14.02.2008
Das Non-Refoulement-Prinzip besagt, dass Menschen nicht an einen Staat ausgeliefert werden dürfen, in welchem Folter oder unmenschliche, grausame oder erniedrigende Behandlung oder Strafe drohen. Verlangt ein Staat, in welchem erfahrungsgemäss die Anwendung von Folter nicht ausgeschlossen werden kann, die Auslieferung einer Person, so holen die Schweizer Behörden beim betreffenden Staat eine diplomatische Zusicherung ein. Diese schriftliche Garantie soll Gewähr dafür bieten, dass die ausgelieferte Person korrekt behandelt wird. Diese Praxis wird von Menschenrechtsorganisationen (insbesondere von Human Rights Watch) und auch von der Lehre mit dem Argument kritisiert, sie untergrabe das Non-Refoulement-Prinzip. Das Bundesgericht hat sich im BGE 134 IV 156 eingehend mit der Problematik auseinandergesetzt.
Anlass dazu gab das Auslieferungsverfahren gegen einen russischen Geschäftsmann, welcher in der Schweiz verhaftet wurde, da in seiner Heimat ein Strafverfahren wegen Betrug und Geldwäscherei gegen ihn durchgeführt wird. Das Bundesamt für Justiz bewilligte in der Folge das Auslieferungsersuchen Russlands unter der Bedingung, dass die zuständigen russischen Behörden der Schweiz gegenüber verschiedene Garantien abgeben (vgl. die Formulierung unter Sachverhalt lit. C).
Nachdem sich das Bundesgericht in den Erwägungen 2 – 5 zu den verschiedenen fallspezifischen Vorbringen des Beschwerdeführers äusserte, sind vor allem die Ausführungen in Erwägung 6 unter dem Gesichtspunkt der Menschenrechte von Interesse, da dort die Wirksamkeit diplomatischer Garantien thematisiert wird. Das Bundesgericht räumt ein, dass die Menschenrechtslage in Russland zu schwerer Beunruhigung Anlass gebe und insbesondere die Verhältnisse in russischen Untersuchungs- und Strafanstalten prekär seien und daher Art. 3 EMRK verletzen würden. Dies sei auch verschiedentlich vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte festgestellt worden. Sodann setzt sich das Bundesgericht mit der Kritik verschiedener Menschenrechtsorganisationen sowie den kritischen Äusserungen in der schweizerischen Lehre auseinander.
Bezugnehmend auf ein Antwortschreiben von Bundesrätin Calmy-Rey auf eine Anfrage von Human Rights Watch, in dem sie die Praxis der Einholung von diplomatischen Zusicherungen unter gewissen Umständen rechtfertigt und das Vorgehen inklusive der dabei vorzunehmenden Risikoanalyse beschreibt, erläutert das Bundesgericht in einem weiteren Schritt, wie bei einer solchen Risikoanalyse zwischen drei Typen von ersuchenden Staaten unterschieden werden könne (siehe E. 6.7). Nach der Vornahme dieser Risikobeurteilung im konkreten Fall, kommt das Bundesgericht zum Schluss, dass sich vorliegend das Risiko einer menschenrechtswidrigen Behandlung des Beschwerdeführers mittels diplomatischer Zusicherungen Russlands auf ein so geringes Mass herabsetzen lasse, dass es nur noch theoretisch erscheine. Dies insbesondere auch deshalb, weil es sich nicht um einen Fall im Zusammenhang mit Terrorismus oder dem Tschetschenien-Konflikt handle.
Immerhin sieht das Bundesgericht in den vom Bundesamt für Justiz formulierten und bei den russischen Behörden einzuholenden Zusicherungen sowohl Ergänzungs- als auch Präzisierungsbedarf. So müsse die diplomatische Vertretung der Schweiz das Recht haben, den Auszuliefernden «jederzeit und unangemeldet zu besuchen», und die russischen Behörden müssten den Ort der Inhaftierung, auch bei einer allfälligen Verlegung, der schweizerischen Vertretung jeweils unverzüglich mitteilen. Sodann müssten sowohl der Verteidiger des Ausgelieferten als auch seine Angehörigen jederzeit berechtigt sein, ihn zu besuchen.
Kommentar:
Auch wenn im konkreten Fall mit den erweiterten Garantien das Risiko einer menschenrechtswidrigen Behandlung möglicherweise eingedämmt werden kann, bleibt doch die grundsätzliche und berechtigte Kritik an der Wirksamkeit solcher Garantien. Einerseits wird mit der Einholung solcher Garantien in Einzelfällen, eine menschenrechtswidrige Behandlung der übrigen Häftlinge gewissermassen akzeptiert. Andererseits ist es illusorisch, darauf zu vertrauen, dass Staaten, welche bereits das rechtlich bindende absolute Folterverbot missachten, sich an einfache bilaterale diplomatische Abmachungen halten werden. Weiter ist die Unterscheidung zwischen Staaten, bei denen das Risiko einer menschenrechtswidrigen Behandlung mittels diplomatischer Garantien behoben oder jedenfalls auf ein so geringes Mass herabgesetzt werden kann, dass es als nur noch theoretisch erscheint, und Staaten, bei denen dies auch mit diplomatischen Garantien nicht gelingt, äusserst abstrakt. Entsprechend knapp fällt denn auch diese alles entscheidende Risikoanalyse im Urteil aus, mit der Begründung, es seien bislang keine Fälle bekannt, in denen sich Russland nicht an die abgegebenen Garantien gehalten habe.
Die bundesgerichtliche Argumentation lässt darauf schliessen, dass der Fall im Ergebnis möglicherweise anders beurteilt worden wäre, wenn das Auslieferungsbegehren Russlands aufgrund eines Verfahrens im Zusammenhang mit dem Terrorismus oder dem Tschetschenien-Konflikt ergangen wäre. Allerdings ist nicht ersichtlich, inwieweit ein gesundheitlich angeschlagener, wegen Wirtschaftsdelikten Angeschuldigter den Schutz vor den prekären Verhältnissen im russischen Haftvollzug weniger nötig hätte. Daran wird realistischerweise auch die privilegierte Behandlung des Beschwerdeführers aufgrund der einzuholenden Zusicherungen nichts ändern, denn die prekären Haftbedingungen sind in Russland, so auch das Bundesgericht, ein strukturelles Problem und keine Einzelfälle. Zu den erweiterten Garantien ist schliesslich noch zu bemerken, dass diese gerade in einem so grossen Land wie Russland faktisch ihrer Wirksamkeit beraubt werden könnten, wenn der Inhaftierte z.B. in eine der entlegenen Haftanstalten in Sibirien verlegt werden würde. In einem solchen Fall wäre es weder der schweizerischen Vertretung noch den Verteidigern oder der Familie des Inhaftierten möglich, diesen regelmässig zu besuchen und so eine gewisse Kontrolle aufrechtzuerhalten.
- BGE 134 IV 156 vom 18. Dezember 2007
auf bger.ch