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Recht auf Anhörung von Kindern: Bundesrat muss Bilanz zur Umsetzung erarbeiten

03.10.2017

 

Kinder sind Rechtssubjekte und haben in Angelegenheiten, die sich auf ihre Zukunft auswirken, das Recht ihre Meinung zu äussern (Art. 12 KRK). Gemäss der Rechtsprechung des Bundesgerichts ist Artikel 12 KRK in der Schweiz zwar direkt anwendbar (BGE 124 III 90 ff., E. 3a). Allerdings werden Kinder und Jugendliche bei juristischen und administrativen Verfahren nicht konsequent angehört. Eine im August 2017 veröffentlichte Vorstudie des Schweiz. Kompetenzzentrums für Menschenrechte SKMR bestätigt diese Einschätzung. Das Parlament hatte bereits im Sep. 2014 den Bundesrat aufgefordert, die Problematik unter die Lupe zu nehmen. Nun hat das SKMR vom Bund den Auftrag erhalten, die Stärken und Schwächen der Umsetzung des Anhörungsrechts für Kinder in den Praxisbereichen Gesundheit, Bildung, Kindesschutz sowie Justiz ab Herbst 2017 vergleichend zu untersuchen.

Internationale Vorgaben

UNO-Ausschuss für die Rechte des Kindes

Der Ausschuss konkretisiert in der Allgemeinen Bemerkung Nr. 12 (2009) die notwendigen Voraussetzungen zur Umsetzung von Art. 12 KRK. Er geht dabei insbesondere auf die Gerichts- und Verwaltungsverfahren ein (lesen Sie hierzu die Zusammenfassung des SKMR zur Allgemeinen Bemerkung Nr. 12).

Empfehlung und Leitlinien des Europarats

Am 28. März 2012 verabschiedete das Ministerkomitee des Europarates die Empfehlung CM/Rec(2012)2 an die Mitgliedstaaten über die Partizipation von Kindern und Jugendlichen. Die Empfehlung verlangt, dass das Recht auf Anhörung von Kindern und Jugendlichen in allen Bereichen gewährleistet sein muss, auch in Schulen, den lokalen Gemeinschaften, innerhalb der Familie sowie auf nationaler und europäischer Ebene. Bereits im Jahre 2010 hatte der Europarat zudem die Leitlinien für eine kindergerechte Justiz verabschiedet.

Probleme bei der Anhörung des Kindes

Die Eidg. Kommission für Kinder- und Jugendfragen (EKKJ) hatte im November 2011 einen Bericht zum Recht der Kinder auf Meinungsäusserung und Anhörung veröffentlicht.

In der Schweiz findet die konsequente Anhörung von Kindern in Verfahren, die sie betreffen, gemäss EKKJ bisher nicht statt. In vielen Verfahren ist eine Anhörung des Kindes nicht explizit vorgesehen. Wenige ausdrückliche Regelungen gibt es etwa in Schulfragen, ausländer- und asylrechtlichen Fragen oder bei Adoptionen. Bestätigt und tendenziell gestärkt werden die Anhörungsrechte dagegen mit dem seit Kurzem eingeführten Kindes- und Erwachsenenschutzrecht.

Gesetzlich vorgeschrieben ist die Anhörung des Kindes seit den 1990er Jahren im Scheidungsverfahren. Wie eine Nationalfondstudie vor wenigen Jahren aufzeigte, wurde allerdings nur jedes 10. urteilsfähige Kind bei einer Scheidung angehört. Die entsprechende Regelung ist nicht wirksam, u.a. weil Kinder und Behörden auf die Anhörung verzichten können. Problematisch ist ferner, dass die Behörden und Gerichte das Alter, in welchem sie eine Anhörung sinnvoll finden, sehr streng definieren. In der Regel werden nur urteilsfähige Kinder angehört. Dies bedeutet, dass in vielen Kantonen Kinder unter 10 oder 12 Jahren nicht durch Anhörung in Scheidungsverfahren einbezogen werden.

Anhören ist nicht dasselbe wie entscheiden

Vielerorts stösst die Forderung nach Anhörung des Kindes in Verfahren, die seine Zukunft betreffen, auf Skepsis oder offenen Widerstand. Das Recht auf Anhörung von Minderjährigen bedeutet jedoch nicht, dass Entscheide den Kindern überlassen werden. Vielmehr geht es darum, die Kinder in Verfahren miteinzubeziehen. Die Behörden haben den Auftrag, die Kinder zu schützen. Doch ist es ihnen schlicht nicht möglich, im besten Interesse des Kindes zu entscheiden, ohne die Meinungen des betroffenen Kindes zu erfahren.

Recht auf Anhörung in der medizinischen Behandlung

Kinder und Jugendliche verfügen bei medizinischen Behandlungen über zunehmende Autonomie. Sie werden in diesem Bereich vermehrt als Rechtssubjekte anerkannt, die ohne elterliche Einwilligung eigene Entscheidungen im Zusammenhang mit anstehenden medizinischen Behandlungen treffen können. In diesem Sinne kann von einer «medizinischen Vor-Volljährigkeit» der Kinder und Jugendlichen gesprochen werden.

Die Anhörung des Kindes ist eine wichtige Voraussetzung für die Evaluierung seiner Urteilsfähigkeit und des Kindeswohls. Erst nach einer Anhörung kann unter Berücksichtigung des Alters und der persönlichen Umstände die Urteilsfähigkeit im konkreten Fall evaluiert werden. 

Nationalrat macht Druck

Der Nationalrat hat am 8. September 2014 ein Postulat der Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur (WBK-NR) angenommen, das vom Bundesrat eine Analyse der Praxis verlangt. Er soll in Zusammenarbeit mit den Kantonen prüfen, ob das Recht auf Anhörung insbesondere in rechtlichen und administrativen Verfahren in der Schweiz eingehalten wird und wo es Verbesserungsbedarf gibt.

Das Postulat war ursprünglich von rund fünfzig Personen aus allen Parteien unterzeichnet und eingereicht worden. Die WBK-NR führte daraufhin Gespräche mit Fachpersonen und entschied sich zur Überweisung an den Bundesrat. Der Bundesrat befürwortete dies.

Die Kommissionsprecherin Christine Bulliard-Marbach (CVP, FR) sagte im Nationalrat: «Bei der Anwendung des Rechts auf Anhörung bestehen grosse Unterschiede zwischen Kantonen und Berufsleuten, denn das Recht auf Anhörung betrifft nicht nur die Justiz. Unsere Daten bezüglich Scheidungen sind lückenhaft. In anderen öffentlichen Bereichen, etwa in der Bildung, bei der Polizei oder in den Bereichen Gesundheit und Migration, sind bisher gar keine Daten verfügbar.» 

Drei Jahre später hat nun die Bundesverwaltung das SKMR mit einer breit angelegten Studie zur Umsetzung des Rechts der Kinder auf Anhörung in verschiedenen Praxisbereichen beauftragt. Zuvor hatte das SKMR bereits in einer kleineren Studie exemplarische Aspekte zur Umsetzung des Rechts auf Anhörung bearbeitet (vgl. unten).

Anhörungen bei Fremdplatzierungen und Ausweisungen

In der im August 2017 veröffentlichten Studie des SKMR (Une justice adaptée aux enfants - L’audition de l’enfant d/f) wird untersucht, inwiefern die Leitlinien des Europarats in Bezug auf das Recht des Kindes auf Anhörung in der Schweiz umgesetzt werden. Geprüft wurde insbesondere, wie die betroffenen Kinder bei einer zivilrechtlichen Fremdplatzierung bzw. bei der Wegweisung eines ausländischen Elternteils angehört werden. Dazu untersucht die Studie die Praxis der involvierten Behörden der Kantone Bern, Freiburg und Neuenburg.

Die Studie des SKMR kommt zum Schluss, dass das Recht des Kindes auf Anhörung gemäss Art. 12 KRK in der Schweiz nicht einheitlich umgesetzt wird. Unterschiede sind einerseits in der kantonalen Praxis und andererseits zwischen dem Zivil- und Ausländerrecht feststellbar. So sieht beispielsweis das Zivilrecht in Art. 314a Abs. 1 ZGB eine Anhörung des Kindes vor, doch gibt es im Bereich des ausländerrechtlichen Wegweisungsverfahrens keine entsprechende Bestimmung. Dementsprechend hat das Bundesgericht im ausländerrechtlichen Wegweisungsverfahren das Recht des Kindes auf Anhörung nicht anerkannt.

Im Rahmen der zivilrechtlichen Fremdplatzierung kommt die Studie zum Schluss, dass in den Kantonen Bern, Freiburg und Neuenburg Kinder ab sechs Jahren grundsätzlich von der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde und jüngere Kinder von einem anderen zuständigen Dienst (bspw. Dienst der Kinder- und Jugendhilfe) angehört werden. Ausserdem sei sicherlich erfreulich, dass die kantonalen Behörden, entgegen der bundesgerichtlichen Rechtsprechung, die Anhörung des Kindes nicht primär vom Alter, sondern von der Reife des Kindes abhängig machen. Ein Schritt in die richtige Richtung  stelle auch die Ausarbeitung verschiedener Werkzeuge dar, welche die Beteiligung des Kindes während dem ganzen Verfahren gewährleisten sollen.

Uneinheitliche Vorgehensweisen sind allerdings in Bezug auf die Bedingungen der Anhörung, die Informationen, die das Kind zum Verfahren und seinen Mitwirkungsrechten erhält und den Erläuterungen zum gefällten Entscheid erkennbar. Gemäss der SKMR-Studie ist es insbesondere besorgniserregend, dass je nach Kanton und Behörde nicht gewährleistet ist, dass dem Kind der Fremdplatzierungsentscheid erklärt wird.

Die kantonale Praxis bezüglich der Anhörung des Kindes bei der Wegweisung eines ausländischen Elternteils gemäss Ausländergesetz ist ebenfalls alles andere als einheitlich. So hören etwas weniger als die Hälfte aller Kantone das betroffene Kind überhaupt an. Diejenigen Ämter, die das Kind anhören, tun dies entweder durch schriftliche Stellungnahme der Eltern oder mittels eines Gesprächs.

Das Bundesgericht ist der Auffassung, dass Kinder im Rahmen eines Wegweisungsverfahren gegen den ausländischen Elternteil nicht zwingend angehört werden müssen. Dies wird damit begründet, dass die Interessen des wegzuweisenden Elternteils mit den Interessen des Kindes korrespondieren, bzw. dass die Meinung des Kindes auf den Entscheid so oder so keinen Einfluss habe. Fraglich ist bei einer solchen antizipierten Beweiswürdigung, ob das Kindeswohl ausreichend berücksichtigt wird, wie dies in Art. 3 KRK verlangt wird.

Hilfreiche Broschüren für Kinder, Eltern und Praktiker/innen

UNICEF Schweiz hat im Übrigen Informationsbroschüren für Kinder ab 5 Jahren, ab 9 Jahren, ab 13 Jahren und für Eltern sowie einen Leitfaden für die Praxis im Rechts-, Bildungs- und Gesundheitswesen erarbeiten lassen. Sie stehen Interessierten auf der Website von UNICEF als Printversion und zum Download zur Verfügung.

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