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UNO-Sozialausschuss zeigt kein Verständnis für die Haltung der Schweiz

24.11.2010

Der UNO-Ausschuss über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte hat am 19. November 2010 mit dem Erlass seiner Bemerkungen und Empfehlungen das zweite Staatenberichtsverfahren zur Schweiz abgeschlossen. Auf Seiten der UNO-Experten und Expertinnen ist dabei vor allem die Haltung der Schweiz auf Unverständnis gestossen, Sozialrechte lediglich als programmatische Rechte anzuerkennen und deren direkt durchsetzbaren Seite prinzipiell zu verneinen. Kritisiert hat der Ausschuss im Weiteren rund zwei Dutzend Punkte; er benannte konkrete Mängel und Lücken in der schweizerischen Rechtsordnung.

Zweites Verfahren nach 1998

1992 ist die Schweiz dem UNO-Pakt «über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte» (Pakt I) beigetreten und hat damit auch die Verpflichtung übernommen, regelmässig über seine Umsetzung durch die Schweiz Bericht zu erstatten. Damit tut sie sich allerdings schwer. Ihren ersten Bericht legte sie statt 1994 erst 1996 vor, der 1998 vom Sozialrechtsausschuss behandelt wurde, dem von den Vertragsstaaten gewählten Gremium von 18 unabhängigen Fachleuten. Und den zweiten Bericht, der spätestens 2003 fällig gewesen wäre, hat die Schweiz ohne substanzielle Begründung erst 2008 als kombinierten 2./3. Bericht vorgelegt. Nachdem in einem Vorverfahren der Schweiz im Herbst 2009 eine Liste mit 35 vertiefenden Fragen vorgelegt wurden, hat der Ausschuss den Bericht nun am 5. und 8. November 2010 mit einer Delegation der Schweiz behandelt. Mit Datum vom 19. November 2010 hat der Ausschuss seine Empfehlungen an die Adresse der Schweiz veröffentlicht.

Überblick über die Kritikpunkte

Der Ausschuss kritisiert – einmal mehr - die grundsätzliche Missachtung der justiziablen Gehalte der meisten im Pakt I aufgelisteten Rechte durch die Schweiz. Dies habe zur Folge, dass die Sozialrechte gar nicht eingefordert werden können. Der Bund habe dafür zu sorgen, dass die Rechte des Pakts I sowohl vom Bund als auch von den Kantonen beachtet und befolgt werden. Der Bund müsse die entsprechenden kantonalen Gesetze wie auch die kantonale Praxis bei der Umsetzung harmonisieren.

Besorgt zeigte sich der Ausschuss auch über die lückenhafte bzw. fehlende Antidiskriminierungsgesetzgebung (ein Mangel, den bereits andere Ausschüsse kritisiert haben, ohne allerdings bei der schweizerischen Regierung bzw. beim eidgenössischen Parlament Gehör zu finden), über den geringen Kündigungsschutz von Gewerkschaftern und Gewerkschafterinnen im geltenden Arbeitsrecht, und über die erst kürzlich eingeführte Gesetzgebung, welche Personen ohne Aufenthaltsrecht (sog. Sans Papiers) in der Schweiz das Eingehen einer Ehe verbietet. Anhaltende Geschlechterdiskriminierung im Erwerbsleben, Armut, Gewalt gegen Frauen und Kinder, unwürdige Lebensbedingungen von Asylsuchenden, insbesondere von asysuchenden Familien mit Kindern sowie unbegleiteten Kindern und die hohe Suizidrate bzw. die Verfügbarkeit von Armeewaffen in der Schweiz sind weitere Themen, zu welchen der Ausschuss Empfehlungen erliess.

Im Bereich Bildung kritisierte er die mangelhafte Aufklärung über Sexualität, wie auch über sexuelle und reproduktive Gesundheit sowie die ungenügende Vorschulerziehung. Er empfiehlt der Schweiz sodann, die Kultur der Roma, Sinti und Jenischen konkret zu fördern. Und einmal mehr wird die Schweiz aufgefordert, genügend Standplätze für die Fahrenden zu schaffen.

Mit Blick auf die Aussenwirtschaftspolitik der Schweiz empfiehlt der Ausschuss, deren Auswirkungen auf die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte genau zu prüfen und er ermutigt die Schweiz, ihren Beitrag zur Entwicklungshilfe so rasch als möglich von heute 0.47% des Bruttoinlandprodukts auf den internationalen Standard von 0.7% zu erhöhen.

Schliesslich ermutigte der Ausschuss die Schweiz, das Fakultativprotokoll zum Pakt I von 2008 betreffend Individualbeschwerdeverfahren zu ratifizieren. Er legt der Schweiz sodann nahe, seine Empfehlungen zu übersetzen und breit zu streuen, im speziellen in der Verwaltung und bei Politikern/-innen wie auch bei den Gerichtsbehörden.

Aus Sicht von Humanrights.ch ist erfreulich, dass der Ausschuss bei seinen Bemerkungen und Empfehlungen an die Adresse der Schweiz in grossen Teilen dieselben Probleme angesprochen hat, wie sie auch die NGO-Koalition in ihrem Schattenbericht aufgelistet hat.

Fragen und geballte Kritik zum Schweizer Bericht

Die Anhörung der Schweizer Delegation fand am 5. und 8. November in Genf statt. Humanrights.ch war bei der Anhörung vor Ort und hat im Rückblick die Verhandlungen mit der Schweiz wie folgt eingeschätzt:

«Auch wenn der Schweiz vom Sozialausschuss aufrichtig die Referenz als Gastland des UNO-Menschenrechtszentrums erwiesen wurde, sah sie sich gleich zu Beginn grundlegender Kritik ausgesetzt, die von einem Konsens der Ausschussmitglieder getragen wird. Die Schweizer Haltung, dass der Sozialrechtspakt programmatischen Charakter habe und kaum konkrete, einklagbare Rechte beinhalte, ist für sie inakzeptabel. Die Hälfte der Ausschussmitglieder aus allen Kontinenten äusserte sich dazu und ihre Voten bildeten so etwas wie ein Kolloquium zum Charakter der Sozialrechte und zur Bedeutung des Fakultativprotokolls zum Pakt I. Nichts belege den Rechtscharakter des Sozialrechtspakts stärker als die Verabschiedung des Fakultativprotokolls im Konsens durch die UNO-Generalversammlung am 10. Dezember 2008. Der Rechtfertigungsversuch der Schweizer Delegation fiel demgegenüber nicht sehr überzeugend aus.

Andiskriminierungsgesetzgebung, Ausschaffungsinitaitive, Behindertenkonvention und vieles mehr

Angesichts dieser geballten Kritik kamen andere grundlegende Kritikpunkte weniger zur Geltung, die aber wohl auch ihren Niederschlag in den Empfehlungen des Ausschusses finden werden, insbesondere das Fehlen einer allgemeinen Antidiskriminierungsgesetzgebung wie jenes einer unabhängigen Menschenrechtsinstitution. Bemängelt wurden auch die fehlenden, wenig detaillierten oder nicht aktuellen statistischen Angaben quer durch die Themengebiete der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte. Und zur Ausschaffungsinitiative äusserten verschiedene Ausschussmitglieder Besorgnis - die Expertin aus Costa Rica führte ein Beispiel aus ihrem Land an, wo ein Referendum wegen Verletzung von Minderheitenrechten als ungültig erklärt wurde. Mehrfach angesprochen wurden darüber hinaus die Verpflichtungen der Schweiz in der internationalen Zusammenarbeit, so der deutlich unter den Vorgaben der UNO liegende Anteil des Schweizer Beitrags an die Entwicklungshilfe wie auch der über die Vorgaben der WTO hinausgehende Patentschutz und Schutz des geistigen Eigentums gegenüber Entwicklungsländern, die sowohl das Recht auf Gesundheit wie jenes auf Nahrung der Menschen in diesen Ländern beeinträchtigen können.

Bemerkenswert ist, dass die UNO-Experten/-innen praktisch zu allen Artikeln bzw. den entsprechenden Rechten Fragen stellten. Einen Themenkreis bildeten Armutsbekämpfung, Obdachlosigkeit, „working poor“ und damit zusammenhängend die Fragen von Minimallohn, Kinderbetreuung, Lohndiskriminierung und Mutterschaftsschutz. Beim Schutz der Gewerkschaftsrechte wurden insbesondere das Streikrecht und der Schutz von Gewerkschaftsmitgliedern thematisiert. Bei den Arbeitsbedingungen interessierten sich die Experten/-innen für die Entwicklung des Pensionierungsalters.

Zum Beitritt der Schweiz zur UNO-Behindertenkonvention war von der Schweizer Delegation zu hören, dass noch im Dezember dieses Jahres das Vernehmlassungsverfahren eröffnet werden dürfte, nachdem es sich gezeigt habe, dass sie im Prinzip mit der Schweizer Rechtsordnung kompatibel sei. Im optimistischen Fall erfolge das Beitrittsverfahren im kommenden Jahr. In diesem Zusammenhang war auch die Frage aufgeworfen worden, ob es in der Schweiz Anstellungsquoten für Behinderte gebe.

Hohe Suizidrate schockiert

Zum Recht auf Gesundheit wurde eindringlich nach den Ursachen der enorm hohen Suizidrate gefragt, die offensichtlich einige Ausschussmitglieder schockiert hat, und der Experte aus Jordanien fragte, warum die Schweiz bei der Waffenkontrolle der internationalen Entwicklung so weit hinterher hinke. Etliche Fragen warf zudem die Finanzierung der Krankenversicherung auf und auch die Zwangspsychiatrisierung wurde thematisiert.

Im Zusammenhang mit dem Bildungswesen gaben vor allem drei Fragen zu reden. Einerseits die Verfügbarkeit und Zugänglichkeit von Betreuungsplätzen im Vorschulbereich und welchen Einfluss der Föderalismus darauf hat. Anderseits die Diskriminierung von Ausländerkindern in der Schule und die Zugänglichkeit für Sans-Papier-Kinder, insbesondere deren Zugang zur Berufsbildung. Zudem kamen die kantonal stark unterschiedlichen Stipendien zur Sprache.

Auskunft verlangt wurde des weiteren zur schikanösen Behandlung von Roma, insbesondere in Genf, und wie die Kultur der Jenischen geschützt werde. Auch nach der Höhe der Kulturausgaben wurde gefragt. Zudem warf die Ausländer- und Asylpolitik einen ganzen Strauss von Fragen auf. Dabei ging es einerseits um die unterschiedliche Behandlung von EU-Bürger/-innen und den sog. Drittstaatenangehörigen, vor allem aber um die Personen mit prekärem Status und die Sans-Papiers. Ihre Behandlung, Unterbringung, soziale Absicherung und Gesundheitsversorgung waren für den Ausschuss im doppelten Wortsinn fragwürdig. In Frage gestellt wurde auch die Inhaftierung von Minderjährigen.

Menschenhandel, sexueller Missbrauch und häusliche Gewalt waren vor allem Thema im Zusammenhang mit dem Aufenthaltsrecht von Ausländerinnen. Zwangsheiraten kamen ebenso zur Sprache wie das verweigerte Recht auf Heirat für Papierlose – wo die Schweizer Delegation trotz der kürzlich verabschiedeten Gesetzesrevision, die Heiraten ohne gülltige Papiere unterbindet, darauf bestand, dass das Recht auf Heirat garantiert sei.»


NGO-Schattenberichte zur Umsetzung der Sozialrechte in der Schweiz

(Artikel vom 13.10.2010)

Im Hinblick auf das Staatenberichtsverfahren der Schweiz vor dem UNO-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte im November 2010 haben zwei schweizerische NGO-Koalitionen ihre Schattenberichte beim Ausschuss hinterlegt.

Eine breit abgestützte NGO-Koalition hat unter der Ägide von Humanrights.ch ihre Einschätzung zur Umsetzung der Sozialrechte in der Schweiz zusammengefasst und Mitte September 2010 an den Ausschuss übermittelt. Im Weiteren hat die «Coalition suisse romande sur le droits économiques, sociaux et culturels» einen eigenen Bericht zu Handen des Ausschusses verfasst. Weitere Eingaben internationaler Organisationen finden sich auf der Website des Uno-Hochkommissariats für Menschenrechte.

Die schweizerischen Menschenrechtsorganisationen, Hilfswerke und Gewerkschaften stellen verschiedene Probleme und Lücken bei der Umsetzung der Sozialrechte fest. Sie reklamieren insbesondere, dass den Sozialrechten in der Schweiz eine untergeordnete Rolle zukommt: Im Gegensatz zu den klassischen Grundrechten gelten sie gemäss Bundesverfassung nicht als Rechte, sondern lediglich als programmatische Bestimmungen und sind damit auch nur bedingt einklagbar (siehe Art. 41 BV). Besorgt sind die Organisationen zudem über empfindliche Lücken bei der Umsetzung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte für ausländische Personen und Minderheiten.