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Transparenz von Gerichtsentscheiden: Hindernisse unterschiedlicher Art

17.08.2016

«Die Öffentlichkeit von Gerichtsverfahren ist ein wesentliches Element einer demokratisch kontrollierten Justiz», hält der Schweizer Presserat fest. Das Öffentlichkeitsprinzip ist für einen Rechtsstaat zentral. Es erhöht die Transparenz und sorgt etwa dafür, dass das Handeln der Justizbehörden und Gerichte nachvollziehbar wird. Als Teil der Meinungs- und Informationsfreiheit ist es ein Menschenrecht, Einschränkungen müssen entsprechend begründet sein. Während bei der Bundesverwaltung seit rund zehn Jahren das Öffentlichkeitsprinzip gilt (hier finden Sie unseren Artikel dazu), wird die Umsetzung des Prinzips in der Justiz von verschiedenen Seiten kritisiert.

Der Presserat bemängelt den Zugang zu Urteilen und Verfahren grundsätzlich, des Weiteren wird insbesondere ein niederschwelliger Zugang zu Entscheiden von Zwangsmassnahmengerichten gefordert. 

Das Bundesgericht hat in einem Urteil vom 21. Juni 2016 einen Teilbereich dieser Mängel bestätigt, indem es die Praxis verurteilte, dass Gerichtsurteile erst dann öffentlich zugänglich gemacht werden, nachdem sie rechtskräftig geworden sind (vgl. unten).

Stellungnahme des Presserats

Abgekürzte Verfahren und eine höhere Anzahl Strafbefehle hätten seit verschiedenen Reformen des Strafprozessrechts das Öffentlichkeitsprinzip in der Justiz unterlaufen, so lautet die Kritik in einer Stellungnahme des Presserats vom Mai 2015. Der Presserat hatte ein Hearing mit Experten aus Medien und Justiz durchgeführt und die Ergebnisse in einer Stellungnahme an die Adresse von Justizministerin Simonetta Sommaruga vorgelegt.

Effizienzsteigerungen und faktische Hindernisse

Im Rahmen verschiedener Justizreformen sei es zu Effizienzsteigerungen gekommen, welche das Recht der Öffentlichkeit auf Information gefährden, schreibt der Presserat. Am Beispiel St. Gallen rechnet der Presserat vor, dass 2013 nur 1.5% aller Fälle in Gerichtssälen behandelt worden seien, der Rest in Schnell- und Strafbefehlsverfahren, wodurch die Kontrolle durch die Öffentlichkeit in Frage gestellt sei.  

Das Selbstkontrollgremium der Medienbranche betont: «Damit Medienschaffende ihren Auftrag als ‹Wachhunde der Demokratie› erfüllen können, sind sie angewiesen auf möglichst einfachen Zugang zu Anklageschriften, Urteilen, Einstellungsentscheiden und Strafbefehlen, und in begründeten Fällen ist ihnen auch Akteneinsicht zu gewähren.» Aus diesem Grund fordert das Ethikgremium längere und praktikable Fristen, ausserdem sollen Urteile und Strafbefehle auch nach Ablauf der Fristen noch einsehbar sein. Auch ein vereinfachter Zugang im Internet würde die Transparenz erhöhen. 

Weiter dürften die notwendige Akkreditierung, die Gebühren und die inhaltlichen Auflagen für die Akteneinsicht keine faktischen Hindernisse darstellen. Prohibitiv wirkende Voraussetzungen behindern die Gerichtsöffentlichkeit und gefährden die verfassungsmässig garantierte Presse- und Medienfreiheit.

Auch Medienschaffende in der Pflicht

Gleichzeitig betont der Presserat auch: «Die Medien tragen Verantwortung für eine faire Gerichtsberichterstattung. Dazu gehören die Unschuldsvermutung und die Namensnennung, der Persönlichkeitsschutz und die Berichterstattung über Freisprüche bei nachfolgenden Instanzen.» Das Recht der Öffentlichkeit auf Information steht den Rechten und dem Schutz sowohl des Opfers als auch des Täters gegenüber. Aus diesem Grund sind eine faire Berichterstattung und ein sorgfältiges Abwägen der Interessen unerlässlich.   

Kein Zugang zu Urteilen von Zwangsmassnahmengerichten

Der Zugang zu Gerichtsentscheiden und Verfahren ist nicht nur durch prohibitiv wirkende, praktische Hürden, sondern auch durch rechtliche Hindernisse beschränkt. So verweigern Zwangsmassnahmengerichte etwa die Einsicht in ihre Entscheide. Dies widerspricht nicht nur dem Öffentlichkeitsprinzip, sondern ist auch grundsätzlich bedenklich, handelt es sich doch bei Zwangsmassnahmen häufig um schwerwiegende Grundrechtseingriffe. Gerade in diesem Bereich sind Transparenz und eine demokratische Überwachung von Urteilen entscheidend.

Die Strafprozessordnung sieht vor, dass lediglich die Verfahren geheim sind, nicht jedoch die Urteile und die entsprechenden Begründungen. Diese sind für die Öffentlichkeit von grosser Wichtigkeit, um die Rechtsprechung und Gerichtsentscheide nachvollziehen zu können.

Zürcher Staatstrojaner-Affäre

Diese Handhabung wurde insbesondere im Zusammenhang mit dem Einsatz einer umstrittenen Überwachungssoftware durch die Kantonspolizei Zürich scharf kritisiert. Der Einsatz des sogenannten Staatstrojaners wurde wiederholt damit legitimiert, dass das Zürcher Zwangsmassnahmengericht den Einsatz bewilligt hätte, wodurch die Rechtsstaatlichkeit gewährleistet sei (hier finden Sie unseren Artikel dazu).

Gerade in diesem Fall, bei dem der Einsatz der Überwachungssoftware weder eine unbestrittene gesetzliche Grundlage hatte noch eindeutig verhältnismässig war – zwei Bedingungen für die Einschränkung von Grundrechten – ist das öffentliche Interesse an dem Gerichtsentscheid klar gegeben. Ansonsten wird schnell der Vorwurf laut, Entscheide der Justiz seien willkürlich und nicht nachvollziehbar, wobei letzteres bei einer Geheimhaltung geradezu selbstverständlich ist.

Mit Blick auf die Durchsetzungsinitiative, welche den Rechtsstaat und die Justiz direkt angreift, scheint die konsequente Gewährleistung des Öffentlichkeitsprinzips wichtiger denn je, denn «nur so kann sich eine gefestigte, überlegte und von der Bevölkerung getragene Praxis entwickeln.»

Bundesgericht stützt Presserat

In einem neuen Entscheid hat das Bundesgericht am 21. Juni 2016 festgehalten, dass Urteile nicht erst ab Rechtskraft, sondern bereits ab Erlass öffentlich zu machen sind. Im konkreten Fall hatte das Kantonsgericht von Graubünden ein Gesuch des Schweizer Radio und Fernsehen um Zustellung von zwei Urteilen abgelehnt. Der Gerichtspräsident begründete dies damit, dass nach der Praxis des Kantonsgerichts sämtliche Urteile nach unbenutztem Ablauf der Rechtsmittelfrist oder nach Bestätigung durch das Bundesgericht in anonymisierter Fassung im Internet publiziert würden. Ein Anspruch auf eine vorgängige Veröffentlichung nicht rechtskräftiger Urteilen ergebe sich hingegen nicht aus dem Prinzip der Justizöffentlichkeit gemäss Art. 30 Abs 3 BV.

Das Bundesgericht folgte dieser Argumentation nicht. Es hielt ausdrücklich fest, dass Gerichtsverhandlungen und Urteilsverkündungen öffentlich zugängliche Quellen im Sinne der Informationsfreiheit gemäss Art. 16 Abs. 3 BV darstellen. Die Einsicht auf rechtskräftige Urteile zu beschränken, untergrabe die Kontrollfunktion der Medien und habe zwei Nachteile. Zum einen: «Bei schriftlich geführten Verfahren ohne mündliche Urteilsverkündung wird eine zeitnahe Gerichtsberichterstattung ausgeschlossen.» Zum andern: «Bei von der Rechtsmittelinstanz aufgehobenen Urteilen wird den Medien eine Kenntnisnahme sogar gänzlich verunmöglicht, obwohl sich die Justizkritik auch auf aufgehobene Urteile beziehen kann.» Urteile seien deshalb grundsätzlich generell bekanntzugeben oder zur Kenntnisnahme bereitzuhalten. Dieser Entscheid hat Signalwirkung nicht nur für die im konkreten Fall betroffenen Bündner Gerichte, sondern auch für zahlreiche andere kantonale Gerichte, die ihre Praxis ändern müssen.

Für Strafbefehle gilt das Öffentlichkeitsprinzip nur beschränkt

Das Luzerner Kantonsgericht entschied im Oktober 2016 schweizweit erstmalig, dass nicht rechtskräftige Strafbefehle nicht öffentlich aufgelegt werden müssen. Begründet wurde dies mit dem privaten Interesse der Betroffenen, die regelmässig nicht wollen, dass ein Strafverfahren publik wird. Das Gericht stützte sich in seinem Urteil auf Art. 69 Abs. 3 lit. d StPO, wonach das Strafbefehlsverfahren vom Öffentlichkeitsprinzip ausgeschlossen ist.

Dieses Urteil ist richtig, weil es nur das geheime Strafbefehlsverfahren betrifft. Sobald ein nicht rechtskräftiger Strafbefehl im Rahmen eines Gerichtsverfahrens behandelt wird, muss er aber der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, da das Strafbefehlsverfahren zu diesem Zeitpunkt abgeschlossen ist. Das geheime Strafbefehlsverfahren (Art. 69 Abs. 3 StPO) dauert bei einer Einsprache bis zur Anklageerhebung (Art. 355 Abs. 3 lit. d StPO) oder – falls der Staatsanwalt am Strafbefehl festhält - bis zum Abschluss der Parteivorträge (Art. 356 Abs. 3 StPO). Danach sind auch nicht rechtskräftige Strafbefehle zugänglich zu machen.

Die Staatsanwaltschaften der Kantone St. Gallen und Basel-Stadt legen Strafbefehle bereits heute ab Erlass auf. Jene Staatsanwaltschaften, die nur rechtskräftige  Strafbefehle öffentlich auflegen – etwa in den Kantonen Luzern, Bern und Zürich sowie in der Bundesanwaltschaft sollten ihre Praxis hingegen im Sinne der obigen Ausführungen überdenken.

Dokumentation