08.02.2013
Die parlamentarische Versammlung des Europarates hat seine Mitgliedsstaaten mit einer Resolution vom 22. Januar 2013 zu einer besseren Umsetzung der EGMR-Urteile aufgerufen. Damit soll der Europäische Menschenrechtsgerichtshof entlastet werden. Die Resolution nennt namentlich 9 Mitgliedsstaaten, welche durch strukturelle Probleme bei der Umsetzung die Arbeit des EGMR und damit den europäischen Menschenrechtsschutz «unterminieren» würden. So klare Worte hat der Europarat in der Debatte um die Überlastung des EGMR noch kaum je gewählt.
Die Problematik der «clone cases»
Jährlich erreichen rund 65‘000 neue Beschwerden den EGMR – Tendenz zunehmend. Ein Grossteil dieser Beschwerden ist nicht auf ein «Systemversagen im Einzelfall» zurückzuführen, sondern auf strukturelle Defizite im Rechtswesen eines bestimmten Staates. Die entsprechenden Beschwerden haben deshalb immer wieder gleichartige Probleme zum Gegenstand.
Um solche «clone cases» – zu Deutsch« Klonfälle» – besser bewältigen zu können, hat der EGMR bereits ein so genanntes Piloturteil-Verfahren eingeführt. Der Gerichtshof prüft dabei einen exemplarischen Fall und verabschiedet ein Piloturteil, welches schablonenartig auf die übrigen pendenten «Klonfälle» angewandt werden kann. Ausserdem bezeichnet der EGMR in den Piloturteilen geeignete Massnahmen zur Verhinderung weiterer «Klonfälle» im betreffenden Staat. Für Aufsehen sorgte in diesem Zusammenhang Grossbritannien, welches es offiziell ablehnte, ein vom EGMR in einem solchen Grundsatzurteil gefordertes Gesetz zur Einführung des Wahlrechts für Strafgefangene zu erlassen.
Passiver Widerstand bei der Umsetzung von EGMR-Urteilen
Hier knüpft die nun verabschiedete, auf einem Bericht des Rechtsausschusses basierende Resolution der parlamentarischen Versammlung des Europarates an: Zwar weigert sich kaum ein Staat wie Grossbritannien explizit, ein Urteil zu vollziehen. Viele Staaten reagieren jedoch schlicht nicht auf die Empfehlungen, wie eine entsprechende Verurteilung durch innerstaatliche Massnahmen künftig verhindert werden könnte. Spitzenreiter bei den untätigen Mitgliedsstaaten mit chronisch mangelhaften Justizsystemen sind Italien und Russland. Beschwerden gegen Russland haben häufig ähnliche rechtswidrige Haftbedingungen als Folge struktureller Probleme im russischen Gefängniswesen zum Gegenstand. Weiter erwähnt sind in der Resolution Bulgarien, Griechenland, Moldawien, Polen, Rumänien, die Türkei und die Ukraine.
Aufforderung an die nationalen Parlamente
Die Parlamente dieser 9 Mitgliedstaaten sind nun aufgefordert, bei ihren Regierungen Druck auszuüben, damit die Urteile des EGMR angemessen umgesetzt werden. Es soll zudem in jedem dieser Länder eine unabhängige Instanz eingerichtet werden, die sich darum kümmert, dass Justiz und Polizei die Rechtsprechung des EGMR konsequent beachten. Die parlamentarische Versammlung des Europarats hat mit weiteren Massnahmen gedroht, sollten die Staaten weiterhin massenhaft ähnliche «Klonfälle» in Strassburg provozieren. Wie diese Massnahmen aussehen sollen, hat die Resolution indes offen gelassen.
Dokumentation
- Ensuring the viability of the Strasbourg Court: structural deficiencies in States Parties
Resolution 1914 (2013) der Parlamentarischen Versammlung des Europarates, Doc. 13087, verabschiedet am 22. Januar 2013 - Implementation of judgments of the European Court of Human Rights
Committee on Legal Affairs and Human Rights, Report (Doc. 12455) vom 20. Dez. 2010 - Europarat fordert Umsetzung von Strassburger Urteilen
Neue Zürcher Zeitung NZZ vom 23. Januar 2013 (pdf, 2 S.)