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Römisch-Katholisches Kirchenrecht

27.01.2023

Das römisch-katholische Kirchenrecht wird auch kanonisches Recht genannt. Nach eigenem Verständnis ist die römisch-katholische Kirche eine Rechtskirche, wodurch ihren Handlungen nicht nur theologische und liturgische, sondern auch rechtliche Regeln zugrunde liegen.

Faktisch ist die Einhaltung der Normen für die Gläubigen der römisch-katholischen Kirche vor allem ein freiwilliger Akt. Zudem können sie sich der Gerichtsbarkeit der Kirche etwa durch einen Kirchenaustritt entziehen. Personen im kirchlichen Dienst stehen in einem stärkeren Abhängigkeitsverhältnis und sind dadurch eher an das kirchliche Recht gebunden.

Legitimation

Die Lehre der römisch-katholischen Kirche unterscheidet zwischen göttlichem Recht (ius divinum) und menschlichem Recht (ius humanum). Das göttliche Recht gilt als von Gott an die Menschen weitergegeben und ist durch sie nicht veränderbar, während das menschliche Recht von Menschen geschaffen und verändert werden kann. Das göttliche Recht enthält zum einen das Naturrecht (ius divinum naturale), dessen Normen sich aus der Gottgeschaffenheit der Natur und der Menschen ableiten. Dazu gehören etwa das Recht auf Leben und das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Zum anderen enthält das göttliche Recht das positive göttliche Recht (ius divinum positivum), welches sich aus den Glaubenstexten ergibt. Ein Beispiel dafür ist die Unmöglichkeit der Auflösung der Ehe.

Rechtsgrundlagen

Die Anfänge des katholischen Rechts lassen sich bis ins zweite Jahrhundert zurückverfolgen. Das wichtigste gültige Gesetzbuch der römisch-katholischen Kirche ist der Codex Iuris Canonici von 1983 (CIC/1893), welcher vorhergehende Rechtstexte ersetzt hat. Der CIC umfasst sieben Bücher, ist im Original auf Lateinisch verfasst und enthält menschliches sowie göttliches Recht. Neben dem CIC gibt es weitere Gesetze und Rechtsquellen: dazu gehören Dekrete, in denen der zuständige kirchliche Gesetzgeber Vorschriften erlassen kann, Ausführungsdekrete, welche die Gesetzesanwendung für Gläubige genauer ausführen oder deren Wichtigkeit bestärken, sowie Instruktionen, welche Gesetzte für kirchliche Verwaltungsorgane präziser bestimmen. Grosse Bedeutung hat in der römisch-katholischen Kirche ausserdem das Gewohnheitsrecht. In Einzelfällen ist es anhand von Dekreten, Privilegien oder Dispensen möglich, ausnahmsweise vom geltenden Recht abzuweichen.

Im römisch-katholischen Kirchenrecht wird zwischen Universal- und Partikularrecht unterschieden. Das Universalrecht gilt für die gesamte römisch-katholische Kirche, das Partikularrecht nur für bestimmte regionale Teile oder Personengruppen. Die Schweizer Bistümer und die Schweizer Bischofskonferenz haben jeweils eigenes Partikularrecht erlassen, um das Universalrecht zu ergänzen und das kirchliche Leben zu regeln. Zu den Rechtsgrundlagen der römisch-katholischen Kirche gehören ausserdem das Ordensrecht innerhalb einzelner separat organisierter geistlicher Gemeinschaften – wie Klöster oder Missionen –  sowie das Konkordatsrecht. Konkordate sind völkerrechtliche Verträge zwischen dem Heiligen Stuhl – dem völkerrechtlichen Subjekt des Vatikans – und einzelnen Staaten, anhand welcher die Beziehungen zwischen den beiden Parteien geregelt werden.

Da die römisch-katholische Kirche in der Schweiz dual organisiert ist, gibt es auf kantonaler Ebene zudem Kirchenstatuten, Kirchenverfassungen und/oder Kirchenordnungen. Die Kirchenverfassung enthält die grundlegenden organisatorischen Bestimmungen der Kantonalkirchen, wie beispielsweise die Gliederung der Kirche sowie die Zuständigkeiten der verschiedenen Organe. Bei der öffentlich-rechtlichen Anerkennung wird die Kirchenverfassung durch die jeweiligen Kantone genehmigt.

Rechtsfortbildung und Rechtsprechung

Neben päpstlichen Ergänzungen im Universal- und Partikularrecht wird das römisch-katholische Recht durch das Gewohnheitsrecht und die Rechtsprechung kirchlicher Gerichte weiterentwickelt. Im Spätmittelalter hatte die Rechtsprechung der katholischen Kirche noch grosses Gewicht und urteilte auch über weltliche Konflikte. Seither verlor sie stetig an Bedeutung. In der Schweiz wurde die geistliche Gerichtsbarkeit im Jahr 1874 abgeschafft (BV 1874, Art. 58 Abs.2). Heute werden nur noch interne Angelegenheiten von den römisch-katholischen Gerichten behandelt, welche hauptsächlich Ehenichtigkeitsprozesse betreffen. Die meisten Konflikte werden zudem nicht mehr vor Gericht oder anhand des Kirchenrechts gelöst, sondern informell oder auf Verwaltungsebene beigelegt.

In der römisch-katholischen Kirche gibt es keine Gewaltenteilung zwischen der gesetzgebenden und der ausführenden Gewalt. Der Papst kann den CIC anpassen und ist gleichzeitig höchster Richter. Selbst kann der Papst nicht vor Gericht gezogen werden. Für die generelle Auslegung des CIC ist der Päpstliche Rat für Gesetzestexte zuständig. Er überprüft die einheitliche Anwendung der gesamtkirchlichen Normen und stellt sicher, dass die einzelnen Partikularrechte dem gesamtkirchlichen Recht nicht widersprechen. Der CIC selbst wurde seit 1983 nur wenig aktualisiert und ergänzt, weil dies ausschliesslich über päpstliche Erlasse möglich ist.

Für die Bearbeitung individueller Fälle sind zur Durchsetzung des Kirchenrechts darin eine Gerichtsverfassung und eine Verfahrensordnung enthalten. Die drei im CIC festgehaltenen Verfahrensarten sind das Streitverfahren, das Strafverfahren und das Verwaltungsgerichtsverfahren. Es gibt drei hierarchisch angeordnete Gerichte, welche sich auf den Ebenen der Bistümer, Erzbistümer und des Papstes befinden. Das Gericht erster Instanz ist das Bischöfliche Gericht. Vor der zweiten Instanz, dem Metropolitangericht, kann Berufung gegen Entscheide des bischöflichen Gerichts eingelegt werden. In der Schweiz gibt es kein Erzbistum. Hier ist das Interdiözesane kirchliche Gericht in Freiburg als zweite Instanz für Berufungen zuständig. Als dritte und letzte Instanz walten die beiden päpstlichen Gerichte der Römischen Rota und der Apostolischen Signatur, welche vom Papst delegiert – in lateinischer Amtssprache – Recht sprechen.

Verhältnis zum staatlichen Recht

Während die Weltkirche mit ihren Bistümern dem römisch-katholischen Kirchenrecht untersteht, ist für die öffentlich-rechtlich anerkannten Kantonalkirchen in der Schweiz das öffentliche Recht und die Kirchenverfassung massgebend. So sind Benachteiligungen von weiblichem Personal in den Kantonalkirchen nicht zulässig, während in der Weltkirche nach kanonischem Recht Frauen weiterhin bestimmte Ämter nicht ausüben dürfen. In den Kantonen Genf und Neuenburg, wo die römisch-katholische Kirche nicht öffentlich-rechtlich anerkannt ist, untersteht das Kirchenrecht dem Privatrecht – die kantonale römisch-katholische Kirche ist dort als zivilgesellschaftlicher Verein organisiert.

Verhältnis zu den Menschenrechten

Während die Menschenrechte im 19. Jahrhundert von vielen europäischen Ländern in ihr Verfassungsrecht übertragen wurden, stand die römisch-katholische Kirche ihnen noch ablehnend gegenüber. Mit dem Dignitatis Humanae (1965) des Zweiten Vatikanischen Konzils wurden dann die Religionsfreiheit und die weltanschauliche Neutralität des Staates anerkannt. In der Enzyklika Lumen Gentium (1965) des Zweiten Vatikanischen Konzils wurde ausserdem die Gleichstellung der Geschlechter gefordert, was mit dem Wesen des Menschen als Ebenbild Gottes gerechtfertigt wurde. Gleichheit zwischen den Geschlechtern besteht im Recht der römisch-katholischen Kirche jedoch nicht in allen Belangen. Beispielweise können Frauen nicht zur Priesterin geweiht werden, was 1994 von Papst Johannes Paul II. als endgültig bestätigt wurde und seit 1998 intern sogar strafrechtlich sanktioniert werden kann.

Neben im Kirchenrecht explizit festgehaltenen Rechten, welche – wie beispielsweise die Ungleichbehandlung der Frauen – in Konflikt mit den Menschenrechten stehen können, gibt es im Recht der römisch-katholischen Kirche auch Sanktionen gegen Menschenrechtsverstösse, wie beispielsweise gegen den Missbrauch von Kindern. Die kirchenrechtliche Höchststrafe ist die Entlassung aus allen kirchlichen Ämtern. Sie kann jedoch nur als innerkirchliche Massnahme zusätzlich angewendet werden und entbindet nicht von der staatlichen Gerichtsbarkeit. Verstösse gegen das staatliche Strafrecht werden von der Staatsanwaltschaft verfolgt und die strafrechtlich vorgesehenen Sanktionen werden durchgesetzt.

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