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Klimaseniorinnen: Strassburg verurteilt die Schweiz

03.06.2024

Die Verurteilung der Schweiz durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte im Fall der Klimaseniorinnen ist historisch: Es ist das erste Mal, dass ein internationales Menschenrechtsgericht einen Staat wegen seiner Untätigkeit im Bereich des Klimaschutzes verurteilt hat. Dem Gericht zufolge reichen die Massnahmen der Schweiz zur Reduktion der Treibhausgasemissionen nicht aus, um die Grundrechte der Klägerinnen, also älterer Frauen, vor den Folgen der globalen Erwärmung zu schützen.

Am 9. April 2024 schloss der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) mit seinem Urteil den Fall der KlimaSeniorinnen nach einem mehr als achtjährigen Gerichtsverfahren mit einem Erfolg für die Klägerinnen ab. Der Verein hatte 2016 eine Klage beim beim Eidgenössischen Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UVEK) eingereicht, in der sie ungenügende Massnahmen zur Bekämpfung der globalen Erwärmung seitens der Schweizer Behörden anprangerte.

Nachdem ihre Klage von allen nationalen Instanzen abgewiesen worden war, reichten die KlimaSeniorinnen im Dezember 2020 eine Beschwerde beim EGMR ein. Dieser gab den Fall an die Grosse Kammer weiter. Diese urteilte schliesslich zu ihren Gunsten, indem sie feststellte, dass die Schweiz das in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) garantierte Recht auf Achtung des Privatlebens (Art. 8 EMRK) und auf Zugang zu einem Gericht (Art. 6 EMRK) verletzt hatte.

Die Strassburger Richter*innen betonten in ihrem Urteil, dass der Fall der KlimaSeniorinnen ein Novum darstellt: Der EGMR hat zwar bereits Urteile zu Umweltfragen gefällt, aber zum ersten Mal einen kausalen Zusammenhang zwischen den Auswirkungen des Klimawandels, die durch den Anstieg der Treibhausgasemissionen verursacht werden, und den Menschenrechten von Einzelpersonen hergestellt.

Erinnerung an die Rolle der Staaten angesichts des Klimanotstands

Das Gericht anerkennt den Klimanotstand und die damit verbundene Bedrohung der Menschenrechte anhand der Feststellung, dass „der anthropogene Klimawandel existiert und gegenwärtig und in Zukunft eine ernsthafte Bedrohung für die Durchsetzung der durch die Konvention garantierten Menschenrechte darstellt“ (Par. 436). Die Richter*innen verweisen insbesondere auf die alarmierenden Feststellungen in den Berichten des Zwischenstaatlichen Ausschusses für Klimaänderungen (IPCC), die die Auswirkungen der Treibhausgasemissionen auf die globale Erwärmung und die damit verbundenen weitreichenden Umweltfolgen belegen (Par. 103 ff.).

Das Gericht erinnert auch an die Verpflichtungen, die die Mitgliedstaaten im Rahmen des Pariser Abkommens oder des Rahmenübereinkommens der Vereinten Nationen über Klimaänderungen eingegangen sind, insbesondere in Bezug auf die prognostizierten Reduktionen der Treibhausgasemissionen (Par. 196). Die Staaten sind nämlich aufgrund ihrer positiven Verpflichtungen für die Umsetzung der Menschenrechte verantwortlich. Den Richter*innen zufolge kann sich ein Staat gemäss dem im Pariser Abkommen (Art. 2 Abs. 2) verankerten Grundsatz der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeiten der Staaten auf keinen Fall seiner Verantwortung entziehen, indem er die Verantwortung anderer Staaten hervorhebt (Abs. 442). In ihrer Klageschrift warfen die KlimaSeniorinnen der Schweiz vor, keine ausreichenden Vorkehrungen zu treffen, um das im verbindlichen Pariser Abkommen für 2030 festgelegte Ziel zu erreichen.

Der EGMR stellt fest, dass die Schweizer Gesetzgebung zu Treibhausgasemissionen in einigen Aspekten lückenhaft ist, insbesondere in Bezug auf die Schaffung eines Mittels zur Quantifizierung der geltenden nationalen Grenzwerte für Treibhausgasemissionen. Die Strassburger Richter*innen erklärten, dass sie «Schwierigkeiten haben, anzuerkennen, dass der beklagte Staat ohne jegliche interne Massnahme zur Quantifizierung seines verbleibenden Kohlenstoffbudgets seiner Regulierungsverpflichtung effektiv nachkommt» (Abs. 522). Obwohl die Ablehnung des CO2-Gesetzes durch das Schweizer Volk in einem Referendum im Juni 2021 tatsächlich zu einer Gesetzeslücke in Bezug auf die Regulierung von Treibhausgasemissionen geführt hat, ist das Gericht der Ansicht, dass die Einhaltung eines demokratischen Gesetzgebungsverfahrens keine Rechtfertigung für die Verletzung von Menschenrechten sein kann.

Eine neue Auslegung des Rechts auf Privatleben

In seinem Urteil stellt das Gericht fest, dass die Schweiz das Recht auf Privatleben (Art. 8 EMRK) verletzt hat: Da die Schweiz keinen ausreichenden gesetzlichen Rahmen zur Bekämpfung der Treibhausgasemissionen geschaffen hat, ist sie ihrer Verpflichtung nicht nachtgekommen, Massnahmen zur Gewährleistung eines wirksamen Schutzes der Grundrechte der Klägerinnen zu treffen. Die Richter*innen interpretieren Artikel 8 somit neu und erkennen «ein Recht auf wirksamen Schutz der/des Einzelnen vor den schwerwiegenden nachteiligen Auswirkungen des Klimawandels auf sein/ihr Leben, seine/ihre Gesundheit, sein/ihr Wohlergehen und seine/ihre Lebensqualität» an (Abs. 544).Die Verletzung des Rechts auf Leben (Art. 2 EMRK), die auch von den Beschwerdeführerinnen geltend gemacht wird, wurde hingegen nicht anerkannt. Dem Gericht zufolge ist es eher fraglich, ob die angeblichen Mängel der Schweizer Gesetzgebung auch potenziell tödliche Folgen gehabt haben könnten, die diesen Artikel zur Sprache bringen könnten.

Anerkennung als Opfer 

Das Gericht ist der Ansicht, dass die Vereinigung, die derzeit über 2000 Frauen im Alter von 64 Jahren und älter vertritt, den Status eines Opfers beanspruchen kann. Die Richter*innen anerkannten die Klägerinnen als besonders gefährdete Personen, ebenso bestimmte Bevölkerungsgruppen wie ältere Menschen, Neugeborene und Personen, die unter bestimmten medizinischen Behandlungen stehen, und kamen zu dem Schluss, dass die Mitglieder des Vereins KlimaSeniorinnen besonders stark von den Folgen der globalen Erwärmung betroffen sind und daher einen angemessenen Schutz benötigen. Das Gericht bejaht daher die Klagebefugnis des Vereins, da dieser nachgewiesen hat, dass er ein spezifisches Ziel verfolgt, d. h. die Verteidigung seiner Mitglieder gegen die mit der globalen Erwärmung verbundenen Bedrohung ihrer Grundrechte.

Das Gericht geht nicht davon aus, dass es sich bei der Aktion der KlimaSeniorinnen um eine rein politische Aktion handelt und stuft den Rechtsstreit nicht als «actio popularis» ein: Die Richter*innen stellen fest, dass aufgrund der teilweise kollektiven und generationenübergreifenden Natur der Klimakrise und der Schwierigkeiten, die solche Klagen mit sich bringen, kollektive Einheiten wie Vereinigungen eines der wenigen Mittel darstellen, die den Bürgerinnen und Bürgern zur Verfügung stehen, um ihre besonderen Interessen zu verteidigen (Abs. 489). Gemäss der von der Schweiz ratifizierten Aarhus-Konvention müssen die Behörden den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten gewährleisten. In ihrem Urteil sind die Richter*innen jedoch der Ansicht, dass die Anwendung der Regeln über die Klagebefugnis durch die innerstaatlichen Gerichte willkürlich und unvereinbar mit den von den Schweizer Behörden eingegangenen Verpflichtungen ist. Der EGMR stellt somit eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren (Art. 6 EMRK) fest, da die innerstaatlichen Gerichte ihrer Ansicht nach nicht überzeugend dargelegt haben, warum es keinen Anlass gab, die Begründetheit der von den KlimaSeniorinnen vorgebrachten Beschwerdepunkte zu prüfen, die unbestreitbaren wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Klimawandel zu berücksichtigen oder die Beschwerdepunkte der Vereinigung überhaupt ernst zu nehmen.

Der EGMR lehnte jedoch die individuellen Klagen von vier Beschwerdeführerinnen des Vereins ab und weigerte sich, sie als Opfer anzuerkennen. Der EGMR stellt fest, dass Einzelpersonen nur dann klageberechtigt sind, wenn sie «persönlich und direkt» von der Unfähigkeit des Staates, ihre Rechte zu schützen, betroffen sind (Abs. 487). In diesem Fall ist das Gericht der Ansicht, dass für jede Klägerin nachgewiesen werden muss, dass die negativen Folgen, die jede einzelne von ihnen erlitten hat, ein besonderes Ausmass und eine besondere Schwere aufweisen und dass jede einzelne von ihnen eine individuelle Verwundbarkeit aufweist, die ein zwingendes Bedürfnis nach individuellem Schutz hervorrufen können. Der Gerichtshof räumt zwar ein, dass Hitzewellen Auswirkungen auf die Lebensqualität der Beschwerdeführerinnen haben, stellt jedoch fest, dass «die verfügbaren Unterlagen nicht belegen, dass die Betroffenen den negativen Auswirkungen des Klimawandels ausgesetzt waren oder dass sie zu irgendeinem Zeitpunkt in der Zukunft Gefahr laufen, diesen Auswirkungen in einem Ausmaß ausgesetzt zu sein, das ein zwingendes Bedürfnis nach individuellem Schutz entstehen lässt» (Abs. 533).

Folgen für die Schweiz

Das Urteil hat konkrete Auswirkungen auf die Schweiz – Es müssen nationale Massnahmen zur Reduktion von Co2 ergriffen werden, die in einem verbindlichen nationalen Rechtsrahmen festgelegt werden, Reduktionsziele und Zeitpläne (Abs. 549) enthalten, die tatsächlich umgesetzt werden (Abs. 538) und Verfahrensgarantien vorsehen, die es der Öffentlichkeit ermöglichen, die Reduktionsziele zu überprüfen (Abs. 554 ff.). Das Urteil legt also nicht fest, wie genau die Schweiz handeln soll, diese Entscheidungsbefugnis wird dem Staat überlassen - in diesem Fall nicht nur dem Bund, sondern auch den Kantonen und Gemeinden, deren jeweilige Zuständigkeiten in der Verfassung festgelegt sind.

Zwar ist dieses Urteil nur für die Schweiz bindend, es gilt jedoch als Präzedenzfall für die innerstaatlichen Gerichte der anderen 46 Mitgliedstaaten des Europarats. Das Gericht ist der Ansicht, dass die Staaten bei der Festlegung ihrer Klimaziele zwar über einen «geringen Spielraum» verfügen, ihr Ermessensspielraum bei der Wahl der Mittel jedoch «weitreichend» ist (Par. 543).

Diese neue Rechtsprechung verankert einen Schutz des Einzelnen vor der Untätigkeit der Staaten im Klimaschutz, auch wenn das Recht auf eine gesunde Umwelt noch immer nicht justiziabel ist. Zwar sind es die Unternehmen, die grösstenteils für die Treibhausgasemissionen verantwortlich sind, doch es obliegt den Staaten aufgrund ihrer Rolle als Garanten der Menschenrechte, die privaten Akteure zu regulieren. Die Schweiz muss einen stärkeren Rahmen für die Einhaltung der Menschenrechte und des Umweltschutzes schaffen, da die Regulierung der Unternehmenstätigkeit in diesem Bereich derzeit unzureichend ist. Auch wenn das Urteil einen wichtigen Meilenstein im Kampf gegen die globale Erwärmung darstellt, muss die Umsetzung aufmerksam verfolgt werden.