30.01.2025
Das europäische Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT) fordert die Schweiz in seinem Bericht zum Besuch vom Juni 2021 auf, eine umfassende Strategie zur Reduktion der Gefängnispopulation zu entwickeln (CPT/Inf (2022)9). Drei Jahre später hat sich die Situation weiter zugespitzt. Wo ist anzusetzen, um dem Problem zu begegnen?
Warum sind überfüllte Gefängnisse für die Inhaftierten ein so gravierendes Problem?
Überbelegung beeinträchtigt das Wohlbefinden und die Privatsphäre der Inhaftierten massiv, beides zentrale Elemente der Menschenwürde. Beispielsweise müssen sich oft mehrere Personen eine Zelle teilen, die nur für eine Person ausgelegt ist. Zusätzlich werden essenzielle Angebote wie Zeit ausserhalb der Zelle, berufliche Aktivitäten, Sport oder Gesundheitsversorgung durch mangelnde Infrastruktur und Personalmangel stark eingeschränkt. Dies erhöht die körperliche, psychische und soziale Belastung der Inhaftierten erheblich. Eine Genfer Studie zeigt deutlich auf, dass Überbelegung das Risiko von Selbstverletzungen und Suiziden bei Gefangenen steigert.
Überfüllte Gefängnisse führen zu menschenunwürdigen Haftbedingungen. Trotzdem konnte kürzlich in etlichen Tageszeitungen davon gelesen werden. Was schlagen Sie vor, um dieses Problem zu lösen?
Überbelegung ist ein altes Problem und der Bau neuer Haftplätze bietet dazu lediglich eine altbewährte, jedoch nicht nachhaltige Lösung. Der letzte Bericht des europäischen Komitees zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT) erinnert die Schweiz explizit daran, dass «die Erweiterung der Gefängniskapazitäten keine dauerhafte Lösung für das Problem der Überbelegung darstellt» (CPT/Inf (2022) 9).
Die Schweiz muss neue Wege einschlagen, um die Überbelegung zu reduzieren. Der effektivste Ansatz wäre aus meiner Sicht die Abschaffung von Ersatzfreiheitsstrafen. Bei Ersatzfreiheitsstrafen handelt es sich um eine Umwandlung von nicht bezahlten Bussen und Geldstrafen in Freiheitsstrafen. Häufig fallen dies Freiheitsstrafen zwar relativ kurz aus, dennoch wird die Grösse der Problematik leicht unterschätzt. So machen sie etwa die Hälfte aller Hafteintritte in der Schweiz aus.
Ausserdem gibt es in der Schweiz bereits alternative Vollzugsformen wie Electronic Monitoring und gemeinnützige Arbeit. Diese Ansätze sind zwar etabliert, ihr Potenzial wird jedoch bei Weitem noch nicht ausgeschöpft.
Weshalb plädieren Sie für die Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe?
Ersatzfreiheitsstrafen treffen vor allem Menschen ohne geregeltes Einkommen, Obdachlose oder Personen mit psychischen Erkrankungen. Hierzu gibt es jedoch nicht genügend genaue Forschungsergebnisse. Die zugrunde liegenden Delikte sind häufig Bagatelle, wie etwa Schwarzfahren. Für Menschen mit psychischen Vorerkrankungen oder instabilen Lebensverhältnissen bedeutet auch schon eine kurze Inhaftierung eine enorme Belastung, die ihre ohnehin schwierige Lage weiter verschärft. Die Strafe ist somit sozial ungerecht und eigentlich kriminalpolitisch unerwünscht, da dass Strafgesetzbuch für die begangenen Delikte keine Freiheitsstrafe vorsehen würde.
Eine solche Haft löst keine sozialen oder finanziellen Probleme wie Armut oder Obdachlosigkeit – sie verschlimmert sie vielmehr. Ausserdem ist diese Sanktionierung hochgradig ineffizient, da die Kosten für die Unterbringung und Versorgung dieser Personen übersteigen oft den Betrag der ursprünglichen Geldstrafen. Stattdessen könnten diese Mittel sinnvoller in präventive Massnahmen investiert werden, um Betroffene gar nicht erst in solche Notlagen geraten zu lassen.
Welche weiteren Reformen wären nötig, um die Überbelegung in Schweizer Gefängnissen nachhaltig zu verringern?
Das ursprüngliche Problem der Überbelegung ist nicht auf eine steigende Kriminalitätsrate zurückzuführen, sondern darauf, dass das Strafrecht zunehmend ausgeweitet und instrumentalisiert wird, um angebliche gesellschaftliche Probleme zu adressieren. Beispiele hierfür sind die Nutzung des Strafrechts zur Migrationskontrolle («Krimmigration») oder zu den vermeidlichen Eindämmungen von Suchterkrankungen.
Es bedarf einer Rückkehr zu einem liberalen Strafrecht, das nur als ultima ratio – als letztes Mittel – eingesetzt wird. Strafrecht sollte nicht als Werkzeug zur Lösung sozialer Herausforderungen missbraucht werden.
Was gibt es abschliessend zum Thema zu sagen?
Menschenwürdige Haftbedingungen dürfen nicht geopfert werden, nur damit sich Politiker*innen mit scheinbar einfachen Lösungen profilieren können. Es ist entscheidend, dass die Schweiz konsequent auf menschenrechtskonforme und nachhaltige Ansätze hinarbeitet. Wir tragen die Verantwortung von Suiziden und Selbstverletzung mit, wenn wir unsere Gefängnisse chronisch überbelegen.
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Livia Schmid
Leiterin Beratungsstelle Freiheitsentzug
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