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Verschwindenlassen von Personen

Luluyev et al. gegen Russland

Beschwerde Nr. 69480/01, Urteil vom 9. November 2006 (pdf, englisch, 36 S.)

Akhmadova und Sadulayeva gegen Russland

Beschwerde Nr. 40464/02, Urteil vom 10. Mai 2007 (pdf, englisch, 35 S.)

Verletzung von Art. 2, 3 und 5 EMRK 

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat sich in den vergangenen Jahren immer wieder mit Beschwerden befasst, die das Phänomen des Verschwindenlassens von Personen betrafen. In jüngster Zeit waren vor allem Fälle in Tschetschenien aktuell. Auf zwei dieser Urteile soll in der Folge eingegangen werden (vgl. aber auch die weiteren Urteile Bazorkina gegen Russland sowie Imakayeva gegen Russland).

Der Sachverhalt

Im Fall Luluyev et al. gegen Russland machten die Beschwerdeführer geltend, dass ihre Ehefrau, Mutter, Tochter und Schwester Nura Luluyeva im Juni 2000 auf einem Markt in Grosny (Tschetschenien) vom russischen Militär festgenommen und in einem gepanzerten Fahrzeug weggebracht wurde. Die Familienangehörigen versuchten erfolglos, Informationen über den Verbleib von Nura Luluyeva zu erhalten. Ende Februar 2001 wurde in unmittelbarer Nähe des Hauptquartiers der russischen Armee in Tschetschenien ein Massengrab mit 47 Leichen entdeckt. Die Leiche von Nura Luluyeva konnte von ihrem Bruder anhand des Schmuckes und der Kleider identifiziert werden. Die gerichtsmedizinische Untersuchung der Leiche kam zum Schluss, dass Nura Luluyeva durch einen Kopfschuss getötet worden war. Ein vergleichbarer Sachverhalt lag auch dem Fall Akhmadova und Sadulayeva gegen Russland zugrunde. Die Beschwerdeführer machten geltend, dass ihr Sohn und Ehemann verschwunden sei, nachdem er im März 2001 von Angehörigen des russischen Militärs in der Nähe von Grosny (Tschetschenien) festgenommen worden und in einem gepanzerten Fahrzeug weggebracht worden war. Auch hier blieben die Versuche der Familienangehörigen, Informationen über den Verbleib von Shamil Akhmadov zu erhalten, erfolglos. Im April 2002 wurde von Dorfbewohnern auf einem Feld eine Leiche gefunden, die von den Beschwerdeführerinnen aufgrund der Kleidung als diejenige von Shamil Akhmadov identifiziert werden konnte. Die gerichtsmedizinische Untersuchung kam zum Schluss, dass Shamil Akhmadov bereits im März 2001 durch Gewaltanwendung und Schussverletzungen getötet worden war.

Verschwindenlassen verletzt das Recht auf Leben sowie auf Freiheit und Sicherheit

In beiden Fällen machten die Beschwerdeführer zunächst geltend, dass das in Artikel 2 EMRK verankerte Recht auf Leben verletzt worden sei. Hierzu bemerkte der Gerichtshof, dass das Recht auf Leben eine der fundamentalsten Bestimmungen der Konvention darstelle und er daher Beschwerden, in denen eine Verletzung dieser Bestimmung geltend gemacht werde, besonders eingehend prüfen müsse. Unter Hinweis auf seine ständige Praxis hielt er weiter fest, dass der in der Beschwerde gerügte Sachverhalt nach strengsten Beweisführungsstandards zweifelsfrei erwiesen sein muss, d.h. keine vernünftigen Zweifel zulässt. Wenn die Beschwerdeführer zudem glaubhafte Ausführungen machen und der Gerichtshof diese wegen fehlender Unterlagen, die sich ausschliesslich im Besitz der staatlichen Behörden befinden, nicht nachprüfen könne, trete eine Beweislastumkehr ein: es liege nunmehr an der Regierung, überzeugend darzulegen, weshalb die fehlenden Dokumente die Ausführungen der Beschwerdeführer nicht zu bestätigen vermögen bzw. eine befriedigende und überzeugende Erklärung für die Ereignisse zu geben. In beiden vom Gerichtshof entschiedenen Fälle wurden die von den Beschwerdeführern geltend gemachten Umstände des Verschwindens ihrer Familienangehörigen – die Anwesenheit von Militärangehörigen und gepanzerten Militärfahrzeugen am Ort der Festnahme etc. – von der russischen Regierung nicht bestritten. Da zudem aufgrund der Umstände auch eine Verbindung zwischen der Festnahme und dem Tod angenommen werden musste – so trugen die getöteten Personen noch die gleichen Kleider, die sie am Tag ihrer Festnahme getragen hatten und die Leiche Nura Luluyeva war in unmittelbarer Nähe des russischen Hauptquartiers gefunden worden – kam der Gerichthof in beiden Fällen zum Schluss, es könne vernünftigerweise nicht daran gezweifelt werden, dass die russischen Behörden den Tod von Nura Luluyeva und Shamil Akhmadov zu verantworten hätten und daher das Recht auf Leben verletzt worden sei. Zudem hätten die russischen Behörden auch die aus dem Recht auf Leben fliessende Pflicht verletzt, die Umstände des Verschwindens und Todes effektiv zu untersuchen.

Der Gerichtshof kam auch in Bezug auf das in Art. 5 EMRK verankerte Recht auf Freiheit und Sicherheit zum Schluss, dass dieses in beiden Fällen verletzt worden sei. Sowohl Nura Luluyeva als auch Shamil Akhmadov seien incommunicado festgehalten worden, was eine besonders schwere Verletzung des Rechtes auf Freiheit und Sicherheit darstelle.

Angehörige der verschwundenen Opfer

In beiden Fällen machten die Beschwerdeführer schliesslich geltend, dass die durch die Festnahme und Tötung von Nura Luluyeva und Shamil Akhmadov hervorgerufenen seelischen Qualen, Schmerzen und Leiden die Anwendungsschwelle von Art. 3 EMRK überschritten hätten. Der Gerichtshof führte hierzu aus, dass eine Anwendung von Art. 3 EMRK dann in Frage komme, wenn die Zeit, in der die betreffenden Personen vermisst werden und es den Angehörigen unmöglich ist, herauszufinden, was mit den Vermissten passiert ist, längere Zeit andauert. Da diese Zeitspanne im Fall von Nura Luluyeva rund 10 Monate und bei Shamil Akhmadov mehr als ein Jahr betrug, bejahte der Gerichtshof das Vorliegen einer Verletzung von Art. 3 EMRK.

Bemerkung: Die Urteile in Luluyev et al. gegen Russland sowie Akhmadova und Sadulayeva gegen Russland verdeutlichen, dass in Fällen des Verschwindenlassens von Personen durch staatliche Organe nicht nur die Rechte der Verschwundenen verletzt werden, sondern vielmehr auch die Angehörigen der verschwundenen Personen Opfer von Menschenrechtsverletzungen sind. Dabei steht Art. 3 EMRK im Vordergrund.

Forschritte im Kampf gegen das Verschwindenlassen von Personen auf UNO-Ebene

Das Phänomen des Verschwindenlassens von Personen ist zwar leider nicht neu, doch gelang es erst in jüngster Zeit, einschlägige völkerrechtliche Regelungen gegen diese Menschenrechtsverletzung zu erarbeiten. So hat der Menschenrechtsrat der UNO im Juni 2006, nach jahrelangen Vorarbeiten, den Entwurf einer Konvention gegen das Verschwindenlassen von Personen verabschiedet. Nachdem die UNO-Generalversammlung der Konvention am 20. Dezember 2006 zugestimmt hat, wurde sie am 6. Februar 2007 zur Unterzeichnung aufgelegt. Die Konvention tritt in Kraft, wenn zwanzig Staaten sie ratifiziert haben. Bislang wurde sie von 81 Staaten unterzeichnet und von 15 ratifiziert (Stand 29.09.2009). Die Schweiz hat die Konvention noch nicht unterzeichnet. Die Konvention definiert in Art. 2 das Verschwindenlassen als die Festnahme, Haft, Entführung oder jede andere Form des Freiheitsentzuges durch staatliche Behörden oder durch Personen bzw. Personengruppen, die mit Erlaubnis, Unterstützung oder Einverständnis des Staates handeln, gefolgt von der Weigerung, den Freiheitsentzug zu bestätigen oder der Verheimlichung des Schicksals oder des Aufenthaltsortes der verschwundenen Person. Staaten, welche die Konvention ratifizieren, sind verpflichtet, das Verschwindenlassen von Personen als Straftat zu qualifizieren und Massnahmen dagegen zu ergreifen.