03.10.2022
Gewichtsdiskriminierung ist ein weit verbreitetes Phänomen und betrifft viele Lebensbereiche. Für hochgewichtige Menschen hat dies weitreichende Folgen und beschränkt ihre soziale und rechtliche Gleichstellung. In der Schweiz werden Vorkommnisse von Gewichtsdiskriminierung bisher statistisch nicht erfasst und rechtlicher Schutz fehlt. Eine langfristige Strategie zur Reduktion von Gewichtsdiskriminierung ist dringend nötig.
Gastbeitrag von Melanie Dellenbach, Präsidentin von Body Respect Schweiz
Hochgewichtige Schweizer*innen berichten wiederholt von Erfahrungen mit Gewichtsdiskriminierung, speziell in der medizinischen Versorgung. Empirische Studien aus verschiedenen Ländern zeigen, dass Gewichtsdiskriminierung ein gesellschaftlich weit verbreitetes Phänomen ist und verschiedenste Lebensbereiche betrifft. Hochgewichtige Menschen erfahren Benachteiligungen in der Gesundheitsversorgung und im Bildungssystem ebenso wie im Berufsleben, in der Freizeit und beim Wohnen. Dadurch wird nicht nur ihre Lebensqualität und die Teilhabe an der Gesellschaft beeinträchtigt, vielmehr stellen diese Diskriminierungen auch Verstösse gegen die Menschenrechte dar (Art. 1 AEMR). Von Gewichtsdiskriminierung besonders betroffen sind Frauen; mit der Ratifizierung der Istanbul-Konvention hat sich die Schweiz dazu verpflichtet, gegen sämtliche Formen von Gewalt an Frauen vorzugehen.
Gesundheitliche Ungleichheit
Gesundheitspolitik und -programme können durch die Art und Weise, wie sie gestaltet oder umgesetzt werden, Menschenrechte fördern oder verletzen. Gerechter Zugang zu angemessenen Gesundheitsdiensten, ausreichende Information und Aufklärung sowie die Beteiligung an Entscheidungsprozessen fördern Gesundheit und Wohlbefinden. Im Gegensatz dazu wirkt sich Diskriminierung, Voreingenommenheit, Stereotypisierung und Stigmatisierung durch Gesundheitsdienstleister*innen negativ auf Gesundheit und Wohlbefinden aus. Wie Studien zeigen, erhalten Menschen in einem hochgewichtigen Körper häufig eine schlechtere Gesundheitsversorgung und sind auf dickenfeindlichen Vorurteilen beruhender Diskriminierung ausgesetzt.
Auch in der Öffentlichkeit sind sie mit verbaler und körperlicher Gewalt konfrontiert. Aufgrund dieser Diskriminierungserfahrungen vermeiden hochgewichtige Personen medizinische Konsultationen oder zögern sie hinaus. Die WHO fordert auf, Gewichtsstigmatisierung aktiv anzugehen, da diese die Qualität der medizinischen Versorgung hochgewichtiger Patient*innen beeinträchtigt und letztlich zu schlechteren gesundheitlichen Ergebnissen sowie einem erhöhten Sterblichkeitsrisiko führen kann.
In der Schweiz fehlen bisher Studien, Aktionspläne oder vergleichbare Massnahmen zur Prävention und Sensibilisierung für Gewichtsdiskriminierung im Gesundheitswesen. Das, obwohl sich Bund und Kantone das Ziel gesetzt haben, die gesundheitliche Chancengleichheit zu verbessern und dies in zahlreichen Strategien (Gesundheit 2030, NCD-Strategie, Suchtstrategie usw.) verankert haben.
Covid-19: Gewichtsdiskriminierung bei Triage
Das Problem der gesundheitlichen Chancenungleichheit hochgewichtiger Menschen erhielt während der Covid-19 Pandemie neue Dringlichkeit. Im weltweiten öffentlichen Diskurs wurden dickenfeindliche Haltungen deutlich: dicke Menschen wurden als Sündenböcke dargestellt und öffentlich die Frage aufgeworfen, ob hochgewichtige Menschen intensivmedizinische Versorgung erhalten sollen. Bereits früh in der Pandemie entstanden diverse Zusammenschlüsse von Aktivist*innen, wie die europäische Aktion #We4FatRights, die sich für eine diskriminierungsfreie medizinische Versorgung hochgewichtiger Menschen einsetzen.
Die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften SAMW, Verfasserin der Richtlinien «Triage in der Intensivmedizin bei ausserordentlicher Ressourcenknappheit», teilte in einem Schreiben an Body Respect Schweiz die Einschätzung des Vereins, dass Gewichtsstigmatisierung im medizinischen Bereich ein Problem ist. Die SAMW erklärte in diesem Zusammenhang auch, dass das Körpergewicht per se kein Kriterium sei, das bei der Triage relevant werden dürfe. Die Forderung von Body Respect Schweiz, Gewichtsdiskriminierung in den Triage-Richtlinien explizit zu benennen, lehnte die SAMW jedoch ab. Das Nicht-Benennen von Gewichtsdiskriminierung begründet sie damit, dass diese Form der Diskriminierung nicht in der Bundesverfassung (Art. 8 BV) genannt wird. Damit wurde eine wichtige Gelegenheit zur Sensibilisierung des Gesundheitspersonals durch die Triage-Richtlinien und somit ein angemessener Schutz vor Gewichtsdiskriminierung in der Gesundheitsversorgung verpasst.
Ungleiche Bildungschancen
Auch hochgewichtige Kinder und Jugendliche sind von Gewichtsdiskriminierung betroffen. So wurden etwa Hänseleien und Mobbing anhand des Merkmals Gewicht in einer länderübergreifenden Studie als häufigster Grund für Mobbing unter Jugendlichen identifiziert.
Internationale Studien zeigen die negativen Auswirkungen von Gewichtsstigmatisierung auf die Bildungschancen von hochgewichtigen Kindern und Jugendlichen. Beispielsweise erhalten hochgewichtige Kinder bei gleicher Leistung schlechtere schulische Noten.
In der schweizerischen Bildungsforschung wurde dieses Thema bisher vernachlässigt. Weder in Anti-Bullying-Leitlinien von Schulen noch in Diversitätsleitfäden von Hochschulen wird Gewichtsdiskriminierung thematisiert. Der Zugang zu Bildung in Schulen und Hochschulen ist für hochgewichtige Personen nach wie vor nicht barrierefrei und sowohl Dozierende wie auch Lehrpersonen sind für dieses Thema bisher nicht sensibilisiert.
Die Schweiz hat Nachholbedarf
In den USA setzt sich seit 1969 die National Association to Advance Fat Acceptance (NAAFA) für die Rechte von hochgewichtigen Menschen ein. In Deutschland nimmt sich seit 2005 die Gesellschaft gegen Gewichtsdiskriminierung dieser Aufgabe an. In der Schweiz gibt es erst seit 2021 den ehrenamtlichen Verein Body Respect Schweiz, der sich für soziale und rechtliche Gleichstellung dicker Menschen engagiert.
Nach dem Prinzip «Nothing about us without us» (Nichts über uns ohne uns) ist es wichtig, dass im Diskurs und in Verhandlungen über die Rechte hochgewichtiger Menschen die Stimmen genau dieser Menschen gehört und berücksichtigt werden. Internationale Aktivist*innen und Fat Rights Organisationen sind sich einig, dass Organisationen aus Medizin und Pharmaindustrie, die ein finanzielles Interesse an der Pathologisierung hochgewichtiger Menschen haben, die rechtlichen Anliegen hochgewichtiger Menschen keinesfalls angemessen vertreten können.
Fehlende statistische Erfassung von Diskriminierungserfahrungen
In der Schweiz gibt es im Gegensatz zu anderen Diskriminierungsformen bisher keine statistische Erfassung von Vorkommnissen der Gewichtsdiskriminierung und Belästigung mit Bezug zum Körpergewicht.
Auf dem Meldetool «Zürich schaut hin» können sexistische, homo- und transfeindliche Belästigungen anonym gemeldet werden. Im Tool kann angegeben werden, dass Belästigung mit Bezug zu Körpergrösse oder -gewicht stattgefunden hat. Da diese Auswertung nicht nach Grösse oder Gewicht differenziert, ist die Aussagekraft dieser Daten jedoch limitiert. Zudem wurde bisher nicht öffentlich bekannt gemacht, dass hochgewichtige Menschen dieses Meldetool nutzen können.
Umfassende Massnahmen und ein allgemeines Antidiskriminierungsgesetz
Gewichtsdiskriminierung stellt einen Verstoss gegen die Menschenrechte dar. Um Gewichtsdiskriminierung und damit die soziale Benachteiligung hochgewichtiger Menschen zu reduzieren, braucht es rasche und umfassende Massnahmen. Mit Hilfe von zivilgesellschaftlichen Akteur*innen und unabhängigen Expert*innen muss eine langfristige Strategie zur Reduzierung von Gewichtsstigmatisierung und -diskriminierung erarbeitet und umgesetzt werden.
Ein grosses Potenzial bietet langfristig ein allgemeines Antidiskriminierungsgesetz. Dieses muss Diskriminierung anhand des Merkmals Körpergewicht verbieten sowie Mehrfachdiskriminierung und intersektionelle Diskriminierung berücksichtigen. Kurzfristige Massnahmen sind unter anderem die statistische Erhebung von Gewichtsdiskriminierung und Belästigungen mit Bezug zum Körpergewicht (Hochgewicht). Mit einer statistischen Erfassung wird die Sichtbarkeit von Vorkommnissen der Gewichtsdiskriminierung erhöht und eine Informationsgrundlage für weitere Massnahmen geschaffen. Dafür braucht es ein Meldesystem für Betroffene von Gewichtsdiskriminierung und -stigmatisierung, speziell im Gesundheitswesen. Bestehende Meldetools, wie etwa «Zürich schaut hin» (s.o.), müssen nach Gewichtsdiskriminierung differenzieren und in der Öffentlichkeit bekannt gemacht werden.
Im Weiteren bedarf es zahlreicher Massnahmen im Bildungs- und Gesundheitswesen. Ein diskriminierungsfreier und barrierefreier Zugang für hochgewichtige Schüler*innen, Studierende und Patient*innen im Gesundheitswesen muss gewährleistet und gesetzlich verankert werden. Anti-Bullying-Leitlinien, insbesondere an Schulen, müssen um das Merkmal Körperform und -gewicht erweitert werden. Gewicht muss als Diversitätsdimension an Schulen, Hochschulen und im Gesundheitswesen anerkannt werden. Lehrpersonen und Dozierende sowie Studierende in allen Lehr-, Sozial- und Gesundheitsberufen müssen zum Thema Gewichtsstigmatisierung /-diskriminierung ausgebildet und für die entsprechenden Phänomene und Handlungsmöglichkeiten sensibilisiert werden.
Vor diesem Hintergrund sind bestehende oder neue Projekte gegen Diskriminierung und für die Gleichstellung der Geschlechter aufgefordert, das Phänomen der Gewichtsdiskriminierung zu berücksichtigen, zu integrieren und sichtbar zu machen. Es ist an der Zeit Gewichtsdiskriminierung die erforderliche Beachtung zu geben.
Weiterführende Informationen
- Resisting the problematisation of fatness in COVID-19: In pursuit of health justice
Cat Pausé, George Parker, Lesley Gray, International Journal of Disaster Risk Reduction, 2021 - What’s Wrong With the ‘War on Obesity?’ A Narrative Review of the Weight-Centered Health Paradigm and Development of the 3C Framework to Build Critical Competency for a Paradigm Shift.
Lily O’Hara, Jane Taylor, SAGE Open, 2018 - Chancengleichheit in der Gesundheitsförderung und Prävention mit Health at Every Size® (HAES®)
Melanie Dellenbach, Abschlussarbeit «CAS-Grundlagen von Gesundheitsförderung und Prävention», 2021