19.07.2012
Während das Schweizer Parlament die Asylhilfe auf Nothilfe kürzen möchte, hebt das Bundesverfassungsgericht in Deutschland den Ansatz für Leistungen an Asylsuchende erheblich an. Damit soll ein menschenwürdiges Existenzminimum gewährleistet werden, begründen die Richter ihren Entscheid.
Mehr Geld für Asylsuchende als in der «reichen Schweiz»?
Die bisherigen Leistungen für Asylbewerber und Kriegsflüchtlinge seien menschenunwürdig und lägen unterhalb des Existenzminimums. Dies haben die Richter des deutschen Bundesverfassungsgerichts in ihrem Urteil vom 18. Juli 2012 festgehalten. Die an Asylsuchende bezahlten Sozialleistungen wurden in Deutschland seit 1993 nicht mehr erhöht und betrugen monatlich rund 224 Euro. Damit lagen sie weit unter dem Ansatz der allgemeinen Arbeitslosen- und Sozialhilfe von 374 Euro pro Monat (so genannter Hartz IV-Regelsatz), welche in Deutschland als Existenzminium gilt. Hier kommt den Richtern zu Hilfe, dass sie bereits 2010 bei den Hartz IV-Regelsätzen eine transparente Berechnung des Existenzminimums verlangt haben. Nun hat das deutsche Bundesverfassungsgericht entschieden, dass Asylsuchende und Kriegsflüchtlinge künftig Leistungen im Umfang von 336 Euro pro Monat (dies entspricht etwa CHF 404) erhalten müssen, wovon 130 Euro (etwa CHF 156) «für die persönlichen Bedürfnisse des täglichen Lebens» bar auf die Hand ausbezahlt werden müssen.
Zum Vergleich: In der Schweiz hat sich der Nationalrat erst im Juni dafür ausgesprochen, dass Asylsuchende künftig keine Sozialhilfe, sondern nur mehr Nothilfe erhalten sollen. Diese regelt jeder Kanton selbständig, entsprechend variieren die Leistungen. In der Regel umfasst die Nothilfe jedoch eine Schlafstelle und 6 bis 10 Franken am Tag fürs Essen. Das sind teilweise also nicht einmal 200 Franken im Monat, welche dazu mancherorts nur in Gutscheinen oder Sachabgaben und nicht in Bargeld ausbezahlt werden. Da zumindest in den ersten drei Monaten ein Arbeitsverbot für Asylsuchende besteht, können sie ihre Situation auch nicht aus eigenem Antrieb verbessern. Im Vergleich zu Deutschland müssen zudem die massiv höheren Lebenshaltungskosten in der Schweiz (die Rede ist von 20 bis 30 Prozent) noch hinzugedacht werden. In diesem Licht scheint das gern gepflegte Argument, dass die «reiche Schweiz» wegen ihren hohen Geldansätzen zu attraktiv für Asylsuchende sei, etwas kümmerlich.
- Nationalrat ist für Nothilfe bei Asylsuchenden
SF Tagesschau, 13. Juni 2012 - Bauernhöfe als Flüchtlingslager? - Asyl-Debatte verschärft sich
SF Tagesschau, 17. Juni 2012
Asylsuchende haben ein Recht auf menschenwürdiges Dasein
Die konkreten Geldbeträge sind nicht der einzige Schwachpunkt der Nothilfe, wie sie der Schweizer Nationalrat künftig für Asylsuchende einführen will. Wer etwa Naturalien statt Geld erhält, hat unter Umständen keine Möglichkeit, sein gewohntes Essen zuzubereiten. Erschwerend kommt hinzu, dass die Asylsuchenden in manchen Kantonen in Notschlafstellen übernachten müssten – und damit tagsüber ohne Unterkunft wären und auf der Strasse stünden. Diese erniedrigende Behandlung beisst sich mit der verfassungsmässig zu respektierenden Würde eines jeden Menschen (Art. 7 BV). Hier fällt die Argumentationslinie der deutschen Verfassungsrichter ins Auge, welche eben diese Menschenwürde in den Mittelpunkt stellt:
«Wenn Menschen die zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins notwendigen materiellen Mittel fehlen, weil sie weder aus einer Erwerbstätigkeit noch aus eigenem Vermögen noch durch Zuwendungen Dritter zu erlangen sind, ist der Staat im Rahmen seines Auftrages zum Schutz der Menschenwürde und in Ausfüllung seines sozialstaatlichen Gestaltungsauftrages verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass die materiellen Voraussetzungen dafür Hilfebedürftigen zur Verfügung stehen.» (Abs. 89)
Weiter argumentiert das deutsche Bundesverfassungsgericht, dass es auch hinsichtlich des Diskriminierungsverbots nicht angehe, deutsche Staatsangehörige (in Bezug auf die Hartz IV-Regelung) gegenüber Asylsuchenden besserzustellen. Und hält zum Schluss fest, dass die menschliche Würde nicht durch die Migrationspolitik relativiert werden dürfe:
«Migrationspolitische Erwägungen, die Leistungen an Asylbewerber und Flüchtlinge niedrig zu halten, um Anreize für Wanderungsbewegungen durch ein im internationalen Vergleich eventuell hohes Leistungsniveau zu vermeiden, können von vornherein kein Absenken des Leistungsstandards unter das physische und soziokulturelle Existenzminimum rechtfertigen.» (Abs. 121)
Oder wie einer der Verfassungsrichter sarkastisch formulierte (Zitat Stern Online): Dass ein Staat eben nicht darauf setzen dürfe, dass Flüchtlinge schon weiterziehen, wenn man sie ein wenig hungern lässt.
- 1 BvL 10/10 Absatz-Nr. 1-140
Deutsches Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 18. Juli 2012 - Asylbewerber haben Recht auf mehr Leistungen vom Staat
Stern Online, 18. Juli 2012 - Asylbewerber müssen ab sofort mehr Geld bekommen
Spiegel Online, 18. Juli 2012
Jeder Mensch hat das Anrecht auf einen angemessenen Lebensstandard (vgl. etwa Art. 25 der Allgemeinen Menschenrechtserklärung), welcher, wie die deutschen Verfassungsrichter im Urteil festhalten, nicht bloss das physische Existenzminimum, sondern auch eine Teilnahme am sozialen, kulturellen und politischen Leben umfasst. Mit einer ähnlichen Begründung verhindern deutsche Gerichte im Übrigen seit Monaten die Rückführung von Asylsuchenden nach Italien, welche Deutschland gemäss dem Dublin II-Verfahren vornehmen könnte. Spiegel Online berichtete in diesem Zusammenhang von einem Urteil des Verwaltungsgerichts in Stuttgart. Eine palästinensische Familie wurde dabei von einer Abschiebung nach Italien verschont, weil sie dort gezwungen wäre, "ein Leben unterhalb des Existenzminimums zu führen und […] auch von Obdachlosigkeit bedroht" sei.
- Richter stoppen Rückführung Asylsuchender nach Italien
Spiegel Online, 12. Juli 2012 - Schweiz schickt Asylsuchende ins italienische Elend zurück
Berner Zeitung, 18. Juli 2012
Zunahme der Asylsuchenden ist nicht entscheidend
«Markanter Anstieg der Asylgesuche», vermeldete das Eidgenössische Bundesamt für Migration Anfang diesen Jahres und präsentierte die dazugehörigen Zahlen: 22‘551 Personen haben 2011 in der Schweiz ein Asylgesuch gestellt, was einer Zunahme von rund 45 Prozent gegenüber dem Vorjahr entspricht. Die Klage über den Anstieg von Asylgesuchen ist für Schweizer Politiker mittlerweile zum Selbstläufer geworden und dient über Parteigrenzen hinweg zur Rechtfertigung eines immer restriktiveren Asylrechts.
Dabei genügt ein Blick auf die letzten zwei Jahrzehnte, um diese Zunahme zu relativieren: Anfang der 1990er-Jahren kamen, insbesondere in Folge des Krieges in Ex-Jugoslawien, zeitweise über 40'000 Asylsuchende pro Jahr in die Schweiz. Seit dem Jahr 2000 bewegt sicht die Zahl der neu gestellten Asylgesuche um die 20'000, mit kleineren Ausschlägen nach oben (2002: 26'987) und unten (2005: 10'795). Es scheint, als ob die Zahlen zu den Asylgesuchen in der aktuellen Diskussion instrumentalisiert werden, um eine Verschärfung des Asylrechts durch die scheinbar massive Zunahme legitimieren zu können.
Das deutsche Verfassungsgericht hat hier nun ein klares Zeichen gesetzt: Denn auch wenn die Zunahme nicht derart ausgeprägt war – auch im nördlichen Nachbarland haben 2011 rund 11 Prozent mehr Menschen um Asyl gesucht als noch im Vorjahr. Knapp 46‘000 Asylgesuche wurden eingereicht, insgesamt halten sich rund 130‘000 Asylsuchende und Flüchtlinge in Deutschland auf. Trotz dieser Zahlen scheuten sich die Verfassungsrichter mit dem neuen Urteil nicht, die Menschenwürde vor migrationspolitisch motivierten Eingriffen zu schützen.
- Markanter Anstieg der Asylgesuche
Bundesamt für Migration, Medienmitteilung vom 19. Januar 2012 - Höhere Asylantragszahlen
Pro Asyl, Zahlen und Fakten 2011 (online nicht mehr verfügbar) - Asylstatistik vom 30.06.2012
Bundesamt für Migration, Jahresstatistik (pdf, 1 S.) - Weitere Verschärfung des Asylgesetzes
Swissinfo.ch, 14. Juni 2012
Weiterführende Informationen
- Sozialhilfe für Asylsuchende in Deutschland ist menschenunwürdig
Schweizerische Flüchtlingshilfe, Medienmitteilung vom 19. Juli 2012 (online nicht mehr verfügbar) - «Der Widerstand ist nötig»
Tages-Anzeiger, 19. Juli 2012