12.04.2021
Im Jahr 2020 sahen sich Polizeikräfte auf der ganzen Welt mit dem steigenden Unmut über polizeiliche Übergriffe auf Zivilist*innen konfrontiert; insbesondere im Zusammenhang mit der Black-Lives-Matter-Bewegung. Um die Beziehung zwischen der Polizei und der Bevölkerung zu verbessern, hat der Kanton Genf im Jahr 2016 ein Mediationsorgan im Polizeibereich – «organe de médiation police» (OMP) – ins Leben gerufen. Der Zugang zur Justiz für die Opfer von Polizeigewalt hat sich in Genf dadurch jedoch nicht verbessert.
Das im Jahr 2016 in Betrieb genommene Mediationsorgan im Polizeibereich (organe de médiation police OMP) ist in der Westschweiz ein Novum. Nachdem der Bundesrat die Empfehlung der UNO zur Errichtung einer unabhängigen Beschwerdestelle für Polizeigewalt angenommen hat, ist es Sache der Kantone, diese Forderung umzusetzen. Genf ist bis anhin der einzige Kanton, der ein entsprechendes Organ mit einem Fokus auf polizeiliches Fehlverhalten errichtet hat. Die Stelle erhielt im Jahr 2019 ganze 91 Anfragen, was die Notwendigkeit und den Bedarf des Mediationsorgans für die Schweizer Bevölkerung verdeutlicht. Die Reichweite wie auch die Handlungsmöglichkeiten des OMP bleiben jedoch begrenzt, da sich die Institution auf die Bearbeitung von anstössigem Verhalten und geringfügigen Vergehen durch die Polizei beschränkt und die Opfer von gröberen polizeilichen Übergriffen aussen vorlässt.
«Ein sachgerechtes Verständnis für die Arbeit der Polizei»
Das Mediationsorgan zielt darauf ab, Konflikte zwischen Polizeibeamt*innen und Personen aus der Zivilgesellschaft einvernehmlich zu lösen, ohne auf ein Gerichtsverfahren zurückgreifen zu müssen. Sowohl die Zivilbevölkerung, (kommunale) Beamt*innen, Polizeikommandant*innen, als auch der Regierungsrat und Verbände können sich im Namen einer Person oder einer Gruppe an das Mediationsorgan wenden. Da es sich allerdings darauf fokussiert, ein «sachgerechtes Verständnis der Öffentlichkeit für die Arbeit der Polizei zu gewährleisten» (Art. 62 Abs. 2 lit. d Genfer Polizeigesetz), dient das OMP eher als Feigenblatt, anstatt effektive Mittel gegen polizeiliches Fehlverhalten zur Verfügung zu stellen.
Die Befugnisse des Mediationsorgans sind sehr begrenzt. Zunächst einmal basiert das Mediationsverfahren auf dem Prinzip der Freiwilligkeit, womit keine Partei zur Teilnahme am Verfahren gezwungen werden kann: Beschuldigte Polizeibeamt*innen können sich dem Dialog mit beschwerdeführenden Personen verweigern, ohne dadurch negative Konsequenzen fürchten zu müssen. Darüber hinaus kann das OMP als ungerechtfertigt erachtete Bussgelder nicht zurückzunehmen und keine vor Gericht hängigen Fälle prüfen – es sei denn, sie wird ausdrücklich von der Staatsanwaltschaft damit beauftragt, was jedoch ein Strafverfahren voraussetzt.
Das Mediationsorgan darf sich zudem nicht in polizeiinterne Konflikte einmischen und nimmt keine anonymen Beschwerden entgegen. Dass dies auf Menschen, welche sich vor negativen Konsequenzen einer Beschwerde fürchten, eine abschreckende Wirkung hat, liegt auf der Hand. Weiter befasst sich das Mediationsorgan nicht mit Fällen von körperlicher Gewalt. Unter diesen Umständen müssen die Betroffenen vielmehr eine Strafanzeige beim Polizeikommando oder der Staatsanwaltschaft einreichen. Diese können im Folgenden die kantonale Generalinspektionsstelle (Inspection générale des services IGS), welche administrativ wiederum der Polizeivorsteherin unterstellt ist, mit der Durchführung von Ermittlungen oder einem Strafverfahren gegen Polizeibeamt*innen beauftragen.
Die Unabhängigkeit des OMP ist auf Verordnungsebene festgehalten (Art. 3 RMédPol). Administrativ ist das Mediationsorgan dem Departement für Sicherheit, Arbeit und Gesundheit (département de la sécurité, de l’emploi et de la santé) unterstellt. Obwohl es ähnliche Aufgaben wahrnimmt, handelt es sich jedoch nicht um eine parlamentarische Ombudsstelle, da die Hauptmediator*innen und ihre Stellvertreter*innen auf Vorschlag des Departements für Sicherheit vom Regierungsrat ernannt werden (Art. 4 Abs. 1 RMédPol).
Und im Fall von Polizeigewalt?
Racial Profiling, willkürliche Verhaftungen, unverhältnismässige Gewaltanwendungen, Demütigungen, Beleidigungen, rechtswidrige Beschlagnahmungen: Polizeigewalt beschränkt sich nicht auf körperliche Gewalt und kann sich auf unterschiedliche Weise manifestieren. Laut Anna Sergueeva, einer Anwältin aus Genf, welche regelmässig Opfer von Polizeigewalt vertritt, sind gewisse Praktiken besonders strittig: So etwa unbegründete Leibesvisitationen, welche sehr häufig – bei Sans-Papiers fast systematisch – während des Polizeigewahrsams auf der Wache durchgeführt werden. Für die Durchsuchung müssen sich die Betroffenen manchmal sogar vollständig entkleiden, wodurch sie zusätzlich gedemütigt werden. Diese Vorkommnisse stellen mit hoher Wahrscheinlichkeit Fälle von Amtsmissbrauch dar, die Gegenstand einer Strafanzeige sein könnten. Das Bundesgericht hat in einem Urteil aus dem Jahr 2019 sogar anerkannt, dass diese Praxis – wenn keine ernsthaften und konkreten Anhaltspunkte für eine Selbst- oder Fremdgefährdung bestehen – gegen die Menschenwürde verstösst.
Die Gründe, aus welchen das Mediationsorgan von der Bevölkerung in Anspruch genommen wird, sind aufschlussreich: Die überwiegende Mehrheit der Beschwerden erfolgt aufgrund des Verhaltens von Beamt*innen, welches als «autoritär, arrogant, unkooperativ und teilweise verachtend wahrgenommen wird», heisst es im Tätigkeitsbericht des Mediationsorgans für das Jahr 2018. Es handelt sich dabei um Situationen, in welchen die Bürger*innen «durch die Art und Weise der Intervention und die als unnötig verletzend empfundenen Kommentare herausgefordert, gestört und manchmal schockiert wurden». Zugleich stellt das OMP fest, «dass die überwiegende Mehrheit der Personen, wenn nicht sogar alle, die sich einer Durchsuchung unterziehen mussten, diese als ein demütigendes, ja sogar traumatisches Erlebnis empfanden» (S.15). Diese Aussagen verdeutlichen den gewaltsamen und problematischen Charakter, welcher dieser Praxis innewohnt. Weiter wurde im Jahr 2019 mehr als die Hälfte der Beschwerden wegen unangemessener Gewaltanwendung eingereicht, so der Tätigkeitsbericht des OMP für das Jahr 2019 (S. 15). Die Schlussfolgerung dieses Berichtes, wonach die Reaktionen der Betroffenen nicht nur durch die Haltung der Polizeibeamt*innen bedingt sind, «sondern auch durch das, was sie symbolisieren: Autorität; zu der jeder Einzelne ein anderes und sicher nicht ungefährliches Verhältnis hat», beschränkt die Problematik jedoch auf psychologische und individuelle Aspekte und anerkennt nicht ihren kollektiven und institutionellen Charakter.
Zugang zur Justiz: Für die Opfer so beschwerlich wie zuvor
Menschen, die sich von Gewalt durch Polizeibeamt*innen betroffen fühlen, müssen sich zwischen einer Mediation und einer Strafanzeige entscheiden, wobei Letztere die meisten Personen abschreckt. Der strafrechtliche Weg ist langwierig, komplex und kann schwerwiegende Folgen haben, da Polizeibeamt*innen der Beschwerde ihrerseits mit Strafanzeigen wegen Gewalt, Drohung gegen die Staatsgewalt oder der üblen Nachrede entgegenzuwirken können. Die Anwältin Anna Surgueeva weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Polizeibeamt*innen teilweise gar von der Einreichung einer Strafanzeige abraten oder deren Aufnahme verweigern, wenn darin ihre Kolleg*innen beschuldigt werden – obwohl es klar nicht ihre Aufgabe ist, rechtliche Bewertungen vorzunehmen.
Jedoch ist auch im Strafverfahren eine Mediation möglich: Die Staatsanwaltschaft kann mit Zustimmung der Parteien einen Fall an das Mediationsorgan weiterleiten. Gemäss Surgueeva kann dies durchaus positive Effekte haben: In Fällen eskalierter Gewalt besitzen die Parteien die Möglichkeit ihren Streit ausdiskutieren, anstatt ihn durch ein Strafverfahren beilegen zu müssen. Manche gewaltsamen Eingriffe gehören schliesslich zur Pflicht der Polizeibeamt*innen, insbesondere in Fällen häuslicher Gewalt. Um die Unabhängigkeit zu wahren, sollte die Mediation gemäss Surgueeva jedoch von Sonderstaatsanwält*innen durchgeführt werden, die sich umfassend mit institutioneller Gewalt, insbesondere im Freiheitsentzug, befassen. Eine Verlagerung vom Strafverfahren hin zur Mediation wäre in der Praxis sinnvoll – in dem Sinne könnte das Mediationsorgan das Verfahren sinnvoll ergänzen.
Im Genfer Strafverfahren vergeht zwischen der Einreichung einer Beschwerde und der Anhörung der Beschwerdeführenden durch die Generalinspektionsstelle (Inspection générale des services IGS) nicht selten ein ganzes Jahr. Statt mit dem Mediationsorgan ein neues Gremium zu schaffen, wäre es deshalb wohl sinnvoller gewesen, die IGS mit mehr Ressourcen auszustatten und sie in ein ständiges, völlig unabhängiges Gremium umzuwandeln, welches sich mit polizeilichem Fehlverhalten befasst. Obwohl das Polizeigesetz festlegt, dass die Mitglieder der Generalinspektionsstelle nicht der Polizei angehören und nicht der Polizeihierarchie unterstellt sind (Art. 63 LPol), bleibt die Dienststelle de facto aber ein polizeiinternes Kontroll- und Ermittlungsorgan: Infrastruktur und das Personal werden von der Polizei gestellt. Sie steht zudem in Abhängigkeit zum Genfer Generalstaatsanwalt, der seinerseits die Kommission für Justizaufsicht (Commission de gestion du pouvoir judiciaire) präsidiert. Die Unabhängigkeit der strafrechtlichen Ermittlungen ist in Genf damit nach wie vor nicht gewährleistet.
Nach der Gründung des Genfer Generalinspektionsstelle im Jahr 2009 bat der Europäische Ausschuss zur Verhütung von Folter CPT diese um zusätzliche Informationen, da Zweifel an ihrer Unabhängigkeit bestanden. Diese Zweifel des Antifolterausschusses gründeten nicht zuletzt in einem Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, welcher die Unabhängigkeit einer polizeiinternen Beschwerdestelle im Vereinigten Königreich für unzureichend befunden hatte (EGMR, Khan v, The United Kingdom, 35394/97 (2000); SKMR-Studie, S. 19, 48). Im Jahr 2015 wiederholte das CPT seine Forderung, die Unabhängigkeit der Generalinspektionsstelle zu stärken, die nach wie vor der Genfer Polizei unterstellt ist und über kein eigenes Budget verfügt. Unter diesen Umständen wird der Vorbildcharakter der Institution untergraben, bestätigt Frédéric Maillard, Analyst für polizeiliche Praktiken. Für ihn ist die Schaffung einer unabhängigen Beschwerdestelle eine absolute Notwendigkeit: «Die Polizei garantiert gegenüber der Bevölkerung ein System, dem sie auch intern Geltung verschaffen muss. Während die Polizei das Prinzip der Gewaltenteilung öffentlich verteidigt, vernachlässigt sie diesen Grundsatz in der eigenen Struktur.»
OMP: Ein Vorbild für andere Kantone?
Sechs Kantone verfügen über kantonale Mediationsstellen, die sich mit Beschwerden gegen übermässige Gewaltanwendung durch Polizist*innen befassen. Während die Kantone Zürich, Zug, Basel-Landschaft, Freiburg und Waadt über je eine Ombudsstelle verfügen, die nicht speziell auf polizeiliche Angelegenheiten ausgelegt ist, errichtete der Kanton Waadt ein Mediationsorgan nach dem Genfer Vorbild. Dies nachdem der waadtländer Grossrat noch im Jahr 2019 einen entsprechenden Vorschlag der Gruppe Ensemble à Gauche abglehnt hatte – mit Verweis auf die Existenz der kantonalen Schlichtungsstelle (Bureau cantonal de médiation administrative). Im Januar 2019 wurde schliesslich doch der neue Dienst «médiation, doléances et remerciements» (Vermittlung, Beschwerden und Danksagungen) der Waadtländer Kantonspolizei ins Leben gerufen, der nach den Worten von Staatsrätin Béatrice Métraux «an Kraft gewinnen» wird. Métraux erläuterte, dass bereits jetzt jede Beschwerde systematisch an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet und schriftlich beantwortet wird.
Es darf trotzdem nicht vergessen gehen, dass das Genfer Modell eine einfaches Mediationsorgan bleibt, welches seine Aufgabe im Tätigkeitsbericht 2019 wie folgt zusammenfasst: «Auch wenn es keine Einigung gibt, hat danach jede Partei eine bessere Vorstellung von der Sichtweise der anderen» (S. 21). Die Perspektive, welche das OMP für 2020 formuliert, lässt keine grossen Veränderungen erwarten: Das Mediationsorgan werde sich «in erster Linie auf das Verständnis der Funktionsweise der Polizei, ihrer Organisation und der Herausforderungen des polizeilichen Alltags» konzentrieren (S. 23). Kantonale Gremien nach dem Vorbild des OMP bleiben daher zwangsläufig hinter dem eigentlichen Mandat zurück, das Beschwerdestellen für polizeiliches Fehlverhalten erfüllen müssten: effektiv unabhängige Untersuchungsmechanismen einzurichten, wie es sich die Schweiz – durch die Annahme entsprechender Empfehlungen des UNO-Menschenrechtsrates – auf die Fahnen geschrieben hat und wie es die Zivilgesellschaft seit Jahren verlangt.