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Fair trial bei psychiatrischen Explorationsgesprächen im Strafverfahren

17.09.2019

Dr. iur. Thierry Urwyler, Akademischer Mitarbeiter in der Hauptabteilung «Forschung & Entwicklung» des Amtes für Justizvollzug (Zürich) analysiert die aus Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention fliessende Pflicht zur Gewährung eines fairen Verfahrens mittels effektiver Verfahrensrechte. Nimmt man dieses Gebot ernst, müssen Explorationsgespräche audiovisuell aufgezeichnet werden und die Verteidigung der beschuldigten Person muss am Explorationsgespräch teilnehmen können.

Meine im September 2019 erscheinende Dissertation trägt den Titel: «Das Teilnahmerecht der Verteidigung am Explorationsgespräch des psychiatrischen Sachverständigen mit der beschuldigten Person im Lichte der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMKR). Mit Fokus auf das Gutachten zur Schuldfähigkeit und Massnahmenindikation». So sperrig diese Formulierung ausfällt, so simpel ist das Ausgangsproblem.

Stellen Sie sich das folgende Szenario vor: Eine Person wird von den Strafbehörden der Vergewaltigung beschuldigt (Art. 190 Strafgesetzbuch, StGB). Im Rahmen der strafbehördlichen Einvernahmen (Art. 157 ff. Strafprozessordnung, StPO) bestreitet die beschuldigte Person diesen Vorwurf konsequent. Da in der fraglichen Tatnacht viel Alkohol im Spiel war und sich die Verfahrensleitung nicht sicher ist, ob die beschuldigte Person – wenn sich die Tat nachweisen lässt – zurechnungsfähig war und ob sie allenfalls rückfällig werden könnte, ordnet sie eine Begutachtung durch eine sachverständige Person an (Art. 182 ff. StPO). Dabei handelt es sich nach – nicht unbestrittener  Rechtsprechung um eine/n Psychiater/in. Er oder sie soll klären, ob die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit der tatverdächtigen Person in der Tatnacht wegen einer schweren psychischen Störung beeinträchtigt war (Schuldfähigkeit; Art. 20 StGB), ob ein Rückfallrisiko vorliegt und ob sich dieses allenfalls durch therapeutische Interventionen reduzieren lässt (Massnahmenindikation, Art. 56 Abs. 3 StGB).

Grobskizze der forensisch-psychiatrischen Begutachtung im Strafverfahren

Damit die sachverständige Person die Beurteilung möglichst akkurat erstellen kann, führt sie mit der beschuldigten Person ein sogenanntes Explorationsgespräch, in welchem sie neben dem Verhalten der beschuldigten Person auch Aussagen zum Vorleben, zur Tat und den Zukunftsplänen sowie deren Verhalten registriert und notiert. Im Anschluss schreitet sie zum Verfassen des schriftlichen Gutachtens zuhanden der Verfahrensleitung (Art. 187 Abs. 1 StPO). Ihre Beurteilung stützt sie auf die Akten, das Explorationsgespräch und bei gegebener Indikation auf allfällige weitere Erkenntnisquellen (z.B. Fremdanamnesen, apparative Untersuchungen, Laborbefunde etc.).

Die Verfahrensleitung stellt das Gutachten anschliessend den Parteien zwecks Stellungnahme zu (Art. 188 StPO). Die Verteidigung stellt bei der Lektüre des Gutachtens fest: Die beschuldigte Person hat das mit ihr vor der Exploration vereinbarte Schweigen zum Tatvorwurf in der Exploration nicht durchhalten können. Aus den Explorationsangaben der beschuldigten Person ergeben sich negative Konsequenzen für die Begutachtung der Schuldfähigkeit. So beurteilt die sachverständige Person die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit als erhalten, das heisst sie geht davon aus, dass die beschuldigte Person das Unrecht ihrer Handlung erkennen konnte und die Möglichkeit hatte, anders zu handeln.

Auch erkennt die sachverständige Person die Notwendigkeit einer strafrechtlichen Massnahme. In anderen Worten attestiert sie der beschuldigten Person ein hohes Rückfallrisiko, stellt eine negative Behandlungsprognose etc., womit die Weichen für eine Verwahrung durch das Gericht möglicherweise gestellt sind. Weiter nähren die Explorationsangaben den Nachweis des Vergewaltigungsvorwurfs und bilden eine zusätzliche Quelle für die Strafzumessung (Art. 47 ff. StGB).

Verteidigungsprobleme im Status Quo und Mindestvorgaben der EMRK

Als die Verteidigung die beschuldigte Person zu den Angaben im Gutachten befragt, gibt diese an, die Exploration sei nach ihrer Erinnerung anders verlaufen: Weder erkenne sie sich im Befund wieder, noch habe sie alle Aussagen so getätigt, wie sie im Gutachten geschildert seien. Allgemein habe sie sich in der Exploration immer wieder überfordert gefühlt. Sie habe nicht genau gewusst, wann ihre Mitwirkung verteidigungsstrategisch sinnvoll sei. Ebenso sei ihr nicht durch das ganze Explorationsgespräch hinweg klar gewesen, dass sämtliche Aussagen auch von der Staatsanwaltschaft und vom Gericht verwendet werden können. Zudem habe die sachverständige Person beleidigende Aussagen ihr gegenüber getätigt und manchmal habe sie das Gefühl gehabt, dass ihr im Explorationsgespräch Worte in den Mund gelegt worden seien, von denen sie sich nicht mehr habe distanzieren können (Stichwort: Suggestivfragen).

Die Verteidigung überlegt sich, wie sie nun stichhaltige Einwände gegen das Gutachten vorbringen kann. Kein leichtes Unterfangen, da sie selbst keinen authentischen Blick auf die Exploration erlangen kann. Die sachverständige Person ist weder verpflichtet, die Exploration audiovisuell aufzuzeichnen, noch die Verteidigung der beschuldigten Person an der Exploration teilnehmen zu lassen. So will es die konstante Rechtsprechung des Bundesgerichts und der kantonalen Instanzen. Damit wird seit Jahrzehnten der psychiatrisch-psychologische Methodenstandard geschützt, welcher die Exploration möglichst frei von äusseren Einflüssen halten will.

Ernüchtert stellt die Verteidigung fest: Das von ihrer Mandantin Gesagte lässt sich kaum mehr aus den Köpfen der Strafbehörden bannen und die behaupteten Verfehlungen seitens der sachverständigen Person lassen sich nicht beweisen.

Mit diesem Beispiel sind viele der verteidigungsrechtlichen Herausforderungen beschrieben, welche die psychiatrische Begutachtung der beschuldigten Person im Strafprozess mit sich bringt. Diese juristische Ausgangslage reibt sich mit der Europäischen Menschenrechtskonvention. Erstens fliesst aus Artikel 6 EMRK das Recht der beschuldigten Person auf eine effektive Überprüfbarkeit des Gutachtens. Zweitens enthält dieser Artikel das Recht der beschuldigten Person auf Teilnahme ihrer Verteidigung ab der ersten Einvernahme im Strafverfahren. Diese Verteidigungsrechte laufen jedoch im Status Quo der psychiatrischen Exploration ins Leere, wie sogleich aufzuzeigen ist.

Überprüfbarkeit des Gutachtens: Notwendigkeit einer audiovisuellen Aufzeichnung

Bestehen zwischen der beschuldigten und der sachverständigen Person nach Erstattung des Gutachtens Uneinigkeiten über das in der Exploration Geschehene beziehungsweise Gesagte, muss das Gericht entscheiden, wem es glaubt. Dabei kann es den Sachverhalt nur mittels einer Würdigung der Aussagen der sachverständigen und der beschuldigten Person feststellen. Bei dieser Aussagewürdigung wird das Gericht regelmässig der Darstellung der sachverständigen Person glauben, da diese unter Wahrheitspflicht im Verfahren aussagt (Art. 307 StGB), während die beschuldigte Person dies nicht tun muss beziehungsweise in gewissen Grenzen sogar lügen darf. Es besteht mit anderen Worten ein systematisches Glaubhaftigkeits-Bias zugunsten der Schilderung der sachverständigen Person.

Diese Tendenz, der Darstellung der sachverständigen Person zu glauben, ist jedoch nicht zielführend, weil nicht nur die Wahrnehmung der beschuldigten, sondern auch die der sachverständigen Person in der Exploration zahlreichen unbewussten und bewussten Verzerrungseffekten ausgesetzt ist. Durch das Glaubhaftigkeits-Bias zugunsten der sachverständigen Person wird entsprechend die Ermittlung der materiellen Wahrheit (Art. 6 StPO) gefährdet, da keine kontradiktorische Verhandlung über den Explorationssachverhalt stattfindet, sondern systematisch die Sicht der sachverständigen Person zum Urteilssachverhalt erhoben wird.  Diese Gefahr wird zusätzlich dadurch verstärkt, dass manche Fehler der sachverständigen Person unter Umständen gar nie bekannt werden. Der Grund dafür ist trivial: Der beschuldigten Person fehlt es an juristischem und psychiatrischem Fachwissen, das nötig wäre, Verfehlungen der sachverständigen Person umfassend zu erkennen und zu rügen.

In der Summe ergibt sich: Die beschuldigte Person und ihre Verteidigung können kaum überprüfen, ob der Explorationssachverhalt von der sachverständigen Person rechtskonform erhoben wurde. Wenn ausnahmsweise Rügen erhoben werden, fehlen die Beweise, um behauptete Verfehlungen der sachverständigen Person beweisen zu können. Die von der Europäischen Menschenrechtskonvention geforderte effektive Überprüfbarkeit des psychiatrischen Gutachtens ist angesichts dieser Ausgangslage nicht gewährleistet.

Diese Intransparenz lässt sich nur durch eine audiovisuelle Aufzeichnung beheben. Mit ihr wird den Anforderungen nach Artikel 6 EMRK Genüge getan: Die beschuldigte Person ist nun in der Lage, Verfehlungen der sachverständigen Person mit Hilfe ihrer Verteidigung festzustellen und effektiv zu rügen. Gleichzeitig wird der sachverständigen Person Schutz vor ungerechtfertigten Beanstandungen geboten. Diese Lösung ist auch darum sinnvoll, weil die audiovisuelle Aufzeichnung in einschlägigen Mindestanforderungen an psychiatrische Gutachten (vgl. beispielsweise die Mindestanforderungen für Schuldfähigkeits- und Prognosegutachten von Boetticher et al. 2005, 2006) als mögliches Dokumentationsmittel genannt wird und somit im Einklang mit dem psychiatrischen Methodenstandard steht.

Schutz der Rechte während der Exploration: Notwendigkeit eines Teilnahmerechts der Verteidigung

Mit einer audiovisuellen Aufzeichnung allein wäre ein faires Verfahren bei psychiatrischen Explorationsgesprächen im Strafverfahren noch nicht gewährleistet. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) anerkennt in seiner Rechtsprechung das grundsätzliche Recht der beschuldigten Person, ab der ersten Stunde des Strafverfahrens eine Verteidigung beiziehen zu können (sog. Anwalt der ersten Stunde). Damit – so das Konzept des Gerichtshofes – wird in der Erstphase des Strafverfahrens das erforderliche Gegengewicht zur Übermacht der Strafverfolgungsbehörde geschaffen und die Waffengleichheit abgesichert. Die Verteidigung soll der beschuldigten Person psychischen Beistand leisten, Schutz vor widerrechtlichem Verhalten seitens der Strafbehörden bieten und sicherstellen, dass die beschuldigte Person ihr Aussage- und Mitwirkungsverweigerungsrecht effektiv ausüben kann.

Für das psychiatrische Explorationsgespräch drängen sich analoge Erwägungen auf:  Mit der Exploration werden beweisrechtlich dieselben Informationen wie im Rahmen einer Einvernahme gesammelt, nämlich Aussagen zur Vergangenheit, zur Tat und zur Zukunft. Diese Informationen können für die beschuldigte Person – wie auch bei strafbehördlichen Einvernahmen – nachteilige Folgen haben, sei es bei den Fragen zur Schuldfähigkeit und der strafrechtliche Massnahme, sei es im Rahmen des Tatnachweises und des Strafmasses.

Zudem befinden sich beschuldigte Personen gleich wie bei einer strafbehördlichen Einvernahme im Vorverfahren in einer prekären Lage: Sie sind angeschlagen von der Beschuldigung und allenfalls der Untersuchungshaft, leiden oft unter psychischen Störungen, erfassen regelmässig die juristische Komplexität des Strafverfahrens nicht und sehen sich sich einer in der Befragungstechnik geübten psychiatrischen Fachperson gegenüber. All dies führt zu einer Situation des Machtungleichgewichts, in der Beschuldigte nicht in der Lage sind, ihre eigenen Interessen zu wahren.

Hinzu kommt, dass die Rolle des psychiatrischen Sachverständigen für die beschuldigte Person schwer zu fassen ist. Nur allzu schnell geht vergessen, dass nicht der behandelnde Arzt oder die behandelnde Ärztin, sondern die gegenüber der Verfahrensleitung mitteilungsverpflichtete sachverständige Person das Gespräch leitet. Entsprechend hoch ist das Bedürfnis der beschuldigten Person, dass die anwesende Verteidigung sie unterstützt, sei dies beim Entscheid, mitzuwirken oder die Mitwirkung zu verweigern, oder sei es, dass die Verteidigung bei Verfehlungen seitens der sachverständigen Person schützend interveniert. Damit liegen im Explorationsgespräch analoge Verteidigungsherausforderungen wie bei der Einvernahme im Vorverfahren vor. Entsprechend drängt es sich auf, das Recht der beschuldigten Person auf Teilnahme ihrer Verteidigung auch auf das psychiatrische Explorationsgespräch anzuwenden.

Der psychiatrische Methodenstandard ist kein Grund für eine Einschränkung des Teilnahmerechts der Verteidigung

Der psychiatrische Methodenstandard sieht vor, dass nicht untersuchungsnotwendige Drittpersonen grundsätzlich vom Explorationsgespräch auszuschliessen sind. Damit sollen Störpotentiale vermieden und ein möglichst objektiver Blick auf den zu beurteilenden Menschen ermöglicht werden. Diese psychiatrische Methodenvorgabe ist aber kein zwingender Grund, welcher eine Einschränkung des Teilnahmerechts der Verteidigung rechtfertigen könnte.

Im Strafverfahren liegen Bedingungen vor, welche nicht mit einer Beurteilung in einem privaten Therapiesetting vergleichbar sind. Da die sachverständige Person im Strafverfahren ihre Explorationswahrnehmungen sowieso dokumentieren und im Rahmen der Gutachtensrelevanz an die Strafbehörden kommunizieren muss, kann von Beginn weg nicht von einer Vertrauensatmosphäre gesprochen werden, die zu schützen wäre. Sodann kann die Präsenz der Verteidigung nicht als Störfaktor im juristischen Sinne bezeichnet werden: Wenn die Verteidigung anlässlich von Rechtsverletzungen interveniert, ist dies keine Störung, sondern dient der Absicherung eines gesetzeskonformen Verfahrens. Wenn sie der beschuldigten Person zum Schweigen rät, sichert sie einzig ab, was die beschuldigte Person in der Exploration ohnehin (d.h. auch ohne Anwesenheit der Verteidigung) tun darf: zu schweigen, wenn es verteidigungsstrategisch Sinn macht (Art. 185 Abs. 5 StPO).

Es vor diesem Hintergrund nicht einsichtig, dass die Exploration verfahrensrechtlich anders als die strafbehördliche Einvernahme behandeln wird, bei der ein Teilnahmerecht der Verteidigung ab der ersten Stunde besteht (Art. 159 StPO). Will man Artikel 6 EMRK auch im Kontext eines psychiatrischen Explorationsgesprächs seinen Wert belassen, muss ein Teilnahmerecht der Verteidigung am Explorationsgespräch zugelassen werden.

Fazit: Eine Praxisänderung oder Revision der Strafprozessordnung ist angezeigt

Das vorangehend Gesagte lässt sich auf folgende Aussage verdichten: Meint man es mit den effektiven Menschenrechten und dem Prinzip des fairen Verfahrens ernst, wird klar, dass das psychiatrische Explorationsgespräch nur mit einer audiovisuellen Aufzeichnung und einem Teilnahmerecht der Verteidigung stattfinden kann. Ein Fazit, dass nicht nur für die in meiner Dissertation behandelte Begutachtung der Schuldfähigkeit und Massnahmenindikation vor der Verurteilung von Relevanz ist, sondern auch auf die zahlreichen Begutachtungskonstellationen in sogenannten Nachverfahren im Straf- oder Massnahmenvollzug (bedingte Entlassung, Verlängerung einer strafrechtlichen Massnahme, Änderung einer Massnahme usw.) übertragbar ist.

Vor dem Hintergrund des Gesagten drängt sich eine Praxisänderung des Bundesgerichts auf. Noch wünschenswerter wäre es in demokratietheoretischer Hinsicht, wenn der Gesetzgeber dieses Defizit erkennen und die hier vertretene verfassungs- und konventionskompatible Lösung in die Strafprozessordnung einfügen würde.

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