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Leihmutterschaft: Kehrtwende der Grossen Kammer des Europäischen Gerichtshofes

07.03.2017

Am 24. Januar 2017 hat die Grosse Kammer des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte in Strassburg ein neues Urteil zum Fall Paradiso et Campanelli vs. Italien gefällt. Bei dem Fall musste das Gericht darüber entscheiden, ob die italienischen Behörden durch die Wegnahme eines Kindes die Europäische Menschenrechtskonvention verletzten. Das Kind wurde von einer Leihmutter in Russland ausgetragen und ist mit den Beschwerde führenden Wunscheltern aus Italien biologisch nicht verwandt. Italien warf den Wunscheltern die Umgehung der Adoptionsbestimmungen vor, nahm ihnen das Kind weg und platzierte es bei Pflegeeltern unter Einrichtung einer Vormundschaft. Im Gegensatz zum ersten Urteil der Kleinen Kammer vom Januar 2015 entschied die Grosse Kammer im Januar 2017, dass Italien das Recht auf Privatleben und Familie dadurch nicht verletzt hatte.

Sachverhalt

Bei den Beschwerdeführenden handelt es sich um ein italienisches Paar, welches keine Kinder bekommen kann. Das Paar hatte sich deshalb über eine Agentur an eine Leihmutter aus Russland gewandt. Für das Kind zahlten die Wunscheltern 49‘000 Euro an die Agentur. Im Februar 2011 kam das Kind zur Welt und wurde in Moskau beim Standesamt als Kind der Wunscheltern registriert. Anschliessend brachten die Eltern das Kind mit gefälschten Geburtsurkunden nach Italien. Nach ihrer Rückkehr wurde ein Strafverfahren gegen das Paar eröffnet. Mit Hinweis auf den Ordre Public haben die italienischen Behörden den Eintrag beim Standesamt in Russland für ungültig erklärt. Gemäss den italienischen Behörden habe das Paar die italienischen Adoptionsbestimmungen umgangen, denn in Italien ist die Leihmutterschaft verboten.

Die italienischen Behörden nahmen dem Paar das damals neun Monate alte Kind weg und stellten es unter Vormundschaft, bevor es bei einer Pflegefamilie untergebracht wurde. Aufgrund dieses Vorgehens verfügte das Kind während zweier Jahre über keine rechtliche Existenz. Erst im Jahr 2013 erhielt das Kind einen Geburtseintrag mit dem Vermerk «Eltern unbekannt».

Das erste Urteil

Im Januar 2015 entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dass die Wegnahme des Kindes eine Verletzung des Rechts auf Privatleben und Familie darstellt. Das Gericht begründete den Entscheid damit, dass das Wohl des Kindes, im Vergleich zum Ordre Public, nicht genügend gewichtet worden sei. Die Behörden hätten nicht berücksichtigt, dass zwischen den Wunscheltern und dem Kind bereits eine emotionale Bindung entstanden sei. Sie hätten eine Massnahme ergriffen, die nur in Extremfällen gerechtfertigt sei. Ein Extremfall wäre vorgelegen, wenn das Kind in Gefahr gewesen wäre. Die Wunscheltern hätten sich aber sehr gut um das Kind gekümmert. 

Das Gericht betonte auch, dass die Behörden durch ihren Entscheid dazu beigetragen hätten, dass das Kind zwei Jahre lang keine legale Identität besass. Dadurch sei das Kind gegenüber anderen Kindern, die nicht einer Leihmutterschaft entstammten, benachteiligt gewesen.

Meinungsumschwung

Die Argumentation des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom Januar 2015 war in Einklang mit der vorausgehenden Rechtsprechung. Frühere Urteile, die zwischen dem öffentlichen Interesse und dem Recht auf Privatleben und Familie abwägen mussten, orientierten sich jeweils am Prinzip, das Wohl des Kindes als vorrangig zu behandeln.

Die Grosse Kammer des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte urteilte im Januar 2017 aber ganz anders. Gemäss diesem Urteil müsse in Betracht gezogen werden, dass die Beschwerdeführer illegal gehandelt hätten und dass die Beziehungen zu dem Kind ab dem Moment, in dem sie es nach Italien gebracht hätten, rechtlich prekär gewesen seien. Die Situation hätte sich zudem noch verschlechtert, als durch einen DNA-Test bewiesen wurde, dass das Kind weder mit der Mutter noch mit dem Vater biologisch verwandt ist. Das Kindeswohl wird im neuen Urteil hingegen kaum erwähnt. Das Urteil weist lediglich darauf hin, dass die italienischen Behörden richtig gehandelt hätten, indem sie möglichst schnell reagiert hätten. Dadurch hätten sie vermieden, dass das Kind durch die Trennung starke oder gar unheilbare Schäden erlitten hätte. Die verschiedenen Interessen seien von den Behörden gut gegeneinander abgewogen worden, argumentiert das Gericht.

Das Recht vollendete Tatsachen abzulehnen

Das Gericht machte im Urteil von 2017 keine Abwägung zwischen dem Interesse des Kindes und dem Ordre Public, sondern urteilte über das Recht des Paares, unter den gegebenen Umständen Eltern zu werden. Zudem betont das Gericht das Recht der italienischen Behörden, sich vollendeten Tatsachen zu widersetzen in einer ethisch heiklen Frage, über die in Europa keine Einigkeit herrscht. Unter dieser Voraussetzung verfüge Italien über einen weiten Ermessensspielraum. Das Gericht versichert zwar, dass es den emotionalen Schmerz von Personen, die keine Kinder bekommen können, nicht einfach ignoriert. Es weist aber auch darauf hin, dass die Europäische Menschenrechtskonvention kein Recht auf Elternschaft beinhaltet. Das öffentliche Interesse sei grösser als das Interesse der Beschwerdeführer, das Kind zu behalten. Könnte das Kind bei den Beschwerdeführenden bleiben und von diesen gar adoptiert werden, würde eine Situation legalisiert, die aus einer Verletzung mehrerer italienischer Gesetze entstanden sei.

Abweichende Meinungen

In seinem zweiten Urteil war die Mehrheit der Richter des Europäischen Gerichtshofes der Meinung, dass in diesem Fall kein aus den Tatsachen ableitbares Recht auf Familie zwischen dem Kind aus Russland und den Wunscheltern vorlag. Begründet wurde diese Auffassung damit, dass keine biologische Verwandtschaft bestand, dass die Beziehung nur acht Monate dauerte und dass die Verbindung zwischen dem Kind und dem Paar rechtlich gesehen sehr prekär war.

Allerdings gab es diesbezüglich unter den Richtern/-innen keine Einigkeit. Fünf der zwölf Richter/innen vertraten eine andere Meinung. Gemäss diesen fünf Richtern/-innen war die gemeinsame Zeit des Paares mit dem Kind zwar kurz; sie hätten sich während dieser Zeit jedoch wie die Eltern des Kindes verhalten. Die Mehrheit der Richter/innen mache hier einen Unterschied zwischen «legitimer» Familie und «natürlicher» Familie, erklären die fünf Richter/innen in einer gemeinsamen Aussage. Eine solche Unterscheidung werde vom EGMR aber bereits seit mehreren Jahren verworfen.

In der gemeinsamen Stellungnahme betonen die fünf Richter/innen auch ihr Nicht-Einverständnis mit der Art und Weise, wie das Urteil das Kindeswohl ausser Acht liess. In keinem Moment hätte sich die Mehrheit der Richter/innen gefragt, ob es im Interesse des Kindes wäre, bei jenen Personen zu bleiben, die sich wie seine Eltern verhielten. Die Wegnahme des Kindes basierte auf rein juristischen Motiven. Das Kindeswohl wurde nur erwähnt, als es darum ging, einzuschätzen, ob die Konsequenzen der Wegnahme, nachdem sie bereits geschehen war, nicht schädlich für das Kind waren. Für die fünf Richter/innen ist klar, dass sich das Gericht ein schweres Versäumnis vorwerfen lassen muss, weil es die Wegnahme selbst nicht unter dem Aspekt des Kindeswohls gewürdigt hat. Denn das Wohl des Kindes sollte in solchen Fällen immer an erster Stelle stehen, argumentieren die fünf Richter/innen. 

Was ändert dieses Urteil?

Der russische Richter Dmitry Dedov unterstützt das Urteil der Grossen Kammer und betont den Zusammenhang zwischen Leihmutterschaft und Menschenhandel: «Menschenhandel geht Hand in Hand mit Leihmutterschaftsvereinbarungen. Die Tatsachen im vorliegenden Fall zeigen eindeutig, wie leicht es ist, Menschenhandel formell als eine Leihmutterschaftsvereinbarung hinzustellen.» Auch die übereinstimmende Meinung von vier weiteren Richtern/-innen der Grossen Kammer geht ins Grundsätzliche, wenn sie dafürhalten, die Leihmutterschaft sei nicht mit der menschlichen Würde vereinbar. Diese Interpretation steht in starkem Kontrast zu dem Urteil von 2015. Die Richter betonten 2015 noch, dass es sich bei diesem Fall um die Wegnahme und die Bevormundung eine Kindes handelt und nicht um eine generelle Beurteilung der Leihmutterschaft.

Der Entscheid der Grossen Kammer stellt einen Bruch mit der bisherigen Rechtsprechung des EGMR dar. Diese Wende kann als eine Erweiterung des Handlungsspielraums jener Staaten interpretiert werden, welche die Leihmutterschaft verbieten. Zu diesen Staaten gehören die meisten Staaten Westeuropas und auch die Schweiz. Ob das Urteil eine grundlegende Veränderung und eine komplette Neuinterpretation der Urteile von 2014 (Mennesson vs. Frankreich und Labassee vs. Frankreich) bedeutet, ist allerdings noch unklar. Dies betonen auch die Gegner der Leihmutterschaft in der konservativen französischen Zeitung Figaro vom 24. Januar 2017. In dem Entscheid Paradiso und Campanelli hätte sich das Gericht darauf gestützt, dass keine biologische Verwandtschaft vorliegt, dass die Beziehung zwischen dem Kind und den Wunscheltern auf grosser Rechtsunsicherheit basierte und dass diese Beziehung nur kurz dauerte. Diese Punkte seien ausschlaggebend dafür gewesen, dass das Gericht zur Schlussfolgerung kam, dass keine Verletzung des Rechtes auf Familie vorlag. Allerdings wiesen viele Kinder aus einer Leihmutterschaft eine biologische Verwandtschaft mit dem Vater der Wunscheltern auf. Die Schlussfolgerung könnte in dieser Situation deshalb eine andere sein und eine weitreichende Interpretation der Konsequenzen dieses Urteils sei verfrüht.

Dokumentation