15.07.2011
Christliche Kreuze, die in Klassenzimmern öffentlicher Schulen angebracht sind, verletzen keine Grundrechte - weder Artikel 2 des 1. Zusatzprotokolls (Recht auf Bildung), noch Art. 9 der EMRK (Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit). Dies hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in einem Fall aus Italien entschieden. Damit revidierte der Gerichtshof seine Entscheidung vom November 2009. Damals hatte er das obligatorische Anbringen von Kruzifixen noch als Verstoss gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) beurteilt.
Zusammenfassung des Falles
Die Klägerin Soile Lautsi und ihre 1988 und 1990 geborenen Söhne, Dataico und Sami Albertin, sind italienische Staatsangehörige. Im Schuljahr 2001/02 besuchten die Söhne eine staatliche Schule im italienischen Abano Terme, in deren Klassenzimmern Kruzifixe angebracht waren. Bei einer Versammlung fragte der Ehemann der Klägerin den Schulbeirat an, ob die Kruzifixe aus den Klassenzimmern entfernt werden könnten. Der Schulbeirat entschied jedoch, die religiösen Symbole in den Unterrichtsräumen zu belassen. Daraufhin legte die Mutter der Kinder im Juli 2002 beim Verwaltungsgericht Venetien eine Klage ein und machte unter anderem auch einen Verstoss gegen das Gebot staatlicher Neutralität in Religionsfragen geltend.
Nachdem Soile Lautsi in Italien vergeblich durch alle Instanzen – bis vor den Verfassungsgerichtshof zog, schaltete sie im Juli 2006 den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ein. Die Kleine Kammer des Strassburger Gerichts gab im November 2009 der Familie Recht und sprach ihr eine Entschädigung von 5'000 Euro zu.
Die italienische Regierung beantragte daraufhin die Überprüfung des Urteils durch die Grosse Kammer. Italien vertrat dabei die Auffassung, dass das Kreuz in dem katholisch geprägten Land heute eine Tradition darstelle, welche, über ihre religiöse Bedeutung hinaus, die Werte und Prinzipien der westlichen Demokratie und Zivilisation symbolisiere.
Die Entscheidung des Grossen Kammers erging mit fünfzehn gegen zwei Stimmen; sie ist endgültig.
Urteilsbegründung
Demgegenüber hielt die Kleine Kammer des EGMR im November 2009 fest, dass durch die Präsenz von Kruzifixen die Schüler/innen den Eindruck bekämen, in einer Schule ausgebildet zu werden, welche den Stempel einer bestimmten Religion trage. Dies könnte auf die Schüler/innen, die einer anderen Konfession angehören oder Atheisten sind, beunruhigend wirken. Ferner würde dies dem Bildungs-Pluralismus, der für die Erhaltung einer «demokratischen Gesellschaft» notwendig sei, nicht dienen.
Nun hat die Grosse Kammer des Gerichtshofes als letzte Instanz den Fall anders bewertet. In ihrem am 18. März 2011 veröffentlichten Urteil bestreitet diese zwar nicht, dass das Anbringen von Kruzifixen zu einer verstärkten Sichtbarkeit der Mehrheitsreligion in der schulischen Umgebung führt. Sie sieht im Kruzifix jedoch nur ein «passives Symbol, welches nicht mit einem didaktischen Vortrag oder mit der Teilnahme an einer religiösen Handlung» zu vergleichen sei. Ferner vertritt sie die Auffassung, dass es sich nicht beweisen lasse, ob die Präsenz von religiösen Symbolen in Unterrichtsräumen tatsächlich einen Einfluss auf die Schüler/innen hat. Zudem betont die Grosse Kammer die generelle Offenheit der italienischen Schulen für andere Religionen: Diese erlaubten etwa das Tragen von religiösen Symbolen wie das Kopftuch und würden auch Praktiken von Nichtmehrheitsreligionen berücksichtigen.
Der Gerichtshof kommt folglich zum Schluss, dass die Wirkung der höheren Sichtbarkeit des Kruzifixes, angesichts dieser Tatsachen relativiert werden müsse. Er ist der Ansicht, dass es keine Anhaltspunkte dafür gibt, dass die Behörden sich gegenüber Schüler/innen, welche einer anderen Konfession angehören, intolerant verhalten hätten. Schliesslich hält der Gerichtshof fest, dass das elterliche Recht der Klägerin, ihre Kinder nach ihrer eigenen Weltanschauung zu erziehen, durch die Anwesenheit von Kruzifixen in Klassenzimmern unberüht blieb.
Schweizer Richter für strikte Neutralität
Die Richter/innen der Grossen Kammer des EGMR hielten darüber hinaus in ihrem Urteil fest, dass Entscheidungen auf dem Gebiet der Erziehung und des Unterrichts in den Beurteilungsspielraums der Vertragsstaaten fallen und deshalb vom EGMR respektiert werden müssen. Die Staaten sollten daher auch selber entscheiden können, ob sie Kruzifixe in Klassenzimmern öffentlicher Schulen belassen wollen oder nicht.
Eine differenzierte Auffassung vertrat im Übrigen der Schweizer Richter Giorgio Malinverni. Malinverni zufolge verlange die Menschenrechtskonvention auch im Bereich der schulischen Umgebung eine strikte Neutralität des Staates. Aus diesem Grunde dürfte der Staat den Schüler/innen die Symbole einer Religion, in der sie sich nicht wiederfinden, auch nicht auferlegen.
Bedeutung für die Schweiz
Das Schweizerische Kompetenzzentrum für Menschenrechte (SKMR) hält in einer Analyse des Urteils fest, dass dieses keine direkten Auswirkungen für die Schweiz haben werde. Dennoch sei das Urteil von grosser Bedeutung, komme der Gerichtshof doch zu einem anderen Schluss als das Bundesgericht in seinem "Kruzifix-Entscheid" aus dem Jahre 1990. Damals wurde entschieden, dass es dem Staat nicht erlaubt sei, die eigene Verbundenheit mit einer bestimmten Konfession deutlich zu zeigen.
Dokumentation
- Urteil des EGMR vom 18. März 2011, in französisch (pdf, 56 S.)
- Pressemitteilung des Kanzlers (pdf, 6 S.)
- Urteil des EGMR vom 3. November 2009, in französisch (pdf, 18 S.)
- Kruzifixe in italienischen Schulzimmern verstossen nicht gegen die EMRK
Artikel des Schweizerischen Kompetenzzentrums für Menschenrechte, 6. Mai 2011 - Sonderstellung des Kruzifixes im öffentlichen Raum? Parlamentarische Initiative für eine Verfassungsänderung
Artikel im Newsletter des Schweiz. Kompetenzzentrums für Menschenrechte SKMR vom 6. Juli 2011