21.11.2023
Vier vorläufig aufgenommene Geflüchtete gelangten unabhängig voneinander an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), weil die Schweizer Behörden und Gerichte ihre Gesuche um Familiennachzug abgelehnt hatte. Der EGMR hiess nun die Beschwerden von drei Personen gut.
Die Praxis der Schweiz beim Familiennachzug von vorläufig aufgenommenen Flüchtlingen ist streng – zu streng, wie nun der EGMR entschieden hat. Er fasste vier Beschwerdefälle, die unabhängig voneinander beim Gericht anhängig gemacht wurden, zusammen und urteilte darüber in einem einzigen Urteil. Dabei hiessen die Richter*innen drei der vier Beschwerden gut, weil die Schweiz die individuelle Situation der betroffenen Personen ungenügend berücksichtigt und die Gesuche wegen Sozialhilfebezug abgelehnt hatte. Das Urteil verlangt nun eine differenzierte Betrachtung: Zwar wird im Urteil zunächst, wie gewohnt, der weiten Ermessensspielraum («margin of appreciation») der EMRK-Mitgliedstaaten gerade im ausländerrechtlichen Kontext betont. Allerdings sei dennoch immer die individuelle Situation antragstellender Personen zu berücksichtigen und zu prüfen. Bei Fragen der Familienvereinigung müssen die Mitgliedstaaten eine sorgfältige Abwägung zwischen zur Debatte stehenden öffentlichen und privaten Interessen vorgenommen werden, gerade dann, wenn das Recht auf Familie von anerkannten Flüchtlingen betroffen ist. Vorliegend bejahte der EGMR eine Verletzung dieser Pflicht, weil die individuellen Umstände – eine gesundheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit, Betreuungspflichten sowie ein ungenügendes Einkommen trotz Vollzeit-Arbeitstätigkeit (working-poor-Situation) – ungenügend berücksichtigt worden sind.
Einschränkung des Familiennachzugs wegen vorläufiger Aufnahme
Die vier Beschwerden wurden von Personen aus Eritrea und Tibet erhoben, welche zwischen 2008 und 2012 in die Schweiz eingereist sind. Sie wurden hier als Flüchtlinge anerkannt, erhielten jedoch wegen sogenannter subjektiver Nachfluchtgründe kein Asyl, sondern eine vorläufige Aufnahme (F-Bewilligung). Zur Erklärung: Nach Schweizer Asylgesetzgebung liegt ein subjektiver Nachfluchtgrund dann vor, wenn die Angst vor Verfolgung, welche zur Anerkennung als Flüchtling führt, nach der Ausreise aus dem Heimatstaat entstanden ist. Dies ist etwa dann der Fall, wenn ein Land (wie beispielsweise Eritrea) die unerlaubte Ausreise besonders streng bestraft, oder wenn sich eine Person nach der Flucht stark oppositionspolitisch engagiert und sie deshalb im Falle einer Rückkehr in den Heimatstaat verfolgt würde. Solche Personen werden im internationalen Recht auch als «réfugie(e)s sur place» bezeichnet.
In der Schweiz sind die Rechte von solchen vorläufig aufgenommenen Flüchtlingen beim Familiennachzug eingeschränkt: Einerseits können sie gemäss dem Ausländer- und Integrationsgesetz (kurz AIG) erst nach drei Jahren ein Familiennachzugsgesuch stellen (wobei diese Frist nach einem weiteren Urteil des EGMR durch das Bundesgericht als unzulässig bezeichnet und verkürzt wurde) und müssen andererseits weitere Voraussetzungen erfüllen, welche von Flüchtlingen mit Asyl nicht verlangt werden. Unter anderem verlangt Art. 85 Abs. 7 lit. c AIG, dass die Familie nach erfolgtem Nachzug in die Schweiz keine Sozialhilfe beziehen darf.
Schweizerische Praxis zum Recht auf Familie von finanziell unterstützten Flüchtlingen auf dem Prüfstand
Eine solche Sozialhilfeabhängigkeit stellten die Schweizer Behörden in den vier nun vom EGMR beurteilten Fällen fest, jedoch in unterschiedlichem Umfang und aus unterschiedlichen Gründen: Eine Person, J.K., war in einem Vollzeitpensum arbeitstätig, erzielte jedoch kein genügendes Einkommen für die vierköpfige Familie. Eine weitere, S.Y., arbeitete Teilzeit und betreute darüber hinaus drei Kinder, die bereits in der Schweiz lebten. B.F. hatte in der Schweiz hingegen nie gearbeitet, jedoch war sie zu 100% arbeitsunfähig, was von der IV später anerkannt wurde. Weil die Gründe für die Arbeitsunfähigkeit vor der Einreise in die Schweiz entstanden waren, erhielt sie jedoch keine IV-Rente und musste deshalb Sozialhilfe beziehen. S.M. schliesslich hat in der Schweiz ebenfalls nie gearbeitet und war gesundheitlich eingeschränkt, jedoch nicht zu 100% arbeitsunfähig.
Sowohl das Staatssekretariat für Migration, welches als erste Instanz über die Gesuche entschied, als auch das danach angerufene Bundesverwaltungsgericht verweigerten allen betroffenen Personen den Familiennachzug. Dagegen erhoben alle Beschwerde an den EGMR und machten eine Verletzung von Art. 8 EMRK geltend, weil ihnen dadurch ein Zusammenleben mit ihren nächsten Familienangehörigen auf Dauer verunmöglicht wurde.
Keine generelle Ablehnung bei Sozialhilfebezug …
Der Menschenrechtsgerichtshof fasste die vier Beschwerden, da sie thematisch eng miteinander verbunden waren und die gleichen Rechtsfragen betrafen, zusammen und handelte sie in einem Urteil ab. In drei der vier Fälle kommt er dabei zu einer anderen Einschätzung als die Schweiz, obwohl er dieser wie erwähnt einen an sich grossen Ermessensspielraum einräumt. In den Beschwerden von J.K., der zu 100% arbeitete, und von S.Y., die neben ihrer Teilzeitarbeitstätigkeit Betreuungspflichten hatte, urteilten die Richter, dass sie alles Zumutbare unternommen haben, um die Voraussetzungen der Schweizer Gesetzgebung zu erfüllen. Würden diese Regeln strikt angewendet und eine Sozialhilfeabhängigkeit unabhängig von der individuellen Situation verlangt, wäre es Menschen in derartigen working-poor-Situationen nie möglich, ihre Familie in die Schweiz nachzuziehen. Dies bedeutete in den Augen des EGMR eine Verletzung von Art. 8 EMRK.
Auch die Beschwerde von B.F. hiess der Gerichtshof gut. Zwar könne den Schweizer Behörden nicht vorgeworfen werden, dass sie den IV-Entscheid – der nach Urteil des Bundesverwaltungsgerichts ergangen war – nicht berücksichtigt hatten. Allerdings hatte B.F. schon während des Verfahrens in der Schweiz mittels ärztlicher Berichte und Bestätigungen belegt, dass sie sowohl an physischen als auch psychischen Erkrankungen leidet und deshalb arbeitsunfähig ist. Hier haben die Schweizer Behörden in zu allgemeiner Weise verlangt, dass B.F eine Arbeit aufnehme, ohne konkret zu prüfen, inwiefern dies aufgrund der gesundheitlichen Situation überhaupt möglich ist.
… sondern differenzierte Betrachtung in jedem Einzelfall
Der letzte beurteile Einzelfall schliesslich zeigt, dass der EGMR den Aspekten jedes Einzelfalls Rechnung trägt. Die Beschwerde von S.M. nämlich hat er abgelehnt, weil nach seiner Einschätzung das Schweizer Bundesverwaltungsgericht den Einzelfall ausreichend gewürdigt und seine «margin of appreciation» nicht verletzt hat. Zwar sei auch S.M. teilweise gesundheitlich eingeschränkt, jedoch wurde dies im nationalen Verfahren hinreichend berücksichtigt und zulässigerweise kritisiert, dass S.M. sich nicht genügend um eine (Teilzeit-)Arbeit bemüht habe.
Der Entscheid B.F. and others v. Switzerland bedeutet damit nicht, dass die Frage des Sozialhilfebezugs bei Familiennachzugsgesuchen jegliche Bedeutung verlieren wird. Allerdings muss die Schweiz künftig jedenfalls bei Personen, die in der Schweiz als Flüchtlinge anerkannt worden sind, ein erhöhter Sorgfaltsmassstab anlegen. Ein potenzieller Sozialhilfebezug darf nicht als Totschlagargument verwendet werden, um ein Gesuch um Familienvereinigung abzulegen. Vielmehr können individuelle Umstände wie Betreuungspflichten, gesundheitliche Einschränkungen oder working-poor-Situationen das öffentliche Interesse an einer restriktiven Migrationspolitik und einer Kontrolle staatlicher Ausgaben überwiegen.
Ferner überzeugte auch das Argument der Schweiz den EGMR nicht, wonach ein Unterschied bestehe zwischen Flüchtlingen mit Asyl und solchen mit vorläufiger Aufnahme, deren Verbleib in der Schweiz nicht dauerhaft sein soll. Der Gerichtshof nimmt Bezug auf einen Bericht des Bundesrates aus dem Jahre 2016, gemäss welchem die Mehrheit der vorläufig aufgenommenen Personen dauerhaft in der Schweiz bleiben würden, sowie einen Bericht der Europarat-Kommission für Menschenrechte, welcher diesen Anteil gar bei ungefähr 90% sieht. Er ging deshalb davon aus, dass auch vorläufig aufgenommene Flüchtlinge die Schweiz auf absehbare Zeit nicht verlassen werden, weshalb sie de facto über ein gesichertes (und damit dauerhaftes) Aufenthaltsrecht in der Schweiz verfügen. Eine unterschiedliche Behandlung zwischen Flüchtlingen mit Asyl und vorläufig aufgenommenen Flüchtlingen lasse sich so nicht rechtfertigen, zumal sich auch solche Flüchtlinge sur place in einer besonders verletzlichen Situation wiederfinden. Für sie darf das nationale Gesetz deshalb keine unüberwindbaren Hürden für einen Familiennachzug stellen. Punkto Sozialhilfebezug hat die Schweiz ihre margin of appreciation daher überstrapaziert.
Fazit
Für die erfolgreichen Beschwerdeführenden ist das Urteil des EGMR ein Pyrrhussieg. Zwar sind sie nach jahrelangem Kampf endlich zu ihrem Recht gekommen, und die Schweizer Behörden dürften ihre Gesuche nun bewilligen. Dafür mussten sie allerdings eine lange Trennung von ihren Liebsten in Kauf nehmen. B.F. stellte das Gesuch um Nachzug ihrer Tochter im September 2016, sieben Jahre vor dem Urteil des EGMR. Die beiden weiteren erfolgreichen Beschwerdeführenden, J.K. und S.Y. reichten ihre Gesuche sogar bereits 2014 ein und mussten damit noch länger auf die Familienvereinigung warten.
Wäre die Schweiz ihren internationalen Verpflichtungen bereits im nationalen Verfahren nachgekommen, hätten diese langen und belastenden Trennungen verhindert werden können. Es kommt daher nicht überraschend, dass der EGMR auch einen nicht-pekuniären Schaden konstatierte und die Anträge der Beschwerdeführenden, die unter diesem Titel eine Entschädigung verlangte, vollständig guthiess. Es bleibt zu hoffen, dass die Schweizer Behörden das Urteil sorgfältig studieren und in ihre Praxis einfliessen lassen, um so zumindest in Zukunft schmerzhafte Trennungen zu verhindern.
- B.F. und andere gegen die Schweiz
Urteil des EGMR vom EGMR, 4. Juli 2023