11.02.2021
Das Recht auf Privatleben beinhaltet den Anspruch, die eigene Notlage zum Ausdruck zu bringen und andere um Hilfe zu bitten. Ein absolutes Bettelverbot – unabhängig von der individuellen Situation der Armutsbetroffenen – ist unverhältnismässig und verletzt die Europäische Menschenrechtskonvention.
Gemäss einem Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) vom 19. Januar 2021 hat die Schweiz durch die Bestrafung einer bettelnden Roma deren Recht auf Privatleben nach Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verletzt. Die Auferlegung einer Busse von 500 Schweizer Franken – beziehungsweise die Ersatzfreiheitstrafe von fünf Tagen wegen Nichtzahlung – beurteilt der Gerichtshof als unverhältnismässig.
Die Beschwerdeführerin, eine Roma aus Rumänien, verbrachte ab 2011 einige Zeit in Genf. Weil sie keine Arbeit fand, bat sie Passant*innen mehrmals um Almosen. Zwischen Juli 2011 und Januar 2013 wurden ihr mehrfach Bussen von insgesamt mehreren hundert Franken auferlegt. Das Betteln auf den öffentlichen Strassen war in Genf gemäss Artikel 11A des kantonalen Strafgesetzbuches verboten.
Im Januar 2014 verurteilte das Genfer Polizeigericht die Betroffene zur Zahlung einer Busse von 500 Schweizer Franken. Weil sie den Betrag nicht bezahlen konnte, leistete sie vom 24. bis 28. März 2015 eine Ersatzfreiheitsstrafe. Das Geld, welches sie beim Betteln eingenommen hatte, wurde von den Behörden eingezogen. Ihre Beschwerde gegen das Urteil wurde von der zweiten kantonalen Instanz und vom Bundesgericht abgewiesen. Schliesslich gelangte die Betroffene an den Europäischen Gerichthof für Menschenrechte. Sie rügte eine Verletzung des Rechts auf Privatleben (Art. 8 EMRK), des Rechts auf freie Meinungsäusserung (Art. 10 EMRK) und des Diskriminierungsverbotes (Art. 14 EMRK) der Europäischen Menschenrechtskonvention.
Das Recht, andere um Hilfe zu bitten
Gemäss den Ausführungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte handelt es sich beim Privatleben um einen weiten Begriff, welcher nicht abschliessend definiert werden kann. So erfasse er Aspekte der physischen wie auch der sozialen Identität eines Individuums: Das Recht auf Privatsphäre, das Recht auf persönliche Entwicklung und das Recht, Beziehungen zu anderen Menschen und der Aussenwelt aufzubauen und diese zu pflegen. Damit gibt es einen Bereich der Interaktion zwischen dem oder der Einzelnen und anderen Menschen, der selbst in einem öffentlichen Kontext unter den Bereich des «Privatlebens» fallen kann.
Dem Geiste der Europäischen Menschenrechtskonvention liegt das Prinzip der Menschenwürde zugrunde. Es hat deshalb auch für das Recht auf Privatsphäre eine Bedeutung. Wenn eine Person nicht über ausreichende Mittel zur Bestreitung ihres Lebensunterhaltes verfügt, ist ihre Menschenwürde ernsthaft beeinträchtig. Durch das Betteln nimmt sie einen bestimmten Lebensstil an, um eine unmenschliche und prekäre Situation zu überwinden. Im konkreten Fall ist die Beschwerdeführerin extrem arm, Analphabetin und arbeitslos. Sie erhält keine Sozialhilfe und wird auch nicht von einer Drittperson unterstützt. Durch das Betteln konnte sie ihre Notlage und Armutssituation zumindest ein bisschen lindern.
Indem die Genfer Behörden das Betteln generell verboten und gegen die Beschwerdeführerin eine Geldstrafe – respektive einen Freiheitsentzug von 5 Tagen – verhängten, sei sie daran gehindert worden mit anderen Personen Kontakt aufzunehmen, um Hilfe zu erhalten und ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen.
Der Gerichtshof erinnert schliesslich daran, dass das Betteln gemäss Bundesgericht Teil des verfassungsmässigen Rechts auf persönliche Freiheit (Art. 10 Abs. 2 BV) ist. Der Anwendungsbereich dieser Bestimmung sei zwar nicht mit dem Recht auf Privatleben der Europäischen Menschenrechtskonvention identisch, ihm aber dennoch sehr ähnlich. Das Recht, andere um Hilfe zu bitten, ist damit als Bestandteil des Kerngehalts von Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention zu verstehen und auf die Beschwerde der Betroffenen anwendbar.
Ermessensspielraum überschritten
Ein Eingriff in die Ausübung des Rechts auf Achtung des Privatlebens ist nur dann gerechtfertigt, wenn er «gesetzlich vorgesehen» und in einer «demokratischen Gesellschaft» zur Erreichung legitimer Ziele (i.S.v. Art. 8 Abs. 2 EMRK) notwendig ist.
Gemäss dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte lag mit Artikel 11A des Genfer Strafgesetzbuches eine Rechtsgrundlage für den Eingriff vor. Damit dieser in einer demokratischen Gesellschaft erforderlich ist, muss er in einem angemessenen Verhältnis zum verfolgten Ziel stehen. Der Ermessensspielraum eines Staates ist in diesem Zusammenhang jedoch begrenzt, wenn ein besonders wichtiger Aspekt der Existenz oder der Identität einer Person auf dem Spiel steht. Um die schwerwiegenden Sanktionen gegenüber der Beschwerdeführerin rechtfertigen zu können, hätte die Schweiz auch schwerwiegende Gründe des öffentlichen Interesses vorbringen müssen.
Die von den Behörden vorgebrachten Ziele – Die Bekämpfung der organisierten Kriminalität sowie den Schutz der Rechte von Passant*innen, Anwohnenden und Geschäftsinhabenden – lässt der Gerichtshof in Anbetracht der Schutzbedürftigkeit der Beschwerdeführerin nicht gelten. Die Wirksamkeit der Bekämpfung von Bettelnetzwerken anhand der Kriminalisierung der Opfer sei zu bezweifeln. Zudem habe der UNO-Sonderberichterstatter zu extremer Armut das Motiv, Armut in einer Stadt weniger sichtbar zu machen um Investitionen anzuziehen, aus menschenrechtlicher Sicht als illegitim bezeichnet. Die von den Behörden genannte Ziele stünden damit in keinem Verhältnis zur harten Bestrafung der Beschwerdeführerin, welche über keine anderen Mittel verfügte und für ihr Überleben betteln musste. Der Eingriff verletze ihre Menschenwürde und die Schweiz habe den ihr zustehenden Ermessensspielraum im vorliegenden Fall überschritten.
Schliesslich wären die Schweizer Gerichte, auch wenn ein entsprechender Ermessensspielraum vorgelegen hätte, in der Pflicht gestanden, die konkrete Situation der Beschwerdeführerin gründlich zu prüfen. Gemäss des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte lässt das absolute Bettelverbot jedoch eine Abwägung der betroffenen Interessen von vornherein gar nicht zu und bestraft das Betteln unabhängig davon, wer die ausgeübte Tätigkeit ausübt, wie verletzlich diese Person ist, ob sie zu einem kriminellen Netzwerk gehört oder nicht, um welche Art des Bettelns es sich handelt und wo diese ausgeübt wird.
Ein Blick über die Grenzen
Das Bundesgericht vertritt die Meinung, dass eine weniger restriktive Gesetzgebung als ein absolutes Bettelverbot auch nicht dieselbe Wirkung erzielen kann. Dem setzt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entgegen, dass eine Mehrheit der Mitgliedsstaaten des Europarates nuanciertere Einschränkungen der Bettelei vorsieht. Während neun Mitgliedstaaten des Europarates das Betteln weder auf nationaler noch auf lokaler Ebene verbieten, haben sechs Länder nur aggressive und aufdringliche Formen des Bettelns verboten. Sieben weitere Staaten schränken den Geltungsbereich ihrer Bettelverbote anderweitig ein. In elf Ländern, wo lediglich lokale Bettelverbote bestehen – wie in der Schweiz –, sind diese im Allgemeinen auf aggressive und aufdringliche Formen beschränkt. In weiteren fünf Staaten sind die Bettelverbote weniger differenziert. Es besteht demnach zwar kein europäischer Konsens über Bettelverbote, jedoch bildet ein absolutes Verbot in Form einer Strafvorschrift, wie es in bestimmten Schweizer Kantonen existiert, die Ausnahme.
Die Richter*innen aus Strassburg kommen zum Schluss, dass der Eingriff in das Recht auf Privatsphäre der Beschwereführerin nicht gerechtfertigt werden kann und die Schweiz Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention verletzt hat. Er verzichtet aus diesem Grund auf die Prüfung des Diskriminierungsverbotes und des Rechts auf freie Meinungsäusserung.
Kriminalisierung der Opfer
Das einstimmige Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte ist für den Schutz von Minderheiten in der Schweiz und ganz Europa von grosser Bedeutung. Es korrigiert die besorgniserregende Position des Bundesgerichtes, wonach Betteln zwar ein Grundrecht ist, es aber trotzdem verboten werden kann. Dass die Anwesenheit von Bettelnden stört, darf nicht ausreichen, um ihre Menschenrechte einzuschränken. Zumal sie ohnehin zu den Schwächsten der Gesellschaft gehören. Das Urteil aus Strassburg hat Signalwirkung: Absolute Bettelverbote auf kantonaler und kommunaler Eben haben künftig einen schweren Stand. Die Urteile der Europäischen Gerichtshofes für Menschenrecht sind verbindlich, wodurch die Schweizer Kantone nun verpflichtet sind, undifferenzierte Bettelverbote aufzuheben und sie so anzupassen, das sie eine Einzelfallprüfung zulassen und mit der Europäischen Menschenrechtskonvention kompatibel sind.
Gemäss Maya Hertig, Vizepräsidentin der Eidgenössischen Kommission für Rassismus (EKR) wäre es sinnvoll nicht nur die Sanktionen an sich, sondern auch ihren strafrechtlichen Charakter zu überdenken. Absolute Bettelverbot würden grundsätzlich harmloses Verhalten kriminalisieren. Gemäss Hertig verstärken Bettelverbote zudem die Diskriminierung und Stigmatisierung von Minderheiten: Die Betroffenen kommen ins Gefängnis und werden von der Gesellschaft als kriminelle Bevölkerungsgruppe wahrgenommen.
In diesem Zusammenhang hat auch die Expertengruppe des Europarates gegen Menschenhandel GRETA die Schweiz Ende 2019 in einem Bericht daran erinnert. dass die Kriminalisierung des Bettelns insbesondere die Opfer von Zwangsbettelei in eine Situation großer Verletzlichkeit versetze. Sie forderte die Schweiz dazu auf, Opfer von Menschenhandel nicht für die Teilnahme an rechtswidrigem Handeln zu bestrafen, wenn sie dazu gezwungen würden.
In Anbetracht des ergangenen Urteils hat die Genfer Staatsanwaltschaft rasch reagiert und das Bettelverbot bis zu einem Entscheid der politischen Behörden ausser Kraft gesetzt. Auch in Basel-Stadt zeigt das Urteil Wirkung: Der Grosse Rat überwies vergangenen Oktober eine Motion an die Regierung, anhand welcher er die Wiedereinführung eines absoluten Bettelverbotes forderte. Nun wurde die ausgearbeitete Vorlage von der Regieung zurückgezogen und das Basler Justiz- und Sicherheitsdepartement will das Urteil aus Strassburg zuerst eingehend prüfen. Unklar ist, wann und ob der Kanton Waadt, welcher ebenfalls über ein absolutes Bettelverbot verfügt, auf die Rüge des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte reagiert.