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Bundesgericht: Kopftuchverbot an Schule in St. Margrethen ist unzulässig

14.12.2015

Das Bundesgericht hat am 11. Dezember 2015 einen für die Schweiz wichtigen Grundsatzentscheid zur Kopftuchfrage gefällt. Es hat die Beschwerde einer St. Galler Schule abgewiesen, die das Kopftuchverbot gegenüber einer Schülerin durchsetzen wollte. Nach Ansicht des Bundesgerichts fehlt für diesen Eingriff in die Grundrechte des betroffenen Mädchens ein öffentliches Interesse.

Die SDA fasste den Entscheid und die Reaktionen darauf wie folgt zusammen:

'Eine 2001 geborene, aus Bosnien stammende Schülerin darf in St. Margrethen SG mit Kopftuch zur Schule gehen. Das Bundesgericht hat eine Beschwerde der Schule St. Margrethen im Zusammenhang mit deren Kopftuchverbot abgewiesen.

Das Bundesgericht kam am 11. Dezember 2015 in einer öffentlichen Beratung zum Schluss, dass die gesetzliche Grundlage für ein Verbot zwar vorhanden ist. Weil mit dem Verbot des Tragens eines Kopftuchs aus religiösen Gründen jedoch die Glaubens- und Gewissensfreiheit verletzt wird, müssen mehrere Bedingungen erfüllt sein. In St. Margrethen ist dies nicht der Fall.

Die Bundesrichter hielten fest, es fehle an einem öffentlichen Interesse, das ein Verbot rechtfertigen würde. So werde die für einen geregelten Schulunterricht notwendige Disziplin und Ordnung nicht gestört, wenn eine Schülerin ein Kopftuch trage.

Auch werde der religiöse Friede damit nicht gefährdet, und es finde kein Verstoss gegen das Gleichbehandlungsgebot statt. Was die Integration und Frage der Gleichstellung von Mann und Frau betrifft, so betonten die Richter, dass es eben im Sinne des Mädchens sei, den Unterricht zu besuchen, um danach eine berufliche Laufbahn einschlagen zu können.

Widersprüchliche Reaktionen

Die Föderation Islamischer Dachorganisationen der Schweiz (FIDS) begrüsste das Bundesgerichtsurteil. «Wer behauptet, das Tragen eines islamischen Kopftuchs sei kein Menschenrecht und habe nichts mit der Religion zu tun, der irrt», sagte FIDS-Sprecher Önder Günes auf Anfrage.

Die Schule St. Margrethen SG als Beschwerdeführerin sieht im Kopftuch ein Integrationshindernis. Das Bundesgericht gewichte mit seinem Urteil die individuelle Religionsfreiheit höher als das Interesse an einer erfolgreichen Integration, heisst es in einer Stellungnahme der Schule.

Der Schulrat von St. Margrethen sei nach wie vor überzeugt, dass das Tragen des islamischen Kopftuchs bereits im Kindesalter «ein Symbol für eine fundamentalistische Auslegung des Islams und damit ein Integrationshindernis» sei.

Kölliker froh über Klärung

Der St. Galler Bildungsdirektor Stefan Kölliker (SVP) sagte zum Urteil, er sei «froh, dass diese Frage nun geklärt ist» . Unter Köllikers Führung hatte der St. Galler Erziehungsrat Mitte 2010 den Schulen empfohlen, Kopftücher und andere Kopfbedeckungen im Unterricht zu verbieten.

Für Walter Wobmann, SVP-Nationalrat und Co-Präsident des Komitees für die Volksinitiative «Ja zum Verhüllungsverbot», ist das vom Bundesgericht ausgesandte Zeichen katastrophal. «Es zeigt, dass sich diese Leute gar nicht integrieren müssen und ein Spezialzüglein fahren dürfen», sagte Wobmann.

Für ihn sei klar: Wenn es eine Schulordnung gebe, so müsse diese von allen respektiert werden und niemand dürfe eine Kopfbedeckung tragen. Andernfalls dürften die Jungen im Sinne der Rechtsgleichheit ebenfalls mit einer «Dächlimütze» oder einem Hut den Schulunterricht verfolgen.

Wobmann wies zudem darauf hin, dass es bei der Ende September vom Egerkinger-Komitee lancierten Initiative um die Verhüllung des Kopfes gehe und nicht um die Kopfbedeckung. «Für mich ist das ein klarer Unterschied. Das Kopftuch ist eindeutig weniger schlimm als die Verhüllung des Gesichts.»

Zahlreiche Vorstösse

Kopftuch- und Burkaverbote beschäftigten in letzter Zeit Politik, Behörden und Gerichte in der Schweiz immer wieder. So krebste eine Thuner Schule, die ein kopftuchtragendes moslemisches Mädchen vom Unterricht ausgeschlossen hatte, im vergangenen August zurück, um einen Grundsatzentscheid des Bundesgerichts abzuwarten.

Der St. Galler Kantonsrat überwies Ende 2014 mehrere Vorstösse mit dem Ziel, Kleidervorschriften für die Schule sowie Einschränkungen der Grundrechte von Schulkindern und Eltern gesetzlich zu verankern. Die Walliser SVP lancierte Anfang 2015 eine kantonale Initiative für ein Kopftuchverbot an Schulen.

Der freiburgische Grosse Rat erliess Anfang 2014 für die Volksschule ein Burkaverbot, lehnte aber ein Verbot von Kopfbedeckungen ab. Die Kantonsparlamente von Basel-Stadt, Bern, Schwyz, Solothurn und Zürich sprachen sich gegen Verbote solcher Kleidungsstücke aus.

Im Tessin wurde im Herbst 2013 ein Verhüllungsverbot an der Urne angenommen. Ganzkörperschleier (Burka) und Gesichtsschleier (Niqab) dürfen nicht mehr im öffentlichen Raum getragen werden.' (Ende sda-Zitat)

Entscheid des St. Galler Verwaltungsgerichts

Das St. Galler Verwaltungsgericht hatte die Beschwerde einer muslimischen Familie im November 2014 gutgeheissen und sich gegen das Kopftuchverbot an den Schulen der Gemeinde St. Margrethen ausgesprochen. Das kantonale Gericht hatte das Verbot aus sachlichen Erwägungen abgelehnt. Die Rechtsgrundlage für die Bekleidungsvorschrift hatte das St. Galler Kantonsgericht im Übrigen als genügend eingestuft.

Inhaltliche Begründung

Die Anwendung des allgemeinen Verbots von Kopfbedeckungen während des Schulunterrrichts auf religiös begründete Kopfbedeckungen wie das islamische Kopftuch erweise sich zurzeit als unverhältnismässig, schrieb das St. Galler Verwaltungsgericht in seiner Kurz-Begründung vom 11. Nov. 2014. Das Tragen eines Kopftuches sei nicht in allgemein erkennbarer Weise ein Zeichen für eine Herabminderung der Frau. Es sei angebracht, jene Kleidung zu respektieren, mit welcher ein religiöses Bekenntnis äusserlich erkennbar werde.

Seit dem Sommer 2013 besucht das Mädchen aus Bosnien mit dem islamischen Kopftuch den Schulunterricht, obwohl das Schulreglement ein Verbot festhält. Gemäss Zeitungsberichten gab es mit der Familie im Schulalltag Probleme, unter anderem weil die Eltern des Mädchens die Elternabende nicht besuchen. Das Gericht hält in seinem Urteil deshalb fest, es sei nicht ersichtlich, dass das Tragen des Kopftuchs - «im Gegensatz zu der vom Gericht ausdrücklich nicht gebilligten Verweigerung der Teilnahme an verschiedenen schulischen Aktivitäten und Anlässen, welche aber nicht Gegenstand dieses Verfahrens ist» - ihre Integration in der Klasse beeinträchtige und einem geordneten Schulbetrieb entgegen stehe.  «Ein Kopfbedeckungsverbot während des Schulunterrichts, welches auch das islamische Kopftuch nicht ausnimmt, dürfte dann erwogen werden, wenn sich eine ernsthafte Gefährdung des Religionsfriedens abzeichnen sollte. Solange indessen selbst in Schulen, in denen keine entsprechenden Kleidervorschriften gelten, lediglich vereinzelte Schülerinnen islamischen Glaubens das Kopftuch tragen, ist eine solche Gefährdung nicht erkennbar.» 

Zur Rechtsgrundlage

Die Schulgemeinde sei befugt, eine Schulordnung zu erlassen, die im Interesse eines geordneten Schulbetriebs und der Bewahrung des Religionsfriedens auch Kleidervorschriften enthalten könne, schreibt das Verwaltungsgericht in seiner Kurz-Begründung vom 11. Nov. 2014. Das Verbot, während des Unterrichts eine Kopfbedeckung zu tragen, sei dem fakultativen Referendum unterstanden und könne deshalb auch Grundlage für eine schwerwiegende Einschränkung der Grundrechte der Schülerinnen und Schüler sein. 

Die Frage der Rechtsgrundlage war bedeutsam, weil das Bundesgericht im Juli 2013 im Fall der Thurgauer Gemeinde Bürglen entschieden hatte, dass ein entsprechender Eingriff in die Glaubensfreiheit der Schülerinnen nicht ohne gesetzliche Grundlage erfolgen dürfe. Die Schulgemeinde Bürglen hatte das Kopftuchverbot auf der Grundlage ihrer seit 15 Jahren gültigen Schulordnung durchsetzen wollen, die ohne Referendumsmöglichkeit zustande gekommen war (siehe hierzu: Kopftuchverbot an Schulen: Verbot in Schulordnung nicht wirksam). 

Das Verbot in der Schule von St. Margrethen geht hingegen auf eine Weisung des St. Galler Bildungsdepartements zurück. Gegen die aufgrund dieser Weisung erfolgte Änderung der Schulordnung hätten Gegner offenbar das Referendum ergreifen können. Damit ist die Sachlage anders als im Fall Bürglen, obwohl auch in St. Margrethen keine eigentliche gesetzliche Grundlage für das Verbot bestand. Zwar bestehen im St. Galler Kantonsparlament Bestrebungen, eine solche gesetzliche Grundlage für ein Kopftuchverbot zu schaffen. Aber das Kantonsparlament will gemäss dem St. Galler Tagblatt abwarten, bis sich das Bundesgericht zu einem Fall geäussert hat, bei welchem eine gesetzliche Grundlage für ein Kopftuchverbot besteht.

Dokumentation