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Fehlender Schutz vor Kindsmissbrauch in Primarschule: Staatshaftung bejaht

22.02.2014

 

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) beurteilte in seinem Entscheid O’Keeffe v. Irland vom 29. Januar 2014 die von Irland getroffenen Massnahmen zum Schutz von Kindern vor Missbrauch während der Primarschulzeit als unzureichend. Die Grosse Kammer verurteilte Irland mit elf gegen sechs Stimmen zu 115‘000 Euro Schadensersatz und der Zahlung von Schmerzensgeld.

Der Sachverhalt

Die Beschwerdeführerin Louise O’Keeffe machte geltend, in ihrer Grundschulzeit anfangs der 1970er Jahre von ihrem Lehrer wiederholt sexuell missbraucht worden zu sein. Ihr ehemaliger Lehrer L.H. bestritt die Missbrauchsvorwürfe nicht und gab sogar zu, auch zahlreiche weitere Schüler/innen in seiner Zeit als Lehrer sexuell missbraucht zu haben.

2009 gelangte die Beschwerdeführerin an den irischen Supreme Court und verklagte neben ihrem ehemaligen Lehrer das irische Bildungsministerium, die irische Generalstaatsanwaltschaft sowie die Republik Irland. Sie verlangte Schadensersatz aufgrund des Unvermögens des irischen Staates, Schulkinder vor sexuellem Missbrauch zu schützen.

Der Supreme Court verneinte die Haftbarkeit von Irland. Er argumentierte, nicht der Staat sei für den Betrieb der Grundschule verantwortlich gewesen, sondern die katholische Kirche. Der Staat könne demnach nicht für etwas haftbar gemacht werden, das sich seiner Kenntnis entzog.

Tatsächlich wurden in Irland zur in Frage stehenden Zeit Primarschulen zwar staatlich finanziert, die Führung und der Betrieb der Schulen oblag allerdings hauptsächlich der katholischen Kirche.

Fehlende staatliche Aufsicht

Die grosse Kammer des EGMR hielt zunächst fest, dass das in Art. 3 EMRK statuierte Verbot der unmenschlichen Behandlung gemäss konstanter Praxis des Gerichtshofs auch die staatliche Pflicht beinhaltet, besonders verletzliche Gruppen wie Kinder vor Übergriffen Privater zu schützen. So drehte sich die Beurteilung des vorliegenden Falles im Kern um die Frage, ob der irische Staat in den frühen 1970er Jahren wusste oder hätte wissen müssen, dass Schüler/innen kirchlicher Grundschulen dem Risiko von sexuellem Missbrauch ausgesetzt waren. Falls ja, wäre der Staat verpflichtet gewesen, geeignete Aufsichtsmechanismen einzurichten.

Die grosse Kammer des Gerichtshofs entschied, dass aufgrund einer beträchtlichen Zahl von Strafverfahren gegen Grundschullehrer anfangs der 1970er Jahre der irische Staat hätte wissen müssen, dass grundsätzlich eine Gefahr von sexuellem Missbrauch von Minderjährigen während der Schulzeit bestand. Basierend auf dieser Erkenntnis hätten vom Staat geeignete Aufsichts-, Reporting und Beschwerdemechanismen eingerichtet werden müssen.

Der EGMR bemerkte in seinem Urteil, dass keine eindeutigen oder angemessenen rechtlichen Verpflichtungen oder Richtlinien bestanden, die es der Schulaufsicht hätte erlauben können, Misshandlungen von Kindern aufzudecken und weiterzuleiten. Zudem waren für Eltern von betroffenen Kindern die Beschwerdemöglichkeiten undurchsichtig oder nicht vorhanden. Die Schulen waren darüber hinaus rechtlich nicht verpflichtet, Missbrauchsvorwürfe dem zuständigen Departement oder der Polizei zu melden. Aus diesen Gründen befand der EGMR die staatliche Aufsicht über die Grundschulen als unzureichend und bejahte die Haftbarkeit Irlands für die infolge des Missbrauchs erlittenen gesundheitlichen Schäden der Beschwerdeführerin.

Dissenting opinions

Die abweichende Meinung von sechs Richtern/-innen bezog sich auf die Tatsachenfeststellung: Die Richter kritisierten in ihrem abweichenden Urteil, dass sich der EGMR bei der Beurteilung des Falles auf eine Reihe von Berichten und Zahlen gestützt habe, die vom heutigen Standpunkt aus betrachtet einen derartigen Schluss der unzureichenden Aufsicht wohl zuliessen. Beruhend auf der Faktenlage der frühen 1970er Jahre sei diese Einsicht jedoch nicht ohne Weiteres möglich gewesen.

Dokumentation