humanrights.ch Logo Icon

Die Schweiz wird für unmenschliche Behandlung und widerrechtlichen Freiheitsentzug verurteilt

20.08.2024

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) verurteilt die Schweiz am 20. Februar 2024 im Fall I.L. in drei Punkten: erstens wegen unmenschlicher und erniedrigender Behandlung, zweitens wegen unrechtmässigem Freiheitsentzug und drittens, weil ihm sein Recht, sich innert kurzer Frist bei einem Gericht zu beschweren, verwehrt wurde.

Sachverhalt

Im Juni 2011 wurde der Beschwerdeführer, I.L., vom Obergericht Bern wegen einfacher Körperverletzung und falscher Anschuldigung zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 14 Monaten verurteilt. Da bei ihm eine kombinierte Persönlichkeitsstörung diagnostiziert worden war, wurde die Strafe zugunsten einer stationären therapeutischen Massnahme nach Artikel 59 Strafgesetzbuch (StGB) für die Dauer von 5 Jahren aufgeschoben.

Die ersten fünf Monate der Massnahme verbrachte I.L. im Regionalgefängnis Thun sowie dem Regionalgefängnis Bern. Am 18. November 2011 wurde I.L. zum Vollzug der Massnahme in die Justizvollzugsanstalt Thorberg eingewiesen, wo er bis am 16. März 2015 blieb. Die rund dreieinhalb Jahre in der JVA Thorberg verbrachte I.L. aber nicht in der damals noch vorhandenen Therapieabteilung, sondern überwiegend in der Hochsicherheitshaft A in Isolationshaft ohne Kontakt zu Mitgefangenen. Die Kontakte zur Familie mussten in dieser Zeit hinter einer Trennscheibe durchgeführt werden. Begründet wurde die Unterbringung in Hochsicherheitshaft mit dem renitenten Verhalten des Gefangenen (Ziff. 25). Während seiner Zeit in der JVA Thorberg wurde I.L. mehrfach zu Arreststrafen verurteilt, wobei er in zwei Fällen zusätzlich in der Arrestzelle mithilfe der in die Wand eingelassenen Ringe gefesselt wurde (Ziff. 23).

Am 28. September 2012 teilte die JVA Thorberg in einem Zwischenbericht mit, dass der Vollzug «nicht mehr in geordneten Bahnen» laufe und sie offensichtlich nicht in der Lage ist, die gerichtlich angeordnete Massnahme durchzuführen und dass der Beschwerdeführer ein sicheres stationäres psychiatrisches Umfeld benötige, um Fortschritte in seinem Verhalten erwarten zu können (Ziff. 27). Während die Klinik Rheinau eine Aufnahme von I.L. zuerst noch abgelehnt hatte, stimmte sie dieser aufgrund eines neuen Gutachtens im Mai 2014 schliesslich zu (Ziff. 36). Das neue Gutachten revidierte das erste Gutachten insofern, als nicht nur eine Persönlichkeitsstörung, sondern auch eine schizotypischen Störung diagnostiziert wurde, für welche die Klinik Rheinau spezialisiert ist. Bis I.L. schliesslich in die Klinik Rheinau verlegt wurde, vergingen aufgrund des Platzmangels aber weitere zwei Jahre. In dieser Zeit wurde er von der JVA Thorberg in die JVA Lenzburg und schliesslich in die JVA Bostadel verlegt. Während dieser Zeit war er ständig in Einzelhaft untergebracht und entwickelte dabei Anzeichen einer psychischen Dekompensation (Ziff. 45 – 49). Dies führte zur Verlegung von I.L. in die forensisch-psychiatrische Spezialstation Etoine, wo er mehrmals zwangsmedikamentös behandelt wurde, bevor er im Mai 2016 in die Klinik Rheinau eintreten konnte. Nach seiner Aufnahme in die Klinik Rheinau stabilisierte sich das Verhalten von I.L. umgehend. Er wurde medikamentös richtig eingestellt und während seines gesamten Aufenthalts in der Einrichtung kam es zu keinem weiteren problematischen Vorfall oder Konflikt. Nach einer einmaligen Verlängerung der Massnahme wurde I.L. am 20. Juni 2019 mit einer Bewährungszeit von zwei Jahren bedingt entlassen und lebt seither in Freiheit.

In einem Gutachten von 2017 wurde festgehalten, dass die paranoide Schizophrenie des Antragstellers ausschlaggebend, für alle seit dem Sommer 2009 begangenen Straftaten war (Ziff. 73). Sowohl das aggressive Verhalten als auch das fehlende Verständnis des Betroffenen für seine Krankheit und die sehr lange Zeit der Ablehnung einer Behandlung waren laut dem Experten sehr eng mit der paranoiden Schizophrenie des Antragstellers verbunden. Auch das Verhalten von I.L. habe sich drastisch verändert, sobald die Schizophrenie behandelt werden konnte. Das erste Gutachten sei als unangemessen zu beurteilen: Auch wenn die psychotischen Symptome zum Zeitpunkt der Begutachtung noch nicht manifest gewesen seien, hätte das schizophrene Störungsbild erkannt werden müssen.

Eine dreifache Verletzung der Menschenrechtskonvention

In seinem Urteil vom 20. Februar 2024 kommt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zum Schluss, dass die Schweiz die Menschenrechte von I.L. in dreifacher Hinsicht verletzt hat.

Unmenschliche Behandlung (Art. 3 EMRK)

Der Gerichtshof stellt erstens fest, dass die insgesamt mehr als drei Jahre dauernde Einzelhaft eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK darstellt. Obwohl I.L. an einer schweren psychischen Störung litt, habe man ihm ein Haftregime unterzogen, das für gefährliche Gefangene in den Hochsicherheitsabteilungen des Strafvollzugs vorgesehen war. Hierbei fand keine angemessene medizinische Betreuung statt und seit September 2012 erfolgte keine therapeutische Behandlung mehr. Sein Zustand habe sich im Rahmen der Einzelhaft und ohne angemessene medizinische Betreuung nachweislich verschlechtert (Ziff. 107). Der Gerichtshof erinnerte die Schweiz daran, bereits eine siebentägige Isolationshaft eines psychisch kranken Menschens ohne angemessene medizinische Versorgung eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung darstellt (Keenan gegen Vereinigtes Königreich).

Neben der Isolationshaft kritisierte der Gerichtshof ebenfalls, dass I.L. über die Jahre immer wieder diszipliniert wurde, ohne die psychische Verfassung dabei zu berücksichtigen (Ziff. 99). Die Disziplinierung psychisch kranken Menschen widerspräche zudem den Empfehlungen des Europarats, wonach Personen, die sich in einer stationären Massnahme nach Art. 59 StGB befinden, keiner Disziplinierung unterworfen werden dürfen (Ziff. 88). Besonders «frappierend» fand der EGMR in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass I.L. in der Arrestzelle mindestens zweimal auf dem Thorberg in der mit Ringen an der Wand gefesselt war und in der JVA Lenzburg zweimal mit Handschellen (Ziff. 98). Die offizielle Argumentation der Schweiz, wonach der repressive Umgang mit I.L. primär auf dessen Verhalten zurückzuführen sei, akzeptierte der Gerichtshof nicht. Vielmehr sei sein renitentes Verhalten als Resultat des ungeeigneten Haftsettings zu verstehen (Ziff. 105). Schliesslich habe sogar die JVA selbst und im Jahr 2013 auch das Bundesgericht anerkannt, dass die JVA Thorberg nicht geeignet sei, um I.L. angemessen zu behandeln. Im Zusammenhang mit den Schwierigkeiten, einen geeigneten Platz für I.L. zu finden, erinnerte der EGMR die Schweiz daran, dass logistische oder finanzielle Probleme niemals eine unmenschliche Behandlung von Gefangenen rechtfertigen können (Ziff. 106).

Widerrechtlicher Freiheitsentzug (Art. 5 Abs 1. EMRK)

Zweitens kam der Gerichtshof zum Schluss, dass der Freiheitsentzug widerrechtlich im Sinne von Art. 5 EMRK war. Hierbei hielt er fest, dass es zwischen «Rechtmässigkeit» des Freiheitsentzugs und der Angemessenheit der Behandlung des Gefangenen einen engen Zusammenhang gibt (Ziff. 147). Hierbei hielt der Gerichtshof fest, dass I.L. zwischen dem 27. Juli 2012 und dem 25. Februar 2016, also während drei Jahren und sieben Monaten, in Einrichtungen inhaftiert war, die ihm keine angemessene medizinische Umgebung für seinen Gesundheitszustand bieten konnten und keine wirklichen therapeutischen Massnahmen ergriffen wurden, um ihn auf eine mögliche Freilassung vorzubereiten. Diese unsachgemässe Unterbringung habe zweifellos die positive Entwicklung des Betroffenen verzögert und somit die Verlängerung der angeordneten therapeutischen Massnahme und damit seiner Freiheitsentziehung nach sich gezogen. Der Freiheitsentzug sei deshalb im Sinn von Art. 5 Abs. 1 EMRK nicht rechtmässig erfolgt.

Fehlende Überprüfung innert kurzer Frist (Art. 5 Abs. 4 EMRK)

Schliesslich verurteilte der EGMR die Schweiz drittens für eine Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK. Nach dieser Bestimmung haben Gefangene das Recht, den Freiheitsentzug innerhalb kurzer Frist von einem unabhängigen Gericht überprüfen zu lassen. Diesen Antrag auf Freilassung hatte I.L. am 17. September 2014 nach drei Jahren und sieben Monaten Freiheitsentzug eingereicht. Dies stellt gemäss EGMR eine angemessene Zeitspanne dar, um eine Bearbeitung innert kurzer Zeit erwarten zu können (Ziff. 166). Zwischen dem Antrag des Beschwerdeführers auf Haftentlassung und dem Ober-, bzw. Bundesgerichtsurteil seien dann aber über ein Jahr vergangen. Dies stelle keine Überprüfung «in angemessener Frist» dar. Wie schon im Fall Derungs gegen die Schweiz stellt das Gericht fest, dass die Verzögerung nicht mit der besonderen Komplexität des Falles zu erklären sei. Stattdessen liege der Grund für die Verzögerung vor allem darin, dass die Beschwerde nicht unmittelbar bei einem Gericht, sondern zunächst bei einer Verwaltungsbehörde, die eben kein Gericht im Sinne der Konvention darstelle, eingereicht werden müsse.

Genugtuung und Entschädigung

Für den immateriellen Schaden, welchen I.L. erlitten hat, wurde die Schweiz zu einer Genugtuungszahlung von 32'500.00 Euro verpflichtet. Weiter verurteilte der EGMR die Schweiz zur Zahlung der Prozesskosten und Parteientschädigung im Umfang von 8'000.00 Euro. 

Urteilsanalyse

I.L. wurde ursprünglich zu 14 Monaten Freiheitsstrafe verurteilt. In einem normalen Strafvollzugsfall wäre er nach Zweidritteln der Strafe – also in weniger als einem Jahr wieder auf freiem Fuss gewesen. Stattdessen dauerte sein Freiheitsentzug ganze acht Jahre, wobei er einen grossen Teil in ungeeigneten und gesundheitsschädigenden Haftsettings inhaftiert war. Das verfassungsmässige Prinzip der Verhältnismässigkeit wurde im Fall von I.L. offensichtlich durch die unbefristete Massnahme völlig ausgehebelt. Das Strassburger Urteil wirft auch ein Licht auf den Umgang mit psychisch kranken Menschen im schweizerischen Justizvollzug in Bezug auf die beiden folgenden Punkte:

Erstens erinnert der Gerichtshof die Schweiz daran, dass die Unterbringungen psychisch kranker Personen in Einzelhaft so weit wie möglich zu vermeiden sind und nur als absolut letztes Mittel, für kurze Zeit und unter Beizug von medizinischem Fachpersonal angeordnet werden dürfen. Andernfalls ist eine unmenschliche Behandlung im Sinne der Europäischen Menschenrechtskonvention sehr wahrscheinlich. Bei der Frage der geeigneten Unterbringung kann sich die Schweiz gemäss Urteil nicht auf einen generellen Mangel an Therapieplätzen berufen. Unabhängig von organisatorischen oder finanziellen Problemen ist der Staat verpflichtet, seinen Straf- und Massnahmenvollzug so zu organisieren, dass die Würde der Gefangenen gewahrt bleibt. Der Bundesrat hat das Urteil zur Kenntnis genommen. Sieht die Verantwortung letztlich aber nicht bei sich, sondern bei den Kantonen (24.3139 Interpellation).

Zweitens stellt der EGMR klar, dass psychisch kranke Menschen nicht für ihr widerständiges Verhalten verantwortlich gemacht werden dürfen, wenn dieses Verhalten auf ein gesundheitsschädigendes Haftumfeld oder allgemein auf ihren Gesundheitszustand zurückzuführen ist und damit in der Verantwortung der Behörden liegt. Besonders relevant für die Schweiz ist in dieser Hinsicht die im Urteil erwähnte CPT-Empfehlung, Disziplinarmassnahmen für psychisch kranke Menschen in einer stationären Massnahme nach Art. 59 StGB gänzlich abzuschaffen (Ziff. 229). Dahinter steht die menschenrechtliche Verpflichtung, Gefangene in einer stationären Massnahme primär fürsorgebedürftige Patienten und nicht als «normale» Straftäter zu behandeln werden. Heute wird aber genau das gemacht, wie das Schweizerische Kompetenzzentrum für Menschenrechte in einer Untersuchung von 2020 festgestellt hat. Das SKMR betont darin, dass auch die bestehenden Massnahmenzentren und forensisch-psychiatrischen Abteilungen von Strafanstalten «selbst bei grosszügiger Auslegung nur bedingt als Institutionen bezeichnet werden, die der Strafvollzugslogik entzogen und faktisch dem Gesundheitswesen zuzurechnen sind».

Zuletzt verweist das Urteil des EGMR auch auf menschenrechtswidrige Verfahrensbestimmungen in den Schweizer Gesetzen. Die Gefangen haben aufgrund des verwaltungsinternen Beschwerdewegs keine Möglichkeit sich innert angemessener Frist bei einem Gericht über den Freiheitsentzug beschweren zu können. Nach den Fällen Fuchser und Derungs rügt der Gerichtshof die Schweiz im Fall von I.L. in dieser Hinsicht bereits zum dritten Mal und stellt dabei klar, dass die Verwaltungsbehörden kein Gericht im Sinne der Konvention darstellen. Will die Schweiz künftige Rügen aus Strassburg vermeiden, wäre die Einführung einer gerichtlichen Zuständigkeit für alle Entscheide im sachlichen Anwendungsbereich von Art. 5 Ziff. 4 EMRK zu prüfen.