humanrights.ch Logo Icon

Jüdisches Recht

27.01.2023

Das jüdische Rechtssystem umfasst viele verschiedene Richtungen und Auslegungen und wird mit dem Wort Halacha bezeichnet. Die Halacha unterscheidet nicht zwischen religiösen und weltlichen Vorschriften, sondern enthält Bestimmungen zu allen Lebensbereichen, wie etwa zu Geschäftsbeziehungen, zwischenmenschlichen oder medizinischen Fragen oder zum Verhalten während des Geschlechtsverkehrs.

«Das» Judentum existiert nicht als einheitliches Gebilde, sondern besteht – auch in der Schweiz – aus verschiedenen Strömungen, in denen jüdische Gesetze unterschiedlich ausgelegt werden. Laut dem Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund SIG machen den grössten Teil der jüdischen Gemeinschaft in der Schweiz säkulare jüdische Menschen aus. Teile von ihnen würden bestimmte religiöse Regeln und Gesetze einhalten, während andere sich dazu entschieden, sich gar nicht an die religiösen Gesetze zu halten.

Legitimation

In Strömungen des orthodoxen Judentums wie des liberaleren Reformjudentums, gibt es unterschiedliche Formen der Legitimation des religiösen Rechts. In Gemeinden des orthodoxen Judentums wird das jüdische Religionsgesetz mehrheitlich als göttliche Offenbarung (mündliche und schriftliche Thora) beschrieben, welche den Menschen von Gott am Berg Sinai überreicht wurde. In Strömungen des Reformjudentums wird die schriftliche Thora als unter göttlicher Eingebung von Menschen geschaffen verstanden. Damit werden auch die historischen Umstände bei der Erschaffung der Thora in die Auslegung und Anpassung des Rechts mit einbezogen.

Rechtsgrundlagen

Die Halacha setzt sich aus der schriftlichen Überlieferung der Thora sowie der mündlichen Lehre aus Mischna und Talmud zusammen. Der Gesetzeskodex Schulan Aruch (dt. Gedeckter Tisch) aus dem 16. Jahrhundert wird weltweit als verbindliches halachisches Kompendium anerkannt uns gilt besonders bei orthodoxen Gruppen als grundlegendes Gesetzesbuch, auf das immer wieder Bezug genommen wird. Zum Schulan Aruch gibt es verschiedene Kommentare, wie beispielsweise die Mischna Bura. Zudem existieren grosse Sammlungen von sogenannten «Responsen», in welchen rabbinische Instanzen spezifische halachische Fragen einzelner Personen oder Gemeinden beantworten. Sie spielen ebenfalls eine zentrale Rolle in der religionsgesetzlichen Literatur der Moderne.

Rechtsfortbildung und Rechtsprechung

Je nach Art der Legitimation des religiösen Rechts sind unterschiedliche Möglichkeiten der Rechtsfortbildung und -anpassung erlaubt. Im orthodoxen Judentum, welches von der direkten Überlieferung des Rechts von Gott an die Menschen ausgeht, ist es verboten, das göttliche Gesetz aufgrund menschlicher Überlegungen zu verändern. Ausnahmen bilden Ergänzungen zu Themen, die mit der Zeit neu aufkommen, wie beispielswiese die Nutzung elektronischer Geräte am Schabbat. Sie werden durch durch die Bezugnahme auf bereits bestehende Vorschriften geklärt.

Im Reformjudentum, welches von der menschlichen Beteiligung an der Schaffung der Gesetze ausgeht, können die die Gesetze und die Rechtsanwendung angepasst werden. Dabei werden der historische Entstehungskontext sowie neue Ansprüche der Gegenwart miteinbezogen. In verschiedenen Strömungen und Gemeinden entstehen dadurch unterschiedliche Versionen der einzuhaltenden Gesetze.

Es gibt keine zentrale hierarchische Autorität, welche für die Entscheidung über Fragen des halachischen Rechts entscheidet. Für dessen Auslegung sind die Gelehrten des Talmuds und die Rabbiner*innen zuständig. Individuelle Fragen werden von den Gelehrten beantwortet, was zu einer grossen Sammlung an verschiedenen «Responsen» in der Rechtsfortbildung führt. Es besteht heute sogar die Möglichkeit mittels «virtuellen Responsen» halachische Fragen online von Gelehrten beantworten zu lassen. Die halachischen Fragen werden aufgrund des individuellen Verständnisses und der Textauslegung der Gelehrten beantwortet. Ihre Entscheide werden zu Präzedenzfällen und Sammlungen, welche im Lauf der Zeit weiterinterpretiert werden.

Neben den Gelehrten und Rabbiner*innen existieren in der Schweiz Rabbinatsgerichte, welche hauptsächlich über religiöse Fragen wie Religionsübertritte, religiöse Eheschliessungen und Scheidungen entscheiden. Die Rabbinatsgerichte können nur in Bereichen urteilen, in welchen der Staat dies zulässt und die im staatlichen Recht nicht bereits verbrieft/geregelt sind. In 10 – 20 Fällen pro Jahr werden sie auch in Zivilstreitigkeiten beigezogen – weil die Betroffenen sich nicht vor einem amtlichen Gericht einigen wollen. Der Staat kann die Rabbinatsgerichte als offizielle Schiedsgerichte anerkennen (Art. 353ff. ZPO). In diesem Fall werden die Gerichte von amtlichen richterlichen Behörden unterstützt, welche etwa die zwingenden Prozessvoraussetzungen des Schweizer Rechts fortlaufend überprüfen.  

Verhältnis zum Staatlichen Recht

Im halachischen Recht existiert der Grundsatz «Dina de-Malchute Dina» (dt. Landesrecht ist Recht). Demnach soll das staatliche Recht über das halachische Recht gestellt werden, solange damit nicht die zentralen Verbote des halachischen Rechts tangiert werden, dieser Vorrang im finanziellen Interesse der Regierung liegt und das staatliche Recht im Interesse der Bevölkerung erlassen wurde. In der Schweiz findet das jüdische Recht deshalb vor allem in religiösen Fragen Anwendung.

Verhältnis zu den Menschenrechten

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte gilt nach dem Grundsatz «Dina de-Malchute Dina» als Recht der allgemeinen Gesellschaft – wie Landesrecht – über dem halachischen Recht. In heutigen rabbinischen Responsen wird sie meistens als geltendes gesellschaftliches Recht miteinbezogen, auch wenn sie kein religiöser Text ist.

Weitere Informationen