt mit dieser Begründung, dass polizeiliche Personenkontrollen Grundrechtseingriffe darstellen, die lediglich dann durchgeführt werden dürfen, wenn sie zur Gefahrenabwehr auch wirklich notwendig sind.

Offen lassen die Zürcher Richter*innen hingegen die Frage, ob die besagte Kontrolle eine Diskriminierung gemäss Artikel 8 der Bundesverfassung darstellt. Die Beschwerde, welche die Rechtswidrigkeit der polizeilichen Personenkontrolle beanstandet hatte, werde vollumfänglich gutgeheissen. Ob eine Diskriminierung aufgrund der Hautfarbe vorliegt, müsse demnach nicht mehr geprüft werden. Das Gericht kommt zu diesem Schluss, obwohl es das Verhalten Wa Bailes als unverdächtig einstuft und Racial Profiling nahe liegt. Damit macht es leider auch deutlich, dass die Schweizer Justiz noch nicht bereit ist, institutionellen Rassismus beim Namen zu nennen und Rassismus durch die Polizei als institutionelles und systemisches Problem anzuerkennen.

Die «Allianz gegen Racial Profiling» zog auch das verwaltungsrechtliche Verfahren von Mohamed Wa Baile vor das Bundesgericht. Dieses stützte jedoch die Polizei und die Vorinstanzen. Deshalb hat die Allianz entschieden, auch dieses Verfahren an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte weiterzuziehen.

Allianz gegen Racial Profiling

Unterstützt wird Wa Baile von der «Allianz gegen Racial Profiling», einem Zusammenschluss von Aktivisten*innen, Kulturschaffenden, Wissenschaftlern*innen, People of Color und Mitbürgern*innen, die sich gegen rassistische Kontrollen und Praxen der Schweizer Polizeikorps einsetzen.

Ältere Medienberichte zum Fall «Wa Baile»

Der Fall von Mohamed Wa Baile wurde in vielen Medien behandelt und löste eine breite Debatte zum Thema aus. So haben namentlich der Tagesanzeiger, die Berner Zeitung, Der Bund, die NZZ am Sonntag und das Schweizer Fernsehen und Radio über den Fall und die dahinterliegende Problematik berichtet.

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Nora Riss
Leiterin Beratungsnetz für Rassismusopfer

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