23.06.2020
Das Bundesgericht heisst eine Beschwerde gegen das revidierte Berner Polizeigesetz teilweise gut. Es hebt die Regelungen zur Wegweisung und automatischen Strafandrohung bei illegalem «Campieren» sowie die Bestimmung zum Einsatz von technischen Überwachungsgeräten durch die Kantonspolizei auf.
Die Erste öffentlich-rechtliche Abteilung des Bundesgerichts hatte sich mit dem Berner Polizeigesetz zu beschäftigen, nachdem zwei Privatpersonen und 19 Organisationen, darunter humanrights.ch, Beschwerde erhoben hatten. Sie machten geltend, das vom Berner Grossen Rat im März 2018 beschlossene und vom Berner Stimmvolk im Februar 2019 deutlich angenommene Gesetz verletzte zentrale Rechtsnormen des Bundesrechts. Die Beschwerdeführenden forderten die Aufhebung der Bestimmungen zur Wegweisung von Fahrenden, zur Kostenüberwälzung auf Organisator*innen von Veranstaltungen im Falle von gewalttätigen Ausschreitungen und der weitreichenden Überwachungskompetenzen der Polizei - sie beantragten eine sogenannte abstrakte Normenkontrolle. Das Bundesgericht hiess die Beschwerde in seinem Urteil 1C_181/2019 teilweise gut und hob insgesamt vier Artikel des totalrevidierten Berner Polizeigesetzes auf.
Fahrende als Zielscheibe der Regeln über illegales «Campieren»
Mit den neuen Regeln über illegales «Campieren» bezweckte die Berner Legislative in erster Linie, eine schnellere Wegweisung von Fahrenden zu ermöglichen. Die Polizei hätte dadurch Personen, die ohne Erlaubnis auf einem öffentlichen oder privaten Grundstück rasten, mittels vor Ort schriftlich ausgestellter Verfügung wegweisen können. Bei Nichtbefolgung der Wegweisung innerhalb von 24 Stunden wäre die Polizei zur Räumung des Geländes befugt gewesen, wobei keine Beschwerdemöglichkeit vorgesehen war. Die Beschwerde führenden Organisationen störten sich zunächst daran, dass durch die neuen Bestimmungen gezielt Fahrende ins Visier genommen wurden. Für diese bedeutete eine Regelung, wie sie vom Berner Grossen Rat formuliert und vom Stimmvolk abgesegnet worden war, einen erheblichen Eingriff in ihr Recht auf Privat- und Familienleben. Dies gilt umso mehr, als dass der Kanton Bern nicht genügend Standplätze zur Verfügung stellt, um allen Fahrenden das Abstellen ihres Wohnwagens zu ermöglichen. Ferner war das Fehlen jeglicher Beschwerdemöglichkeiten gegen eine Wegweisung zu beanstanden, wären die Betroffenen dadurch doch sämtlicher Verfahrensgarantien beraubt worden.
Das Bundesgericht kam in seinem Urteil nun zum Schluss, dass eine solche Regelung für schweizerische wie ausländische Fahrende einen nicht zu rechtfertigenden Eingriff in das Privat- und Familienleben bedeutet. Es hob deshalb die Bestimmung auf. Ebenfalls aufgehoben hat es die damit zusammenhängende Gesetzesnorm, wonach jede Massnahme zur Wegweisung und Fernhaltung zwingend mit der Strafandrohung von Artikel 292 des Schweizerischen Strafgesetzbuchs (Ungehorsam gegen amtliche Verfügungen) zu verbinden gewesen wäre - damit hätten die Betroffene selbst in leichten Fällen stets mit einem Bein in einem Strafverfahren gestanden. Die Lausanner Richter erachteten einen derartigen Automatismus in nicht schwerwiegenden Fällen weder zum Schutz der Öffentlichkeit erforderlich noch für die Betroffenen zumutbar.
Überwachungsmassnahmen verletzen Privatsphäre
In der Beschwerde wurde weiter das umfassende Observationsinstrumentarium kritisiert, welches der Kanton Bern der Polizei an die Hand geben wollte, und zwar ohne eine gerichtliche Genehmigung der Massnahmen vorzusehen. So wäre etwa eine Überwachung mittels GPS bereits möglich gewesen, wenn noch gar keine Straftat verübt worden ist. Auch die sonstigen Voraussetzungen waren im Vergleich zur Gesetzgebung auf Bundesebene deutlich weniger streng. Es wäre alleine in der Kompetenz der zuständigen Polizist*innen gelegen, bereits bei «ernsthaften Anzeichen» auf ein mögliches Verbrechen oder Vergehen eine Überwachung zu veranlassen. Eine Überprüfung durch ein Gericht war nicht vorgesehen, und zwar weder vor noch nach Anordnung der Überwachung.
Zwar sind ähnliche Überwachungsmassnahmen grundsätzlich auch in der Schweizerischen Strafprozessordnung (StPO) vorgesehen, jedoch sind diese an deutlich strengere Voraussetzungen gebunden. Namentlich ist im Regelfall die Genehmigung durch das Zwangsmassnahmengericht erforderlich, wobei Erkenntnisse aus nicht genehmigten Überwachungsmassnahmen unverwertbar sind. Indem die bernische Regelung keine derartigen verfahrensrechtlichen Garantien vorsah, verletzte sie auch in den Augen der Bundesrichter*innen die Privatsphäre der potentiell von der Überwachung betroffenen Personen.
Kostenüberwälzung verursacht «chilling effect»
An den Bestimmungen zur Kostenüberwälzung bei Veranstaltungen mit Gewalttätigkeiten wurde von den Beschwerdeführenden schliesslich bemängelt, dass dadurch die Versammlungs- und Meinungsäusserungsfreiheit verletzt würde. Müssen Veranstalter von Kundgebungen befürchten, die aufgrund von (durch sie oft nicht zu antizipierenden) gewalttätigen Ausschreitungen anfallenden Kosten eines Polizeieinsatzes zu tragen, so hat dies eine abschreckende Wirkung. Es kommt zu einem sogenannten «chilling effect»: Personen verzichten aufgrund der möglichen finanziellen Konsequenzen auf die Wahrnehmung der ihnen zustehenden Rechte.
Das Bundesgericht folgte dieser Argumentation nicht, weshalb Veranstalter von Kundgebungen im Kanton Bern künftig ständig das Damoklesschwert drohender Kosten über ihren Köpfen wissen werden. Es ist zu befürchten, dass dadurch jedenfalls teilweise Veranstaltungen präventiv verhindert und die Grundrechte auf freie Meinungsäusserung sowie auf Versammlung eingeschränkt werden.
Rüge durch Bundesgericht kein Einzelfall
Bereits in früheren Fällen musste das höchste Schweizer Gericht kantonale Gesetzgeber korrigieren. So hob es im Jahr 2009 verschiedene Regelungen im neu verabschiedeten Zürcher Polizeigesetz auf, namentlich jene im Zusammenhang mit der Überwachung allgemein zugänglicher Orte mit technischen Geräten (BGE 136 I 87). Das Bundesgericht erwog, durch die Zürcher Regel wäre eine grenzenlose (verdeckte) Überwachung des öffentlichen Raums und gar gewisser privater Räumlichkeiten zulässig erklärt worden, soweit dies nur irgendwie als polizeilich notwendig erachtet worden wäre. Eine solche Formulierung war in den Augen der obersten Richter deutlich zu offen und liess sich nicht durch ein hinreichendes öffentliches Interesse rechtfertigen. Sie war deshalb mit dem übergeordneten Recht - konkret der Bundesverfassung - nicht vereinbar.
Dasselbe Schicksal ereilte im Jahr 2017 eine Bestimmung im Luzerner Polizeigesetz, wonach bei Gewaltausschreitungen an Demonstrationen die Kosten des dadurch verursachten Polizeieinsatzes sowohl auf die Veranstalter der Kundgebung als auch auf die an der Gewaltanwendung beteiligten Personen hätte überwälzt werden können. Im Gegensatz zur Berner Regelung qualifizierte das Bundesgericht die Bestimmung im Luzerner Gesetz als zu pauschal, weil sie vorgesehen hatte, dass die Kosten zu gleichen Teilen an alle an der Gewaltausübung «Beteiligten» zu verteilen seien (BGE 143 I 147). Davon betroffen gewesen wären also auch Personen, die eine Demonstration trotz polizeilicher Aufforderung nicht verlassen, jedoch selbst keine Gewalt angewendet haben. Da keine Unterscheidung zwischen Randalierern und passiven Kundgebungsteilnehmern getroffen wurde, war dies gemäss Bundesgericht mit dem Prinzip der Rechtsgleichheit nicht zu vereinbaren.