16.07.2020
2014 erhängte sich ein Mann in Polizeigewahrsam, nachdem er trotz suizidaler Äusserungen 40 Minuten ohne Überwachung in einer Einzelzelle alleine gelassen worden war. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verurteilt die Schweiz nun gleich in zweifacher Hinsicht: wegen einer Verletzung des Rechts auf Leben nach Artikel 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention und wegen der Weigerung, den Fall unabhängig zu untersuchen.
In seinem Entscheid vom 30. Juni 2020 kommt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) zum Schluss, dass die Schweiz das Recht auf Leben nach Artikel 2 EMRK verletzt hat. Obwohl die beteiligten Polizisten auf dem Polizei-Stützpunkt Urdorf ZH um die Verletzlichkeit eines 40-jährigen Mannes hätten wissen müssen, haben sie es unterlassen, effektive Massnahmen zum Schutz seines Lebens zu ergreifen. Weil sich die Staatsanwaltschaft anschliessend weigerte, den Fall zu untersuchen und dies vom Bundesgericht gestützt wurde, hat die Schweiz das Recht auf Leben auch in prozeduraler Hinsicht verletzt.
Einzelhaft bei verletzlicher Person
Am Sonntag, 28. September 2014, gegen 21.00 Uhr, verursacht S.F. in der Umgebung von Zürich einen Verkehrsunfall. Er steht dabei unter Einfluss von Alkohol und Medikamenten. Weder erleidet er selber schwere Verletzungen, noch schädigt er Dritte. Am Unfallort äussert S.F. gemäss Polizeiprotokoll gegenüber seiner herbeigeilten Mutter:
D.F.: «Mama, sei nicht traurig, wenn ich hier sterbe.»
S.F.: «Warum sollte Dir etwas passieren? Du bist nur betrunken und bist unverletzt durch den Unfall.»
D.F. «Ich will nur nicht, dass Du traurig bist, wenn mir etwas passiert. Die Welt ist brutal, das weisst du.»
Nachdem man S.F. ins Spital zur Blutuntersuchung bringt, teilt er dort dem zuständigen Arzt seine Absicht mit, sich verletzen zu wollen. Zudem erklärt er ihm, dass er vor dem Unfall Antidepressiva zu sich genommen habe. Anstatt ihn wie geplant in Freiheit zu entlassen, entscheiden die Polizist*innen daraufhin, S.F. für weitere ärztliche Abklärungen und im Hinblick auf eine fürsorgerische Unterbringung auf die Polizeiwache mitzunehmen.
Um die Zeit bis zum Eintreffen des Arztes zu überbrücken, bringen die Polizist*innen S.F. gegen seinen heftigen Widerstand in eine Einzelzelle ins Untergeschoss. S.F. äussert hierbei, dass er «zuhause alle Medikamente schlucken werde» und «am nächsten Tag nicht mehr da sein werde». Um 00:05 schliessen die Polizist*innen die Zellentüre von S.F. und entfernen sich hinauf in den Arbeitsbereich.
Um 00.25 begibt sich der diensthabende Polizist zur Kontrolle kurz ins Untergeschoss, wo er S.F. in seiner Zelle sprechen hört. Zehn Minuten später trifft der herbeigerufene Arzt auf der Polizeiwache ein. Er beschliesst, mit der Visite bei S.F. zuzuwarten, bis polizeiliche Verstärkung eintrifft. Um 01.05 Uhr – also 40 Minuten nach der letzten Kontrolle - begibt sich der Arzt mit polizeilicher Begleitung zur Zelle. Dort findet er S.F. tot auf –mit seinen Jeans aufgehängt am Lüftungsgitter.
Im Obduktionsbericht nennt das Institut für Rechtsmedizin in Zürich (IRMZ) folgende Faktoren, welche Suizide in Haft begünstigen: Unterbringung in Einzelzellen, aktuelle Suizidgedanken, frühere Suizidversuche und Alkoholprobleme. Im Fall von S.F. seien mindestens zwei dieser Risikofaktoren vorhanden gewesen. Ausserdem weist das Institut darauf hin, dass es besser gewesen wäre, einen Notfallpsychiater statt nur einen Notarzt zu rufen.
Drei Monate nach dem Vorfall beantragt die Zürcher Staatsanwaltschaft beim Obergericht, die Einleitung eines Strafverfahrens gegen die beteiligten Polizeibeamt*innen aufgrund von fehlenden Hinweisen auf ein Fehlverhalten zu verweigern. Das Obergericht folgt diesem Antrag, und das Bundesgericht bestätigt diesen Entscheid am 14. Oktober 2015. Daraufhin reicht die Mutter von S.F. Beschwerde in Strassburg ein.
EGMR rügt Schweiz in doppelter Hinsicht
Der EGMR erinnert daran, dass den Staat im Hinblick auf Gefangene eine besondere Schutzpflicht treffe, da diese besonders verletzlich seien. Der Gerichtshof hält fest, dass die Polizeibeamt*innen aufgrund des Verlaufs des Abends und der verschiedentlich geäusserten Suizidabsichten von S.F. hätten wissen müssen, dass sich dieser in einer besonders verletzlichen Situation befand und dass eine eindeutige und unmittelbare Gefahr für sein Leben bestanden hatte. Folglich wäre eine besonders enge Überwachung angebracht gewesen. Indem man ihn stattdessen 40 Minuten lang in einer unbeaufsichtigten Zelle allein gelassen habe, hätten die Beamten sein Recht auf Leben missachtet.
In prozeduraler Hinsicht erinnert der EGMR daran, dass Artikel 2 EMRK die Vertragsstaaten dazu verpflichte, Todesfälle wirksam zu untersuchen. Hierbei sei es unerheblich, ob die Beamten durch Handlungen oder Unterlassungen am fraglichen Todesfall beteiligt waren. Die für die Untersuchung verantwortlichen Personen müssen zudem ausreichend unabhängig sein (Par. 123). Der Entscheid, bei S.F. keine Strafuntersuchung gegen die beteiligen Polizeibeamten einzuleiten, war gemäss EGMR willkürlich und bundesrechtswidrig. Die Genehmigung für eine Strafuntersuchung (Par. 148) dürfe auch gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung nur unter der Voraussetzung verweigert werden, dass es keine «minimalen Beweise» für ein strafbares Verhalten der beteiligten Akteur*innen gebe. Die Voraussetzungen für eine Ablehnung der Untersuchung sind ausserdem besonders hoch, wenn eine Person gestorben ist (vgl. BGE 1C_633/2013, Ziff. 3.4).
Ein Urteil mit Signalwirkung
Die unabhängige Untersuchung von potenziell staatlichem Fehlverhalten ist zentral für die Glaubwürdigkeit eines Rechtsstaates. Wenn hingegen der Anschein entsteht, dass sich die Justiz und die Polizei verbünden und kriminelles Verhalten von Polizeibeamt*innen bewusst vertuscht wird, untergräbt dies das Fundament der Justiz.
Im vorliegenden Fall entschieden sich die strafuntersuchenden Behörden und Gerichte trotz eindeutiger Indizien gegen eine Untersuchung eines Todesfalles, den man offensichtlich hätte verhindern können. Wohlgemerkt: Es ging hierbei einzig um die Frage, ob überhaupt eine Untersuchung stattfinden soll und nicht etwa schon darum, ob die Polizist*innen tatsächlich rechtswidrig gehandelt haben. Damit erweckt die Justiz den Eindruck, die Polizeibeamt*innen um jeden Preis schützen und staatliche Schuld gar vertuschen zu wollen.
Hierbei handelt es sich keineswegs um einen Einzelfall. Polizist*innen werden kaum je für ihre Handlungen verurteilt. Immer wieder drohen entsprechende Untersuchungen im Sand zu verlaufen. So etwa im Fall von Wilson A., wo die zuständige Staatsanwältin zweimal versucht hatte, das Verfahren einzustellen. Auch im Fall von Herrn Ali versuchte der Staatsanwalt, das Verfahren einzustellen, obwohl ausgebildete, trainierte Polizisten dreizehn Mal auf einen psychisch verwirrten Mann geschossen hatten.
Das Urteil des EGMR hat für die Schweiz eine Signalwirkung. Die Politik ist dringend gefordert, Massnahmen zu ergreifen, um eine effiziente und faire Untersuchung von polizeilichem Fehlverhalten zu gewährleisten. Es darf nicht länger sein, dass einzelne Betroffene und ihre Angehörigen ihre finanzielle Sicherheit und psychische Gesundheit wegen langjährigen juristischen Grabenkämpfen riskieren müssen, um überhaupt eine unabhängige Untersuchung zu erwirken.