18.10.2021
Dank des Prinzips der universellen Gerichtsbarkeit werden weltweit immer mehr Menschen für internationale Verbrechen vor Gericht zur Verantwortung gezogen. So auch in der Schweiz: Im Juni 2021 wurde mit dem ehemaligen liberianischen Kommandanten Alieu Kosiah erstmals ein Kriegsverbrecher vom Bundesstrafgericht verurteilt. Es bleibt zu hoffen, dass sich mit dem Urteil ein Richtungswechsel ankündigt: Die Schweiz wird für ihren mangelhaften Einsatz bei der Verfolgung internationaler Verbrechen regelmässig kritisiert.
Am 18. Juni 2021 hat das Bundesstrafgericht in Bellinzona in einem in der Schweizer Justizgeschichte beispiellosen Prozess sein erstes Urteil auf der Grundlage des Völkerstrafrechts gefällt. Die Schweiz hat lediglich zwei vergleichbare Prozesse aus den 1990er Jahren vorzuweisen, die damals aber von Militärgerichten durchgeführt worden sind: der Prozess gegen den ruandischen Bürgermeister Fulgence Niyonteze aus dem Jahr 1999 und das Gerichtsverfahren gegen den bosnischen Serben Goran Grabez, der 1997 von Straftaten im Jugoslawien-Krieg freigesprochen wurde.
Die langwierige Bearbeitung des Falles Kosiah durch die Schweizer Justiz hat jedoch eine Reihe von Kritikpunkten und eine zentrale Frage aufgeworfen: Kann die Schweiz im Kampf gegen das internationale Verbrechen tatsächlich ein Vorbild sein?
Verbrechen in Liberia auf Schweizer Boden beurteilt
Alieu Kosiah, ein ehemaliger Kommandant der bewaffneten Gruppe «United Liberation Movement for Democracy in Liberia» (ULIMO), flüchtete 1998 vor der neuen liberianischen Regierung unter Charles Taylor in die Schweiz. Nachdem die Anwesenheit des Liberianers auf Schweizer Territorium bekannt geworden war, überwies die Bundesanwaltschaft nach einer über fünfjährigen Untersuchung im August 2014 dem Bundesstrafgericht erstmals eine Anklage wegen Kriegsverbrechen (Art. 108 und 109 aMStG in Verbindung mit Art. 3 der Genfer Konventionen von 1949 und Art. 4 des Zusatzprotokolls II zu den Genfer Konventionen).
Ganze 23 Jahre später wurde Kosiah aufgrund zahlreicher Gräueltaten, welche er während des blutigen Konflikts in Liberia zwischen 1989 und 1996 begangen hatte, der Kriegsverbrechen schuldig gesprochen. Der «Warlord» wurde in 21 der 25 Anklagepunkte für schuldig befunden: Unter anderem für den Befehl zur Tötung gefangener Zivilist*innen und Soldat*innen, mehrere Fälle grausamer, erniedrigender und demütigender Behandlung, Mord, Vergewaltigung, Plünderung und den Einsatz eines Kindersoldaten.
Kosiah, der sich seit 2014 in Untersuchungshaft befand, wurde zu einer zwanzigjährigen Haftstrafe, einer fünfzehnjährigen Ausweisung aus dem Staatsgebiet der Schweiz sowie zur Zahlung einer Entschädigung an sieben Beschwerdeführer*innen verurteilt. Das Urteil erging dreieinhalb Monate nach Ende eines Prozesses, der im Dezember 2020 begann und durch vier pandemiebedingte Verschiebungen verzögert wurde. Es markiert das Ende einer langen Suche nach Gerechtigkeit, die von sieben Opfern mit Unterstützung der Nichtregierungsorganisation Civitas Maxima initiiert wurde. Angesichts der Komplexität des vorliegenden Falles ist die Entscheidung des Bundesstrafgerichtes wegweisend. Ohne Zugang zu materiellen Beweisen war es notwendig, die zahlreichen Facetten des langjährigen interethnischen Konfliktes und die komplizierten Befehlsketten nachzuvollziehen. Ausserdem galt es, die Zuverlässigkeit der Beweise und die Plausibilität der Aussagen von emotional traumatisierten Menschen aus verschiedenen Kulturen einzuordnen. Der Verteidiger von Kosiah hat zuletzt angekündigt, gegen das Urteil in Berufung zu gehen.
Die universelle Gerichtsbarkeit von internationalen Verbrechen
Das Urteil im Fall Kosiah ist dem Prinzip der universellen Gerichtsbarkeit zu verdanken. Dieses Prinzip der universellen Zuständigkeit ermöglicht es jedem Land, in seinem Hoheitsgebiet die Täter*innen von schwersten internationalen Verbrechen – namentlich Kriegsverbrechen, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit –, der Folter und des Verschwindenlassens von Personen, unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit oder dem Ort der Verbrechen, zu verfolgen.
Zur Bekämpfung der Straflosigkeit von internationalen Verbrecher*innen hat die Schweiz 2001 das Römer Statut ratifiziert, welches die universelle Gerichtsbarkeit statuiert. Die dadurch notwendigen Änderungen in der schweizerischen Gesetzgebung wurden in zwei Etappen umgesetzt. Im Rahmen der zweiten Etappe wurden im Jahr 2011 der neue Straftatbestand des Verbrechens gegen die Menschlichkeit (Art. 264a StGB) sowie eine detaillierte Definition der Kriegsverbrechen (Art. 264b bis Art. 264j StGB) ins Strafgesetzbuch aufgenommen.
Auch die Zuständigkeiten wurden angepasst. Bis 2012 waren in diesen Bereichen mehrere Behörden für die Strafverfolgung entscheidend: die Bundesanwaltschaft für Völkermordverbrechen (Art. 264 StGB), die Oberstaatsanwaltschaft/Militärjustiz für Kriegsverbrechen (Art. 3 und 10 MStG) und die kantonalen Staatsanwaltschaften für Straftaten, welche unter Verbrechen gegen die Menschlichkeit fallen. Seit November 2012 ist das Kompetenzzentrum Völkerstrafrecht (CCV) der Bundesanwaltschaft für die Untersuchung all dieser Verbrechen zuständig. Zudem teilen sich Zivil- und Militärgerichte seither ihre Aufgabe: In Friedenszeiten kommen die Zivilgerichte, zu Kriegszeiten die Militärgerichte zum Einsatz.
Eine Frage der Ressourcen
Zwar hat das Bundesstrafgerichts mit der Verurteilung Kosiahs einen Erfolg verzeichnet, diese Errungenschaft darf den Blick aber nicht trüben: In der Vergangenheit wurde die Schweiz von zivilgesellschaftlicher Seite wiederholt für ihre Passivität bei der Verfolgung internationaler Kriegsverbrechen gerügt. Die NGO Track Impunity Always (TRIAL) reichte im Jahr 2017 aus diesem Grund im Nationalrat mehrere Interpellationen ein. Die Schweiz steht im Vergleich zu ihren europäischen Nachbarstaaten schlecht da: Die etwas mehr als 70 Fälle – aus 28 verschiedenen Ländern –, welche seit 2011 an die Bundesanwaltschaft herangetragen wurden, mussten letztendlich aus unterschiedlichen Gründen eingestellt werden. Mit Ausnahme des Falls Kosiah wurde vor dem Bundesstrafgericht bis anhin kein einziges Verfahren wegen internationaler Verbrechen verhandelt.
Das liegt insbesondere daran, dass es in der Schweiz an den notwendigen Ressourcen fehlt. Ermittlungen wegen internationaler Kriegsverbrechen sind langwierig, beziehen sich auf weit zurückliegende Sachverhalte und können durch mangelnde Kooperation anderer Staaten und die Abwesenheit der Beschuldigten beeinträchtigt werden. Der Mangel an Ressourcen erklärt nicht zuletzt auch die Länge der Verfahren. Kurz nach der Gründung des Kompetenzzentrums Völkerstrafrecht CCV gingen in der Abteilung für Kriegsverbrechen bereits zahlreiche Beschwerden – hauptsächlich von Nichtregierungsorganisationen – ein. Das kleine Team der Bundesanwaltschaft war jedoch mit der Arbeitsbelastung überfordert: Gemäss eigener Angaben von Laurence Boillat, wurde der Staatsanwältin und ehemaligen Leiterin der Abteilung für Kriegsverbrechen gekündigt, weil sie die Meinung äusserte, dass die Behörde mehr tun sollte. Sie hatte sich unter anderem über den Personalmangel beschwert.
In mehreren parlamentarischen Vorstössen wurde die Frage nach der für die Verfolgung internationaler Verbrechen eingesetzten Mittel angesprochen und insbesondere festgestellt, dass die Schweiz hinter anderen europäischen Ländern zurückbleibt: In den Niederlanden sind beispielsweise 62 Mitarbeiter*innen für die Verfolgung internationaler Verbrechen zuständig. Die Bundesanwaltschaft teilt die Ansicht, «dass der internationale Kampf gegen Straflosigkeit bei schwersten Verbrechen, der in den meisten nationalen Gerichtsbarkeiten erst in den Anfängen steht, wirksam, zweckmässig und koordiniert zu führen ist». Die Aufsichtsbehörde über die Bundesanwaltschaft hält Vergleiche zwischen verschiedenen Ländern aber nur für bedingt möglich. In ihrer Antwort auf eine Interpellation zu den Ressourcen für die Strafverfolgung von Kriegsverbrecher*innen im Jahr 2018 vertritt sie die Auffassung, dass «die von der BA im Bereich Völkerstrafrecht eingesetzten Mittel für eine sachgerechte Aufgabenerfüllung ausreichend sind». Die Aufsichtsbehörde räumt ein, dass es sich um eine Frage der strategischen Priorisierung des (damaligen) Bundesanwalts handle – weder die universelle Zuständigkeit der Schweiz noch die rund zehn hängigen Beschwerden wegen internationaler Verbrechen gehörten jedoch zu seinen Prioritäten.
Bundesanwältin Miriam Spittler, zuständig für den Bereich Völkerstrafrecht, wehrte sich gegen die Kritik an den angeblich unzureichenden Strafverfolgungsbemühungen der Bundesanwaltschaft. Sie anerkennt zwar die Bedeutung der zivilgesellschaftlichen Bemühungen, hält aber fest, dass diese die Arbeit der Staatsanwaltschaft nicht zu ersetzen vermögen und sich auf die Ermittlung von Fakten beschränken müsse. Demgegenüber könne die Staatsanwaltschaft nur rechtlich zulässige Beweise sammeln, zusätzliche Informationen seien in diesem Prozess aber von entscheidender Bedeutung.
Politischer Druck
Einige Strafverfahren beeinträchtigen auch die bilateralen Beziehungen der Schweiz und bringen das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten in schwierige Situationen. Theoretisch sollten solche aussenpolitischen Faktoren keinen Einfluss auf Verfahren haben, in der Praxis scheinen sie jedoch eine bedeutende Rolle zu spielen. Wie Philip Grant, Exekutivdirektor von TRIAL, erklärt, sehen sich Staatsanwält*innen und Ermittler*innen mit Hindernissen konfrontiert, welche die Zahl der Ermittlungen verringern und die tatsächlich aufgenommenen Untersuchungen verzögern. Neben unzureichenden Ressourcen, häufigem Personalwechsel und mangelndem Fachwissen verweist die NGO auf die Unfähigkeit oder den Unwillen der Behörden, vor Ort zu ermitteln. Darüber hinaus mangle es den Amtsträger*innen an Motivation. Das fehlende Engagement zur Aufklärung internationaler Straftaten könnte nicht zuletzt auch darauf zurückzuführen sein, dass der Terrorismusbekämpfung, welche in derselben Einheit in der Bundesanwaltschaft integriert ist, mehr Gewicht beigemessen wird.
Diese Situation verleitet zur Annahme, dass es zwischen Politik und Justiz zu Absprachen kommt. Im April 2018 trugen die UNO-Sonderberichterstatter*innen für Folter und für die Unabhängigkeit von Richter*innen und Anwält*innen dem Bundesrat entsprechende Bedenken vor: Sie äusserten den Verdacht auf politische Einmischung in den Prozessen gegen Khaled Nezzar, den ehemaligen algerischen Verteidigungsminister, und Rifaat al-Assad, den Onkel des syrischen Präsidenten. Der ehemalige zuständige Staatsanwalt spricht von politischem Druck von oben, insbesondere bei «politisch exponierten Personen». Seither hat sich in diesen zwei Fällen nichts mehr getan. Auch Ousman Sonko, ein ehemaliger gambischer Innenminister, der 2017 unter dem Verdacht von Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Folter verhaftet wurde und in Bern in Untersuchungshaft sitzt, wartet immer noch auf seinen Gerichtstermin.
Ansätze zur Bekämpfung der Straflosigkeit
Die Durchsetzung der universellen Gerichtsbarkeit hat weltweit Fortschritte erzielt: Laut dem Jahresbericht 2020 von TRIAL laufen in 16 Ländern Strafverfahren gegen elf Angeklagte und Untersuchungen gegen mehr als 200 Verdächtige. Einzelne europäische Staaten sind vielseitig aktiv, um die Täter*innen schwerer internationaler Verbrechen zu verfolgen und vor Gericht zur Verantwortung zu ziehen. Dazu stellen sie für den Aufbau kompetenter und effizienter Spezialeinheiten erhebliche personelle und materielle Ressourcen bereit.
Die Verfahren in der Schweiz sind nach wie vor langwierig und komplex, wie der Kosiah-Prozess verdeutlicht. Die liberianischen Behörden haben den schweizerischen Justizbehörden stets die Einreise nach Liberia verweigert, was die Untersuchungen der Staatsanwält*innen erheblich erschwerte. Obwohl die Möglichkeiten der Strafverfolgung begrenzt sind, da sie «stark von der Kooperationsbereitschaft der beteiligten Staaten abhängen», existieren auch positive Beispiele. So reisten finnische Ermittler*innen vor der Festnahme des Kriegsverbrechers Gibril Massaquoi im März 2020 mehrmals nach Liberia, um Beweise zu sammeln. Der Prozess wurde zweieinhalb Jahre nach Ermittlungsbeginn und ein Jahr nach der Verhaftung des liberianischen Rebellen eröffnet. justiceinfo-Redakteur Thierry Cruvellier war vor Ort, während das finnische Gericht einen Teil des Prozesses in Liberia abhielt. Er hält fest, dass das effiziente und rasche Vorgehen Finnlands mit Blick auf die Verzögerungen der Schweiz und ihre Behauptungen, Ermittlungen in Liberia seien nicht möglich gewesen, Fragen aufwirft.
Der Kosiah-Prozess hat verdeutlicht, dass internationale Verbrechen von den Schweizer Behörden untersucht und ein Urteil gefällt werden kann, was die Arbeit der Bundesanwaltschaft legitimiert. Zudem spielt der Bund auf internationaler Ebene eine aktive Rolle bei der Unterstützung der Strafgerichtsbarkeit und hat erhebliche diplomatische Anstrengungen unternommen, um Verbrechen in Syrien an den Internationalen Strafgerichtshof zu verweisen. Die Schweiz könnte jedoch den Mechanismus der universellen Gerichtsbarkeit proaktiver nutzen, um die Straflosigkeit internationaler Verbrecher*innen hierzulande zu bekämpfen.