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Unzulässige Rückweisung eines zum Christentum konvertierten Asylsuchenden

05.03.2020

Gemäss dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte hat das Bundesverwaltungsgericht das Folterverbot der Europäischen Menschenrechtskonvention verletzt. Es könne von einem Asylsuchenden nicht verlangen, seinen persönlichen Glauben im Heimatland zu verbergen, ohne allfällige Risiken eingehend zu prüfen.

Im Fall A.A. gegen die Schweiz kamen die Richterinnen und Richter am 5. November 2019 einstimmig zum Schluss, dass die Rückweisung eines zum Christentum übergetretenen afghanischen Staatsangehörigen der Ethnie Hazara Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention verletze. Zwar habe das Bundesverwaltungsgericht den Religionsübertritt des Asylsuchenden anerkannt. Die Risiken, die dem Betroffenen bei einer Rückkehr in sein Heimatland möglicherweise drohen, jedoch nicht genügend abgeklärt.

Da die Schweiz gegen den Urteilsspruch der Grossen Kammer keinen Rekurs eingereicht hat, kann der Betroffene vor dem Bundesverwaltungsgericht die Revision seines Urteils verlangen.

Keine schweren Nachteile im Heimatland

Der Beschwerdeführende kam 2014 in die Schweiz und reichte wegen der unsicheren Lage in Afghanistan sowie seines Übertritts zum Christentum ein Asylgesuch ein. Weil der Religionswechsel nicht bereits in seinem Heimatland erfolgt war, beurteilte das Staatssekretariat für Migration (SEM) die aufgeführten Gründe als nicht glaubwürdig und lehnte den Asylantrag ab.

Unterstützt durch die Organisation SOS Ticino reichte der Betroffene daraufhin beim Bundesverwaltungsgericht Rekurs ein. Im Unterschied zum Staatssekretariat für Migration bezweifelte das Gericht nicht die Glaubwürdigkeit des in der Schweiz erfolgten Religionswechsels. Es kam jedoch zum Schluss, dass die Konversion zum Christentum für den Asylsuchenden in Afghanistan keine schweren Nachteile mit sich bringe. Der Austritt aus dem Islam könne in Afghanistan zwar bestraft werden, in der Grossstadt Kabul sei es dem Beschwerdeführenden mit Unterstützung von Verwandten jedoch möglich, ein relativ sicheres Leben führen. Die Tatsache, dass der Asylsuchende mit seinen dort lebenden Onkeln und Cousins seit seiner Flucht keinen Kontakt hatte und er sie noch nie besucht hat, spiele dabei keine Rolle.

Gegen das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts reichte der Asylsuchende im April 2017 Beschwerde am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ein. Als provisorische Massnahme verlangte der Gerichtshof von der Schweiz, das Auslieferungsverfahren vorübergehend zu sistieren.

Mangelnde Sorgfalt beim Bundesverwaltungsgericht

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stimmt der Einschätzung des Bundesverwaltungsgerichts insofern zu, als der Asylsuchende in der Schweiz und nicht in Afghanistan zum Christentum übergetreten war. Es müsse deshalb überprüft werden, ob der Religionsübertritt ehrlich sei und ein ausreichendes Mass an Kraft, Ernsthaftigkeit und Wichtigkeit besitze. Erst anschliessend könne ermittelt werden, ob der Konvertit im Fall der Rückkehr nach Afghanistan einer Behandlung ausgesetzt wäre, welche im Widerspruch zum Folterverbot der Europäischen Menschenrechtskonvention steht.

Das Bundesverwaltungsgericht habe sich in seinem Urteil jedoch mit der Feststellung begnügt, dass der Asylsuchende bei seinen Verwandten in Kabul auf keinerlei Schwierigkeiten stossen würde, weil er seinen christlichen Glauben gegenüber den besagten Onkeln und Cousins bisher nicht geäussert hat. In dieser Begründung fehle es jedoch an einer genauen und vertieften Überprüfung der besonderen Lebensumstände in Kabul. Es seien keine Befragungen darüber durchgeführt worden, wie der Asylsuchende seinen christlichen Glauben seit seiner Taufe in der Schweiz lebt und ob er ihn in Afghanistan in diesem Sinne weiterleben könnte. Die Klärung dieser Fragen läge demgegenüber in der Pflicht des Bundesverwaltungsgerichts. Etwa durch eine Rückweisung an die erste Instanz, das Staatssekretariat für Migration, oder durch eine Befragung des Asylsuchenden.

Eine widersprüchliche Praxis

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte weist zudem darauf hin, dass das Bundesverwaltungsgericht in einem nur wenige Monate später veröffentlichten Urteil selbst eingeräumt habe, dass das Verschweigen und die tägliche Verleugnung intimer Überzeugungen in der konservativen afghanischen Gesellschaft einen „unerträglichen psychischen Druck“ im Sinn von Artikel 3 des Asylgesetzes darstellen könne. Auch deshalb sei es im aktuellen Fall unzulässig, ohne konkrete Abklärungen vom Betroffenen zu verlangen, seinen Glauben in Kabul zu verbergen.

In diesem Sinne kommt der Gerichtshof zum Schluss, dass die Rückweisung des Asylsuchenden nach Afghanistan eine Verletzung von Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention darstellt, welcher Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Strafe oder Behandlung verbietet.

Religiöse Minderheiten in Afghanistan

Die Schweizerische Flüchtlingshilfe SFH berichtete 2017 über die aktuelle Sicherheitslage der religiösen Minderheiten in Afghanistan. Sie kommt zum Schluss, dass Hindus, Sikhs, Christen, Angehörige der Baha’i sowie Sufis und Schiiten in Afghanistan sozialer Diskriminierung, Übergriffen und Einschüchterungen ausgesetzt sind. So können Angehörige der Baha’is und Christen ihren Glauben aus Angst vor Festnahmen oder gar Hinrichtungen nur im Verborgenen leben. Gegenüber dem Christentum nimmt die Gesellschaft zudem offen eine feindliche Haltung ein und öffentliche Kirchen gibt es in Afghanistan keine mehr. Ihre Gottesdienste feiern Christ/-innen folglich individuell oder innerhalb von kleinen Glaubensgemeinschaften in Privatwohnungen.

Gemäss Artikel 2 der afghanischen Verfassung sind die Angehörigen anderer Religionen als dem Islam zwar «frei […] innerhalb der Grenzen des Gesetzes ihre religiösen Rituale auszuüben und zu leben.» Internationale Dokumente belegen jedoch, dass zum Christentum übergetretene oder dessen verdächtigte Personen in der Realität einer systematischen Verfolgung, so staatlichen Interventionen bis hin zur Todesstrafe, ausgesetzt sind. Grundlage dieser Annahme bilden unter anderem die «Principes directeurs relatifs à l’éligibilité dans le cadre de l’évaluation des besoins de protection internationale des demandeurs d’asile afghans» des UNO-Hochkommissariats für Flüchtlinge von 2018.