12.10.2020
Das Recht auf freie Wohnsitzwahl von Menschen mit Behinderungen ist in der Schweiz nur unzureichend geschützt. Es besteht dringender Handlungsbedarf, um beeinträchtigten Menschen mehr Selbstbestimmung zu ermöglichen.
In einem Urteil vom 20. September 2019 weist das Bundesgericht die Beschwerde eines geistig und körperlich behinderten Mannes ab, welchem von den Behörden des Kantons Jura ein Wohnsitzwechsel verweigert worden war. Die Einschränkung seiner Niederlassungsfreiheit gemäss Artikel 10 Absatz 2 der Bundesverfassung sei rechtmässig.
Der Betroffene lebt in einem Heim im Kanton Jura, während seine Schwester und engste Vertraute im Kanton Genf wohnt. Weil die Besuche der Schwester mit einem erheblichen Zeitaufwand verbunden sind, beabsichtigte der Beschwerdeführer in ein Heim nach Genf zu ziehen. Da die Heimkosten in der besagten Unterkunft mit rund 200'000 Franken fast doppelt so hoch sind wie bisher, hätte der Kanton Jura für die Mehrkosten aufkommen müssen. Da bereits eine geeignete Unterbringung im Kanton Jura bestehe und keine ausserkantonale Platzierung nötig sei, weigerten sich die jurassischen Behörden für die zusätzlichen Ausgaben aufzukommen.
Kein Anspruch auf Kostenbeteiligung bei geeigneter Unterbringung im Wohnsitzkanton
Das Bundesgericht prüft, ob der vorliegende Grundrechtseingriff in die Niederlassungsfreiheit nach Artikel 36 der Bundesverfassung rechtmässig ist, wobei es seine Beurteilung im Wesentlichen auf Proportionalitätsüberlegungen reduziert: Es wägt die Mehrkosten, die dem Kanton Jura durch die ausserkantonale Platzierung entstehen würden, gegen die Interessen des Mannes, näher bei seiner Schwester zu leben, ab. Da die Beziehung zu seiner Schwester trotz Distanz aufrechterhalten werden könne, überwiegten die finanziellen Interessen des Kantons Jura und der Grundrechtseingriff sei damit gerechtfertigt. Dieser verletzte zudem weder das Diskriminierungsverbot noch den Schutz des Privat- oder Familienlebens.
Nach dem Bundesgesetz über die Institutionen zur Förderung der Eingliederung von invaliden Personen (IFEG) haben die Kantone Menschen mit Behinderungen den Zugang zu geeigneten Institutionen zu gewährleisten. Falls in einer vom Kanton anerkannten Institution kein Platz verfügbar ist, so haben sich die Kantone an den Kosten einer anderen (ausserkantonalen) Institution zu beteiligen, um den Rückgriff auf die Sozialhilfe zu vermeiden. Die Interkantonale Vereinbarung für soziale Einrichtungen (IVSE) soll die Aufnahme von Personen mit besonderen Betreuungs- und Förderungsbedürfnissen in geeigneten Einrichtungen ausserhalb ihres Wohnkantons ohne Erschwernisse ermöglichen. Dazu muss der Wohnkanton die Kosten für die externe Leistungserbringung übernehmen.
Die Beteiligung an den Kosten einer ausserkantonalen Unterbringung ist gemäss Bundesgericht jedoch nur dann angezeigt, wenn keine freien Plätze in einer «angemessenen» Institution des Wohnkantons vorhanden sind («une place répondant adéquatement à ses besoins»). Die Angemessenheit der Platzierung sei in diesem Fall durch eine staatliche Institution überprüft worden, welche die Unterbringung im Kanton Jura als ebenso geeignet beurteilte, wie eine Platzierung in Genf. Eine ausserkantonale Unterbringung sei damit nicht angezeigt.
Harsche Kritik von der Zivilgesellschaft
Behindertenorganisationen kritisieren das Urteil des Bundesgerichts scharf. Das Gericht spreche Heimbewohner*innen mit Behinderungen das Recht auf eine freie, gleichberechtigte Wahl ihres Aufenthaltsortes ab. Gemäss Inclusion Handicap, dem Dachverband der Behindertenorganisationen, missachtet das Gericht zudem das durch die Behindertenrechtskonvention und die Bundesverfassung garantierte Recht auf Privat- und Familiensphäre. Auch die Elternorganisation Insieme zeigt sich bestürzt über das Urteil: «Die Einsparung von Kosten ist wichtiger als die Grundrechte von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen.»
Schliesslich steht auch Markus Schefer, Professor für Staats- und Verwaltungsrecht und Mitglied des UNO-Behindertenrechtsausschusses, den Einschätzungen des Bundesgerichtes sehr kritisch gegenüber. Der Betroffene könne nun faktisch für den Rest seines Lebens nirgends mehr hinziehen und sei an seine Institution im Kanton Jura gebunden. Das Bundesgericht habe die Ansprüche, welche aus der UNO-Behindertenrechtskonvention fliessen, nur sehr oberflächlich diskutiert.
Unzureichende Verwirklichung internationaler Verpflichtungen
Die UNO-Behindertenrechtskonvention anerkennt in Artikel 18 das Recht von Menschen mit Behinderungen, ihren Aufenthaltsort frei wählen zu können. Zudem verpflichtet Artikel 19 der Behindertenrechtskonvention die Vertragsstaaten dazu, wirksame und geeignete Massnahmen zu treffen, damit Menschen mit Behinderungen ihren Aufenthaltsort frei wählen und entscheiden können, wo und mit wem sie leben.
Bereits der erste Staatenbericht des Bundesrates zur Umsetzung der UNO-Behindertenrechtskonvention vom Juni 2016 griff die Problematik der Niederlassungsfreiheit von Personen, welche in einer Institution leben, auf. Allerdings wurden die Einschränkungen, mit denen eine behinderte Person bei der Wahl ihrer Einrichtung konfrontiert ist, vom Bundesrat «eher auf Platzmangel als auf Kantonsgrenzen» zurückgeführt.
Der zivilgesellschaftliche Schattenbericht führte für diese Grundrechtseinschränkungen andere Gründe auf: In den Kantonen gäbe es eine Tendenz, die freien Plätze eigener Institutionen vorzugsweise mit Kantonsbewohner*innen zu belegen, ohne dabei die Wünsche der Menschen mit Behinderungen zu berücksichtigen. Personen, die in einer Institution leben, könnten daher ihren Lebensmittelpunkt in der Regel nicht frei wählen, da die Hürden für die Finanzierung eines ausserkantonalen Heimplatzes sehr hoch seien. Dieser Standpunkt wird durch das aktuelle Bundesgerichtsurteil bestätigt.
Mangelnder Rechtsschutz
Für Menschen mit Behinderungen ist der Gang ans Bundesgericht momentan der einzige Weg zur Durchsetzung ihrer Rechte. Das Bundesgericht hat von der Schweiz ratifizierte Verträge – auch die UNO-Behindertenrechtskonvention - zwar anzuwenden. Bis anhin besteht für Betroffenen jedoch keine Möglichkeit sich gegen Entscheide des Gerichts zu wehren, welche im Widerspruch zur UNO-Behindertenrechtskonvention stehen. Dazu müsste die Schweiz das Fakultativprotokoll ratifizieren, welche ein Individualbeschwerdeverfahren beim UNO-Behindertenrechtsausschuss vorsieht. Stellt der Ausschuss einen Verstoss gegen die Konvention fest, spricht er eine nicht bindende Empfehlung an den Vertragsstaat aus.
Eine hängige Motion im Nationalrat verlangt ebendiese Ratifizierung des Fakultativprotokolls. Das Mitteilungsverfahren sei bereits für die Antifolterkonvention, die Antirassismuskonvention, die Frauenrechtskonvention sowie die Kinderrechtskonvention anerkannt. Genauso müssten Menschen mit Behinderungen die ihnen im Rahmen der UNO gewährleisteten Rechte vor dem zuständigen Ausschuss geltend machen können. Der Bundesrat empfahl die Motion zur Ablehnung: Die Konsequenzen einer Ratifizierung des Fakultativprotokolls auf die schweizerische Rechtsordnung könnten aufgrund mangelnder Erfahrungen mit der Praxis des Ausschusses nicht abgeschätzt werden. Die Haltung des Ausschusses zu zentralen Fragen, insbesondere zur unfreiwilligen Behandlung und Unterbringung von Menschen mit psychischen Störungen, stimme zudem mit der schweizerischen Praxis und derjenigen der Europaratsorgane nicht überein.
Fehlende Unterstützung zur Verwirklichung eines Menschenrechts
Das Bundesgericht prüft in seinem Urteil, ob mit der Einschränkung der Niederlassungsfreiheit ein legitimer Eingriff in ein Grundrecht vorliegt. Diese Herangehensweise scheint jedoch verfehlt: Die Frage ist nicht, ob ein legitimer Grundrechtseingriff vorliegt, sondern ob die Niederlassungsfreiheit einen verfassungsmässigen Anspruch auf die Übernahme der Kosten durch den Wohnsitzkanton begründet.
Anstelle der Frage «Darf der Staat verbieten?», hätte das Bundesgericht primär fragen müssen «Muss der Staat unterstützen?». Hierzu hätte es sich jedoch vertieft damit auseinandersetzen müssen, welche Rechte die UNO-Behindertenrechtskonvention garantiert und welche Verpflichtungen die Schweiz als Vertragsstaat einhalten muss. Eine solche Diskussion hat das Gericht bedauerlicherweise unterlassen. Es ist zu erwarten, dass der UNO-Behindertenrechtsausschuss die Schweiz anlässlich der anstehenden Überprüfung im Staatenberichtsverfahren an ihre Pflichten erinnern wird.