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Fall Nezzar: Bundesstrafgericht rügt Bundesanwaltschaft

25.06.2018

Am 30. Mai 2018 hat das Bundesstrafgericht im Fall Nezzar die Beschwerden dreier mutmasslicher Opfer von Folter und willkürlichen Verhaftungen gutgeheissen. Mit dem Entscheid setzt sich das Hin und Her zwischen Bundesanwaltschaft und Bundesstrafgericht, welches seit der Verfahrenseröffnung im Jahr 2011 andauert, fort. Die Bundesanwaltschaft muss nun  in diesem Falle erneut ermitteln.

Am 4. Jan. 2017 hatte die Bundesanwaltschaft entgegen aller Erwartungen entschieden, die Anklage gegen Khaled Nezzar fallenzulassen und die bereits mehr als 5 Jahre dauernden Ermittlungen einzustellen. Dies mit der Begründung, dass die Voraussetzung eines bewaffneten Konfliktes zum Zeitpunkt der vorgeworfenen Taten nicht gegeben war.

Zuvor hatte das Bundestrafgericht seinerseits in einem zukunftsweisenden Entscheid vom 25. Juli 2012 eine auf Immunität lautende Beschwerde des Angeklagten abgelehnt mit der Begründung, dass letztere im Falle von Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Genozid nicht geltend gemacht werden kann.

Die Vorwürfe gegen Nezzar

Die Vorwürfe gegen Nezzar wiegen schwer. Er soll sich Kriegsverbrechen im Sinne der Genfer Konventionen schuldig gemacht haben. Im Speziellen werden dem früheren algerischen Verteidigungsminister und General systematische Verschleppungen, Morde und Folter vorgeworfen. Diese Verbrechen soll er während des algerischen Bürgerkrieges in den 1990er Jahren begangen haben. Eingeleitet hatte die Bundesanwaltschaft die Untersuchungen 2011 wegen Anschuldigungen der Nichtregierungsorganisation TRIAL sowie Klagen von mehreren Opfern. TRIAL hatte zudem den Hinweis geliefert, dass sich Khaled Nezzar in der Schweiz aufhielt.

  • Khaled Nezzar
    Dokumentation von Trial International, 6. Juni 2018

(K)ein «bewaffneter Konflikt»

Die Grundvoraussetzung für die Anwendbarkeit der Genfer Konventionen ist, dass die einzelnen Verbrechen wie Morde oder Folter im Kontext eines «bewaffneten Konfliktes» staatgefunden haben. Genau über die Gegebenheit dieser Voraussetzung sind sich Bundesanwaltschaft und Bundesstrafgericht uneinig.

Unbestritten ist, dass der algerische Bürgerkrieg in den 1990er-Jahren zwischen Armee und islamistischen Gruppierungen bis zu 200‘000 Todesopfer forderte und es zu zahlreichen Gräueltaten kam. Jedoch, so lautete die Interpretation der Bundesanwaltschaft, seien Kriegshandlungen mit schweren Waffen wie Artillerie, Flugzeugen und Panzern die Voraussetzung für die Qualifizierung von blutigen Auseinandersetzungen als „bewaffneten Konflikt“; und solche Waffen seien damals nicht zum Einsatz gekommen. Des Weiteren hätten die islamistischen Gruppierungen kein eigenes Territorium erobert gehabt – auch dies laut Bundesanwaltschaft ein zwingendes Merkmal für einen «bewaffneten Konflikt».

Kommentar TRIAL: Nicht nachvollziehbar

Nach der Eröffnung des Verfahrens hatte die Bundesanwaltschaft mehr als 5 Jahre gegen Nezzar ermittelt. In dieser Zeit wurden von der Bundesanwaltschaft mehr als ein Duzend Zeugen vernommen und es wurde sogar ein Rechtshilfegesuch an Algerien gestellt. Letzteres blieb jedoch unbeantwortet.

Im Angesicht der jahrelangen Ermittlungsarbeiten, in welchen das Vorhandensein der Grundvoraussetzung eines «bewaffneten Konflikts» nie in Frage gestellt wurde, war für TRIAL der plötzliche Entscheid der Bundesanwaltschaft, das Verfahren einzustellen, nicht nachvollziehbar. Um eine Neubeurteilung der Situation zu erhalten, legte TRIAL beim Bundesstrafgericht Rekurs gegen die Verfügung der Bundesanwaltschaft ein.

Rüge an die Adresse der Bundesanwaltschaft

Auch das Bundesstrafgericht goutierte die Argumentation der Bundesanwaltschaft in keiner Weise. Die Richter in Bellinzona kamen ihrerseits zum Schluss, dass die Zusammenstösse zwischen dem algerischen Regime und der islamistischen Opposition im fraglichen Zeitraum als bewaffneter Konflikt einzustufen seien. Damit sei eine Zuständigkeit der Schweiz für die Strafverfolgung der vorgeworfenen Delikte gegeben. In seinem 50-seitigen Entscheid untermauert das Gericht dies mit detaillierten Angaben zur Organisationsstruktur der Konfliktparteien sowie zum Verlauf und der Intensität des Konflikts.

Die Bundesanwaltschaft kassierte noch eine zweite Rüge: Entgegen ihrer Auffassung hätte sie den Foltervorwurf gegen Nezzar ohnehin untersuchen müssen. Denn zum Zeitpunkt der fraglichen Ereignisse seien die Schweiz und Algerien an das Folterübereinkommen von 1984 gebunden gewesen. Die vorgeworfenen Folterungen seien nicht verjährt gewesen. Die Bundesanwaltschaft muss das Verfahren gegen Nezzar nun weiterführen.

Ermittlungen entgegen dem Wunsch des EDA

Als im Oktober 2011 Khaled Nezzar in Genf vorübergehend festgenommen wurde, hatte die Bundesanwaltschaft korrekt gehandelt. Denn seit 2011 kann sie Strafverfahren zur Verfolgung von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen einleiten, wenn sich der Verdächtige auf Schweizer Boden befindet. Nicht erfreut über das Vorgehen der Bundesanwaltschaft war damals das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA)gewesen. Nezzar hätte als ehemaliger Verteidigungsminister Immunität genossen, liess das EDA die Bundesanwaltschaft wissen.

Mit derselben Begründung hatte Khaled Nezzar Beschwerde gegen die Verfügung der Bundesanwaltschaft zur Eröffnung der Strafuntersuchung eingelegt – welche vom Bundesstrafgericht in Bellinzona jedoch abgewiesen wurde. Die dem früheren Minister zur Last gelegten Kriegsverbrechen würden zu den völkerrechtlichen Verbrechen zählen, deren Schwere es nicht zulasse, dass Nezzar sich auf seine Immunität berufen könne, argumentierte das Bundesstrafgericht in seinem Entscheid vom 25. Juli 2012.

Khaled Nezzar hatte die Schweiz indes bereits nach der Befragung durch die Bundesstaatsanwaltschaft im Oktober 2011 wieder verlassen. Eine Fortführung der Ermittlungen sowie auch eine Verurteilung sind jedoch auch bei Abwesenheit möglich.

Der Entscheid, die Strafuntersuchung fortzusetzten wurde von TRIAL begrüsst, da sich Täter nicht mehr auf ihre Funktion berufen könnten, um einer Strafverfolgung zu entgehen. Andere Stimmen befürchteten Unstimmigkeiten auf der diplomatischen Ebene. Denn bis anhin konnten ehemalige Amtsträger in einem anderen Land nicht für Taten belangt werden, welche sie in Ausübung ihrer Funktion begangen hatten. Letztere Auffassung gehört jedoch zu Recht der Vergangenheit an.