10.01.2017
(Artikel von Schutzfaktor M übernommen)
Ein Mazedonier, der seit seinem 9. Altersjahr in der Schweiz lebt, lieferte sich auf einer öffentlichen Strasse ein Autorennen. Er verlor die Kontrolle über sein Fahrzeug und verursachte einen tödlichen Unfall. Auf Grund dieser Straftat wurde er zu einer Freiheitsstrafe verurteilt und seine Niederlassungsbewilligung wurde ihm entzogen. Die Ausschaffung nach Mazedonien wurde daraufhin vollzogen.
Der Mann monierte vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eine Verletzung des Rechts auf Privat- und Familienleben (Art. 8 EMRK). Der Gerichtshof in Strassburg gibt in seinem Urteil vom 10. Jan. 2017 der Schweiz recht und stellt keine Verletzung von Artikel 8 EMRK fest.
Sachverhalt und innerstaatliches Verfahren
Der Beschwerdeführer S. ist mazedonischer Herkunft und reiste 1989 im Alter von 9 Jahren in die Schweiz. Im Rahmen des Familiennachzugs erhielt er eine Niedererlassungsbewilligung und heiratete 1999 eine ebenfalls niederlassungsberechtigte Mazedonierin. Die beiden haben zwei Kinder (2001 bzw. 2005 geboren).
Im Jahr 2004 verliert Herr S. anlässlich eines Autorennens auf einer öffentlichen Strasse mit massiv übersetzter Geschwindigkeit die Kontrolle über sein Fahrzeug, und sein Beifahrer verstirbt noch am Unfallort. Das Obergericht des Kantons Zürich verurteilt ihn dafür wegen vorsätzlicher Tötung sowie grober Verletzung der Verkehrsregeln zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und drei Monaten. Infolge und mit Verfügung vom 27. Juli 2009 widerruft das Migrationsamt des Kantons Zürich die Niederlassungsbewilligung von S. Er rekurriert dagegen erfolglos vor den innerstaatlichen Gerichten.
Das Bundesgericht (Urteil des BGer 2C_218/2010 vom 27. Juli 2010) schützt die Ansicht der Vorinstanz, dass die Schwere der Straftat von Herr S. dessen Verbleib in der Schweiz ausschliesst. Es ist zudem der Ansicht, dass S, obschon seit über 20 Jahren in der Schweiz, sozial und wirtschaftlich schlecht integriert ist. Deshalb und weil er albanisch spricht sowie mit der mazedonischen Kultur vertraut ist, sei ihm die Rückkehr nach Mazedonien zuzumuten. Zum gleichen Schluss kommt das Bundesgericht in Bezug auf die Ehefrau von S. und die gemeinsamen Kinder. Während die Kinder aufgrund ihres Alters noch anpassungsfähig seien, so habe auch die Ehefrau keine besonders enge Beziehung zur Schweiz. Laut BGer ist damit eine Rückkehr nach Mazedonien für die ganze Familie zumutbar, wobei der Ehefrau und den Kindern praxisgemäss die Wahl gelassen wurde, in der Schweiz zu verbleiben oder mit dem Ehemann und Vater nach Mazedonien auszureisen.
Das im Dezember 2010 für die Dauer von 9 Jahren auferlegte Einreiseverbot wird nach teilweise erfolgreicher Beschwerde hiergegen vom Bundesverwaltungsgericht auf 7 Jahre reduziert. Ab 2011 verbringt die Familie vier Jahre in Mazedonien, bevor Ehefrau und Kinder 2015 in die Schweiz zurückkehren. Dies ist ihnen durch die gesetzlich vorgesehene Aufrechterhaltung der Niederlassungsbewilligung ermöglicht worden.
Vor dem EGMR rügt S. eine Verletzung seines Rechtes auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 EMRK).
Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR)
Der EGMR stellt fest, dass der Widerruf der Niederlassungsbewilligung von Herrn S. zweifelsfrei einen Eingriff in das Recht auf Familienleben darstellt. Er kommt jedoch wie die innerstaatlichen Gerichte zum Schluss, dass dieser Eingriff dem Schutz der öffentlichen Sicherheit dient sowie in Anbetracht der Umstände verhältnismässig erscheint. Laut dem EGMR haben die nationalen Behörden den vom EGMR unter Artikel 8 EMRK entwickelten Kriterien ausreichend Rechnung getragen.
Darüber hinaus stellt der EGMR in seiner Analyse massgeblich auf die Geschehnisse nach dem Urteil des BGer ab. In Bezug auf die Zumutbarkeit der Rückkehr betont er insbesondere, dass die Familie von S. zwischenzeitlich über mehrere Jahre in Mazedonien gelebt hat (von 2011 bis 2015). Weil das Einreiseverbot von Herr S. zeitlich auf sieben Jahre beschränkt ist, beläuft sich die faktische Trennung von Herrn S. und seiner Familie auf etwas mehr als drei Jahre. In dieser Zeit habe Herr S. zudem die Möglichkeit, seine Ehefrau und Kinder in der Schweiz zu besuchen.
Unter Berücksichtigung der Schwere des Deliktes von Herrn S. und weil die Kinder noch in einem anpassungsfähigen Alter waren sowie der Bindungen der Eheleute zu Mazedonien, ist gemäss dem EGMR die von den nationalen Behörden vorgenommene Interessenabwägung zwischen dem Recht auf Familienleben und dem Anspruch der Öffentlichkeit auf Sicherheit vertretbar. Die Schweiz habe den ihr zukommenden Entscheidungsspielraum und damit die Konvention nicht verletzt.
Kommentar
Das Urteil des EGMR betont den subsidiären Charakter des EGMR und der EMRK sowie den Spielraum, über welchen die Konventionsstaaten im Bereich des Ausländerrechtes verfügen. Ausschlaggebend für den EGMR waren laut Rechtsanwalt und Migrationsexperte Marc Spescha dennoch die Lebensgestaltung der Familie nach dem BGer-Urteil: Da das Familienleben im Anschluss an die Ausreise des Ehemannes in Mazedonien während rund vier Jahren fortgesetzt wurde, resultiert ein relevanter Eingriff in das Familienleben vor allem für die Zeit danach, d.h. während rund drei Jahren bis zum Ablauf des Einreiseverbotes. Während dieser Zeit sind Besuchsaufenthalte des Ehemannes und Vaters bei seinen Angehörigen in der Schweiz möglich. Ausserdem hat er die Möglichkeit, fünf Jahre nach dem bundesgerichtlichen Urteil eine Neuprüfung des Aufenthaltsrechts, d.h. die Bewilligung des Familiennachzugs zu verlangen. In Berücksichtigung dieser Umstände erschien der ausländerrechtlich motivierte Eingriff in das Familienleben insgesamt als vertretbar.
Das einstimmig gefällte Urteil ist im Lichte der massgeblichen Kriterien nachvollziehbar. Die vorliegend gegebene Konstellation, bei der die Angehörigen des ausweisungsbetroffenen Ausländers mit diesem ausreisen und ihr Familienleben während vier Jahren gemeinsam im Heimatstaat leben, ist ungewöhnlich. Bemerkenswert ist, dass die Geschehnisse nach dem Urteil des Bundesgerichts für die Zumutbarkeit der Ausweisung sprachen und entsprechend berücksichtigt wurden. Demgegenüber wirkten sich der Zeitablauf und die Ereignisse im Anschluss an das bundesgerichtliche Urteil im vielzitierten und geschmähten Entscheid des EGMR im Fall Udeh (vgl. dazu unseren Artikel) zu Gunsten der Familienzusammenführung in der Schweiz aus beziehungsweise wurde die Ausweisung des Straffälligen (mit Einreiseverbot mit einer Dauer von 9 Jahren) deswegen als unverhältnismässig beurteilt.
Dokumentation
- EGMR-Urteil Salija v. Schweiz
vom 10.1.2017 (Urteil-Nr. 55470/10)