27.01.2011
Urteil vom 20. Januar 2011 (Beschwerde Nr. 31322/07)
Keine Verletzung von Art. 8 EMRK (Verweigerung von Suizidhilfe verstösst nicht gegen das Recht auf Achtung des Privatlebens)
- Urteil
auf der Website des Bundesgerichts (französisch)
Die Schweiz muss suizidwilligen Personen keinen rezeptfreien Zugang zum tödlich wirkenden Mittel Natrium-Pentobarbital ermöglichen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat die Beschwerde eines psychisch kranken Mannes abgewiesen.
Der manisch-depressive 58-jährige Mann hatte nach mehreren erfolglosen Selbstmordversuchen 2004 die Sterbehilfeorganisation «Dignitas» um eine Freitodbegleitung ersucht. Kein Arzt wollte ihm jedoch ein Rezept für die benötigten 15 Gramm des verschreibungspflichtigen Mittels Natrium-Pentobarbital ausstellen.
Keine Verletzung des Privatlebens
Er gelangte an die Behörden des Kantons Zürich und des Bundes und ersuchte darum, das tödlich wirkende Betäubungsmittel über «Dignitas» ohne Vorlage einer ärztlichen Verschreibung beziehen zu können. Sein Anliegen wurde ihm verwehrt, was vom Bundesgericht 2006 in einem Grundsatzurteil bestätigt wurde. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ist auf seine Beschwerde hin nun zum Schluss gekommen, dass die Schweiz mit ihrer Weigerung zur rezeptfreien Abgabe des Mittels seinen Anspruch auf Achtung des Privat- und Familienlebens nicht verletzt hat.
Gemäss den Richtern in Strassburg umfasst das Recht auf Achtung des Privatlebens zwar durchaus den Aspekt, über Art und Zeitpunkt des eigenen Todes entscheiden zu dürfen. Das Erfordernis einer ärztlichen Verschreibung für den Bezug eines tödlich wirkenden Mittels sei indessen eine zulässige und notwendige Einschränkung.
Schutz der Betroffenen
Der Gerichtshof teilt damit die Ansicht der Schweiz, wonach das verlangte Rezept nach vorgängiger ärztlicher Begutachtung einen legitimen Schutz suizidwilliger Personen vor einem vorschnellen Entscheid darstellt. Dies gelte umso mehr, als die Schweiz bereits unter relativ einfachen Voraussetzungen Suizidhilfe erlaube. Die Beschränkung des Zugangs zu Natrium-Pentobarbital diene dem Schutz der Gesundheit, der öffentlichen Sicherheit und nicht zuletzt der Verhinderung von Straftaten.
(Quelle der Zusammenfassung: sda)
Kommentar von humanrights.ch:
Die Auswirkung des Entscheids des EGMR vom Januar 2011 dürfte auf die Praxis der Sterbehilfe in der Schweiz keine grosse Auswirkung haben. Er bekräftigt lediglich, dass es keinen Rechtsanspruch auf Suizid gibt. Der Staat hat per Verfassungsauftrag in erster Linie die Pflicht, das Leben seiner Bürger und Bürgerinnen zu schützen. Nur unter bestimmten, klar begrenzten Bedingungen darf die Pflicht zum Lebensschutz ausnahmsweise eingeschränkt werden. Zum Recht auf Leben gibt es keine Umkehrung. Das Recht schützt einen Mensch lediglich davor, dass er – unrechtmässig – an der Umsetzung seiner Suizidentscheidung gehindert wird. Das heisst, es gibt ein Recht, dass die freie Entscheidung der urteilsfähigen Person (auch zum Suizid) schützt, aber es gibt kein Recht auf Suizid.
Für Organisationen und Personen, welche sich in den letzten Jahren eingehender mit dem Thema Sterbehilfe befasst haben, ist der EGMR-Entscheid eine Bestätigung. So ist etwa der Schweizerische Evangelische Kirchenbund (SEK) längst davon ausgegangen, dass es ein solches Recht auf Suizid nicht gibt. Ein in seiner Bedeutung weitreichenderes Urteil hat dagegen Ende 2010 ein Neuenburger Gericht gefällt. Es hat eine pensionierte Kantonsärztin und Freitodbegleiterin freigesprochen, welche einer Suizidwilligen, die selber dazu körperlich nicht mehr fähig war, auf deren ausdrücklichen Wunsch das Sterbemedikament aktiv einfliessen liess. Zur Beendigung des grossen Leidens habe die Freitodbegleiterin keine andere Möglichkeit gehabt, entschieden die Richter und befanden damit, dass in «Notsituationen» aktive Sterbehilfe nach schweizerischem Recht zulässig sei.
Quellen
- Urteil des Europ. Gerichtshofs für Menschenrechte (pdf, 21 S. in Französisch)
- Leben dürfen - Sterben können
Dossier zur Sterbehilfe vom SEK - Sterbehilfe in der Schweiz am Wendepunkt
Artikel von Swissinfo vom 28. Dezember 2010