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Homeoffice: Keine IV-Leistungen für Menschen mit Beeinträchtigungen

25.05.2021

Laut Bundesgericht kann sich die Restarbeitsfähigkeit von gesundheitlich beeinträchtigen Menschen durch das Homeoffice erhöhen. Der Arbeitsmarkt biete diverse Arbeitsstellen, die grösstenteils von zu Hause aus ausgeführt werden könnten. Wem dadurch eine Erwerbsfähigkeit von über 60% zugesprochen wird, der besitzt keinen Rentenanspruch.

Gastbeitrag von Martina Čulić, Petra Kern und Caroline Hess-Klein von Inclusion Handicap

Das Bundesgericht hält in einem Urteil vom 10. Dezember 2020 (BGE 9C_15/2020) fest, dass der theoretisch «ausgeglichene Arbeitsmarkt» im kaufmännischen Bereich diverse Arbeitsstellen kennt, die nicht an einen bestimmten Arbeitsort gebunden sind und damit von zuhause aus ausgeführt werden können. Es bejaht im konkreten Fall die Verwertbarkeit einer speziell für Homeoffice attestierten Arbeitsfähigkeit von 80%.

Im vorliegenden Fall wurde die 1970 geborene A. wegen ihren Hüftbeschwerden in einem IV-Verfahren bidisziplinär begutachtet. Die beiden Gutachten attestierten der Frau seit Ende 2013 in ihrer administrativen sowie einer ihrem Leiden angepassten Verweistätigkeit eine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit von maximal 40%. Auf Nachfrage der IV-Stelle hielten die Gutachter hingegen fest, dass für von zuhause aus ausübbare administrative Tätigkeiten nur eine Einschränkung von 20 % vorliege. Die höhere Arbeitsfähigkeit im Homeoffice begründeten die Gutachter damit, dass die Belastungen der An- und Abreise zum Arbeitsort wegfielen.

Gestützt auf die Gutachten ging die IV-Stelle für A. neu von einer Arbeitsunfähigkeit von lediglich 20% aus. Da ein Invaliditätsgrad von unter 40% nicht rentenrelevant ist (Art. 28 Abs. 1 IVG), lehnte die IV-Stelle den Rentenanspruch ab. Das von A. mittels Beschwerde angerufene Sozialversicherungsgericht des Kanton Zürich sah dies anders: Auch auf dem «ausgeglichenen Arbeitsmarkt» bestehe für eine KV-Anstellung zu 80% im Homeoffice realistischerweise kein Bedarf, weshalb dieser Erwerb wirtschaftlich nicht verwertbar sei. Es ging von einer Restarbeitsfähigkeit von 60% aus und sprach A. gestützt auf einen Invaliditätsgrad von 40% eine Viertelsrente zu (Art. 28 Abs. 2 IVG). Die IV-Stelle erhob gegen dieses Urteil Beschwerde beim Bundesgericht.

Bundesgericht: Homeoffice als Teil des «ausgeglichenen Arbeitsmarktes»

Im Rahmen der Invaliditätsbemessung wird die wirtschaftliche Verwertbarkeit der medizinisch-theoretisch attestierten Arbeitsfähigkeit beurteilt. Hierfür dient der theoretische und abstrakte Begriff «ausgeglichener Arbeitsmarkt». Der «ausgeglichene Arbeitsmarkt» geht von einem theoretischen Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage aus und berücksichtigt die konkrete Arbeitsmarktlage nicht. Der Begriff dient der Invalidenversicherung als Abgrenzung zum Leistungsbereich der Arbeitslosenversicherung, welche sich am tatsächlichen Arbeitsmarkt orientiert.

In seinem Urteil weist das Bundesgericht zunächst darauf hin, dass im «ausgeglichenen Arbeitsmarkt» nicht leichthin angenommen werden könne, dass die verbleibende Leistungsfähigkeit wirtschaftlich nicht verwertbar sei. Von einer Unverwertbarkeit der Restarbeitsfähigkeit dürfe nur dann ausgegangen werden, wenn die zumutbare Tätigkeit derart eingeschränkt sei, dass sie der «ausgeglichene Arbeitsmarkt» praktisch nicht kenne, oder sie nur dank unrealistischem Entgegenkommen eines durchschnittlichen Arbeitgebers möglich und auf dem Arbeitsmarkt nicht zu finden wäre.

Weiter führte das Bundesgericht aus, dass der theoretisch «ausgeglichene Arbeitsmarkt» gerade im kaufmännischen Bereich diverse Arbeitsstellen aufweise, die mehrheitlich von zuhause aus ausgeführt werden könnten, weil sie nicht an einen bestimmten Arbeitsort gebunden sind. Zudem sei es A. gemäss Gutachten zumutbar, zumindest gelegentlich an den Betriebsort zu gelangen, um Arbeiten zu erledigen oder Termine wahrzunehmen. Daher könne im konkreten Fall von einer verwertbaren 80%igen Arbeitsfähigkeit ausgegangen werden, wodurch ein Invalideneinkommen vorliege, das die Rente ausschliesse. Das Bundesgericht hiess die Beschwerde der IV-Stelle deshalb gut und lehnte den Rentenanspruch von A. ab.

Der ausgeglichene Arbeitsmarkt: Vom «Mittelweg» zur «Fiktion»

Schon bevor das Bundesgericht den «ausgeglichenen Arbeitsmarkt» mit seinem Urteil auch auf eine Tätigkeit im Homeoffice ausdehnte, erntete das Konzept von Rechtsvertreter*innen und in der Lehre immer wieder Kritik. In einem Rechtsgutachten wurde jüngst darauf hingewiesen, dass es ursprünglich Sinn und Zweck des «ausgeglichenen Arbeitsmarktes» war, konjunkturelle Schwankungen auf dem realen Arbeitsmarkt – etwa Rezessionen – zu bereinigen und auf ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage nach Arbeit abzustellen. Jedoch bewege sich das Konzept in der Gerichts- und Veraltungspraxis immer mehr in Richtung einer abstrakten Fiktion, welche nicht nur konjunkturelle Schwankungen, sondern auch die Arbeitsmarktverhältnisse als solche ausblende.

Obwohl gelegentliche und regelmässige Teilheimarbeit auf dem Vormarsch ist, bilden Arbeitnehmer*innen, welche mehrheitlich von zuhause aus arbeiten, weiterhin eine Minderheit (BFS Tabelle «Teleheimarbeit 2001-2019» vom 20. März 2020, Grafik a). Die Aussage des Bundesgerichtes, wonach auf dem Arbeitsmarkt diverse Arbeitsstellen vorhanden seien, die mehrheitlich im Homeoffice ausgeführt werden könnten, trifft so verallgemeinert nicht zu. Die Arbeitnehmer*innen besitzen zudem keinen gesetzlichen Anspruch auf Homeoffice. Arbeitsstellen mit vertraglichem Anspruch auf mehrheitliches Homeoffice bilden darüber hinaus keinesfalls die Regel. Wer seine Arbeitsleistung allein im Homeoffice erbringen möchte, ist im realen Arbeitsmarkt also auf ein unrealistisches, von durchschnittlichen Arbeitgeber*innen kaum zu erwartendes Entgegenkommen angewiesen.

Wenn im Einzelfall bereits vor der Invalidität ein Grossteil der Arbeitstätigkeit im Homeoffice ausgeübt wurde und der Arbeitsplatz erhalten werden kann, könnte die medizinisch-theoretisch Arbeitsfähigkeit im Homeoffice allenfalls relevant sein. Andernfalls kann nicht davon ausgegangen werden, dass die ausschliessliche Homeoffice-Tätigkeit wirtschaftlich verwertbar ist. Schon seit Jahren schliesst das Verständnis des Bundesgerichtes vom «ausgeglichenen Arbeitsmarkt» – wonach jeder Person ein Arbeitsplatz offensteht, der ihren geistigen und körperlichen Fähigkeiten und ihrer Ausbildung entspricht – gesundheitlich beeinträchtigte Menschen, die keine realistischen Chancen mehr auf Verwertbarkeit ihrer Restarbeitsfähigkeit haben, von IV-Leistungen aus. Durch die nun erfolgte Ausdehnung des «ausgeglichenen Arbeitsmarkts» auf Tätigkeiten im Homeoffice wandert das Konzept noch einen Schritt weiter in Richtung Fiktion.

Restriktive IV-Praxis verursacht grosses Leid

Es ist nicht das erste Mal, dass das Bundesgericht den Zugang zu IV-Renten erschwert. In den letzten 20 Jahren hat sich die Gerichtspraxis immer mehr verschärft und die Kriterien für einen IV-Anspruch sind deutlich strenger geworden. Das bleibt nicht ohne Folgen: Menschen mit gesundheitlichen Problemen, die oft auch finanzielle Schwierigkeiten mit sich bringen, sind stark verunsichert. Die Erwartungen, welche an die Versicherten gestellt werden, sind unrealistisch. Dies bestätigt auch Thomas Gächter, Rechtsprofessor an der Universität Zürich und Spezialist für Sozialversicherungsrecht: «Die Annahme, dass es für jeden eine Stelle gibt, ist nicht realistisch und spiegelt auch nicht den Strukturwandel der letzten Jahrzehnte wider.» Gemäss Gächter springt das Bundesgericht damit für die Politik ein, welche sich seit jeher eine Einschränkung der IV-Leistungen wünscht.

Nachdem das Bundesgericht für Personen, die nur noch körperlich leichte Tätigkeiten ausüben können, auf dem «ausgeglichenen Arbeitsmarkt» bereits bisher unbeschränkt Stellen als Parkplatz- oder Museumswärter*innen, Kontrolleur*innen, Überwacher*innen oder Lagermitarbeitende, Empfangsmitarbeitende oder Magaziner*innen sah, geht es nun auch davon aus, dass nicht mehr arbeitsfähigen Kader- und Administrationsmitarbeiter*innen reine Homeoffice-Arbeitsplätze zur Verfügung stehen. Die Last dieser Entscheidungen tragen diejenigen, welche durch die restriktive Praxis der IV-Behörden und des Bundesgerichtes letztendlich in die Sozialfürsorge abrutschen.

Aus Sicht des Behindertengleichstellungsrechts ist die bundesgerichtliche Praxis ebenfalls kritisch zu würdigen: Sowohl die UNO-Behindertenrechtskonvention als auch die Bundesverfassung (Art. 8 Abs. 2 und 4 BV) verpflichten Gesetzgeber und Gerichte zur Beseitigung der Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen. Die Schweiz hat etwa gemäss UNO-Behindertenrechtskonvention Beschäftigungsmöglichkeiten für Menschen mit Behinderungen auf dem Arbeitsmarkt zu fördern (Art. 27 Abs. 1 lit. e BRK); gleichzeitig verpflichtet das Vertragswerk die Schweiz zur Gewährleistung eines angemessenen Lebensstandards für Menschen mit Behinderungen (Art. 28 Abs. 1 BRK). Bereits die Evaluation des Behindertengleichstellungsgesetzes (BehiG) im 2015 hob hervor, dass Menschen mit Behinderungen beim Zugang zur Arbeit mit spezifischen Benachteiligungen konfrontiert sind, unter anderem mit Vorurteilen oder Ängsten gegenüber ihrer Anstellung. Eine Voraussetzung für die Umsetzung von Artikel 27 und 28 der UNO-Behindertenrechtskonvention ist, dieser Realität in der Rechtsetzung sowie in der Rechtsprechung Rechnung zu tragen. Indem sich das Bundesgericht am Konstrukt eines fiktiven ausgeglichenen Arbeitsmarktes festkrallt, verunmöglicht es eine ehrliche Auseinandersetzung mit der Problematik sowie die Suche nach adäquaten Lösungen. Vor diesem Hintergrund erscheint die Verschärfung der Praxis fast zynisch: Zu befürchten ist, dass eine Person mit Behinderung, die zu einem wesentlichen Teil ihres Pensums auf Homeoffice angewiesen ist, noch weniger Chancen hat, einen Platz auf dem Arbeitsmarkt zu finden.

In seinem Entscheid beurteilte das Bundesgericht die Verhältnisse im Zeitpunkt der IV-Verfügung vom 15. August 2018 und somit noch vor der Corona-Pandemie. Das Urteil bezieht sich also nicht auf Pandemie-Zeiten und könnte damit für Betroffene, die bereits eine IV-Rente erhalten – und deren Situation alle drei bis fünf Jahre überprüft wird – tiefgreifende Konsequenzen haben. Denn selbst wenn die Pandemie die Home Office Politik der Schweizer Arbeitgebenden langfristig prägen sollte: Es ist nicht anzunehmen, dass sich damit auch die Vorbehalte gegenüber der Anstellung von Menschen mit Behinderungen automatisch reduzieren.

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