10.01.2017
(von Schutzfaktor M übernommen)
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) stützt in seinem heutigen Entscheid das Bundesgericht: Die Verpflichtung zweier muslimischer Mädchen zum Schwimmunterricht sei zwar ein Eingriff in die Religionsfreiheit. Dieser Eingriff sei jedoch verhältnismässig, weil die Schule unterstützende Massnahmen angeboten hätte, zum Beispiel das Tragen eines Burkinis. In Fragen betreffend des Verhältnisses zwischen Staat und Religion verfügten die Mitgliedsstaaten über einen grossen Handlungsspielraum, so der Gerichtshof. Er folgt der Argumentation der Schweiz, das Interesse der Kinder an der Integration der gemeinsamen Aktivitäten der Schule sei höher zu gewichten als der Wunsch der Eltern nach einem religiös begründeten Dispens.
Die Beschwerdeführer sind schweizerisch-türkische Doppelbürger, wohnhaft in Basel. Sie wollten 2008 ihre neun- und siebenjährigen Töchter vom Schwimmunterricht dispensieren. Das baselstädtische Gesetz ermöglichte eine Dispensation vom Schwimmunterricht erst ab der Geschlechtsreife. Dennoch weigerten sich die Beschwerdeführer, die sich zu einem strengen muslimischen Glauben bekennen, die zwei Töchter in den gemischtgeschlechtlichen obligatorischen Schwimmunterricht zu schicken, woraufhin sie vom Erziehungsdepartement des Kantons Basel-Stadt gebüsst wurden. Sie wehrten sich bis zum Bundesgericht gegen diesen Entscheid. Diese lehnte die Beschwerde 2012 ab und bestätigte damit seinen Leitentscheid aus dem Jahre 2008, in dem es seine vorherige Praxis mit Bezug auf die Religionsfreiheit und obligatorischen Schwimmunterricht änderte und den grundsätzlichen Vorrang der schulischen Pflichten vor der Beachtung religiöser Gebote einzelner Bevölkerungsteile betonte.
Die Familie klagte daraufhin beim EGMR: Die Busse für die Verletzung ihrer Elternpflicht, ihre Kinder nicht an den gemischtgeschlechtlichen Schwimmunterricht zu schicken, basiere nicht auf einer ausreichenden gesetzlichen Grundlage, verfolge kein legitimes Ziel und sei nicht verhältnismässig. Aus diesem Grund habe die Schweiz das Recht auf Religionsfreiheit verletzt (Art. 9 EMRK).
Der EGMR teilt die Ansicht des schweizerischen Bundesgerichts, dass die Verpflichtung, ihre Kinder zum gemischtgeschlechtlichen Schwimmunterricht zu schicken, zwar einen Eingriff in die Religionsfreiheit von Art. 9 EMRK darstellt. Allerdings stützt der EGRM vollumfänglich die Argumentation der Schweiz, dass die Einschränkung der Religionsfreiheit ein legitimes Ziel verfolgte und verhältnismässig war. Dabei betont der EGRM, dass in Fragen betreffend des Verhältnisses zwischen Staat und Religion die Mitgliedsstaaten über einen grossen Handlungsspielraum verfügen. Gerade im Bereich der schulischen Ausbildung gebe es keine allgemeine europäische Regelung, und die einzelnen Mitgliedsstaaten regeln diese Fragen differenziert.
Der EGMR kommt nach einer sorgfältigen und ausführlichen Analyse zum Schluss, dass das Interesse der Kinder an einer kompletten schulischen Ausbildung, die eine erfolgreiche soziale Integration ermögliche, gegenüber dem Interesse der Eltern, ihre Kinder aus religiösen Gründen vom Schwimmunterricht zu dispensieren, überwiegt. Dabei stützt der EGMR vollumfänglich die Argumentation der schweizerischen Behörden. Gemäss Menschenrechtsexpertin Doris Angst, Vorstandsmitglied von Schutzfaktor M, ist dieses Urteil zu begrüssen, da es die integrative Politik der Schweiz, welche hier der Schule besondere Aufgaben zuordnet, aber auch den Eltern mit flankierenden Massnahmen entgegenkommt, als ausgewogen würdigt. Bei den kantonalen Dispensentscheiden sei weiterhin bedeutsam, dass alle Gesuche – ungeachtet welcher religiösen Gruppierung oder Religionsgemeinschaft – gleich behandelt werden.
- Affaire OSMANOĞLU ET KOCABAŞ c. SUISSE
EGMR-Urteil vom 10. Januar 2017 auf französisch (Urteil-Nr. 29086/12) - Zur obligatorischen Teilnahme von muslimischen Schülerinnen am gemischten Schwimmunterricht
Beitrag von Prof. Sarah Progin-Theuerkauf, in sui-generis, 2017