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Die Prüfung der Hafterstehungsfähigkeit ist zentral für die Einhaltung der Menschenrechte

13.06.2024

Die Hafterstehungsfähigkeit ist die Fähigkeit eines Menschen, in einer Einrichtung des Freiheitsentzugs oder einer anderen geeigneten Einrichtung, in der ihm die Freiheit entzogen wird, leben zu können, ohne dass der Freiheitsentzug eine besondere und ernste Gefahr für die Gesundheit und/oder das Leben der inhaftierten Person darstellt. Sie ist für die Einhaltung der Menschenrechte von inhaftierten Personen, insbesondere des Rechts auf Leben und des Folterverbots von entscheidender Bedeutung. Jüngste Fälle zeigen, dass das Schweizer Rechtssystem noch weit davon entfernt ist, seine Verpflichtungen zu erfüllen, und deutlich verbessert werden muss.

 

Bei der Beurteilung der Hafterstehungsfähigkeit handelt es sich immer um eine Rechtsfrage, d.h. eine Rechtsgüterabwägung, die nicht durch eine Ärzt*in, sondern durch die Vollstreckungsbehörden zu erfolgen hat. Jedoch hat der/die Ärzt*in den Behörden respektive dem Gericht alle für einen behördlichen oder richterlichen Entscheid notwendigen medizinischen Angaben zu machen. Diese Stellungnahme wird bei der Entscheidung einer Justizbehörde berücksichtigt. Bei einer Überprüfung muss der Staat die Rechte der inhaftierten Personen gewährleisten, die durch verschiedene nationale und internationale Rechtsquellen geschützt sind, wie etwa Artikel 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und Artikel 10 der Schweizer Bundesverfassung sowie Artikel 6 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (UNO Pakt-II), aber auch Art. 3 EMRK, der Folter und erniedrigende Behandlung verbietet. Diese Rechtsgrundlagen verpflichten den Staat, eine angemessene medizinische Versorgung bereitzustellen, um das Leben der Inhaftierten zu erhalten und ihr physisches und psychisches Wohlbefinden zu gewährleisten. Zwar sind für die Beurteilung der Hafterstehungsfähigkeit gemäss dem Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) nur schwere und dauerhafte Krankheiten sowie erhebliche psychische Beeinträchtigungen relevant, doch die Fälle von Raphael K. und Kilian S. zeigen, dass eine falsche Einschätzung der Situation tödlich sein kann.

Die Spezialisierung des Personals, das die Hafterstehungsfähigkeitsprüfung durchführt, ist ein wesentliches Element. Nach den Standards des Ausschusses zur Verhütung von Folter des Europarats „sollten Gefängnisärzte und -pfleger über spezielle Kenntnisse verfügen, die es ihnen ermöglichen, mit den besonderen Formen der Gefängnispathologie umzugehen und die Pflegeleistungen an die Bedingungen anzupassen, die die Haft mit sich bringt“ (S. 39). In der Schweiz gibt es hierfür keine konkrete gesetzliche Regelung. Die Strafprozessordnung statuiert einzig, dass Untersuchungen von Personen und Eingriffe in die körperliche Integrität von einer Ärztin oder einem Arzt oder von einer anderen medizinischen Fachperson vorgenommen werden (Art. 252 StPO). In einem Urteil aus dem Jahr 2017 (SK 16 395, S. 23) betonte das Obergericht Kanton Bern, dass die Behörde die medizinische Beurteilung nicht selbst vornehmen darf, sondern sie einer Spezialist*in übertragen muss. Seit 2019 führen die Kantonspolizei Bern und der Kantonsärztliche Dienst Bern Schulungen zur medizinischen Beurteilung der Hafterstehungsfähigkeit durch. Der Kurs ist jedoch nicht obligatorisch. Aus menschenrechtlicher Sicht muss diese Schulung zu einem unverzichtbaren Kriterium werden zur Sicherstellung, dass alle über die erforderlichen Kompetenzen verfügen, die eine Hafterstehungsfähigkeitsprüfung durchführen oder veranlassen. Der EGMR verlangt, dass die Akteure angesichts der Vielfalt der Pathologien über eine spezifische Ausbildung verfügen, wie im EGMR-Urteil Wenner vs. Deutschland vom 1. Dezember 2016 hervorgehoben. Die Ausbildung sollte sich hauptsächlich auf die physischen und psychologischen Folgen einer Inhaftierung konzentrieren, d.h. auf dringende Situationen, die eine schnelle Entscheidungsfindung erfordern, da der klinische Verlauf in Haftanstalten sehr unterschiedlich ist. Bei Problemen wie Suizidalität sollte die Untersuchung immer von einem erfahrenen Arzt oder Ärztin der Stufe 2 durchgeführt werden. 

Die Unabhängigkeit der Verfahren auf kantonaler Ebene muss gewährleistet werden, d. h. das medizinische Personal muss seine professionellen Urteile ohne äussere Einflüsse oder Druck abgeben können. Zusätzlich dürfen die Ärzt*innen, die die Untersuchung durchführen, keine direkte hierarchische, finanzielle oder vertragliche Beziehung zur Justiz oder der Strafvollzugsanstalt haben. Die Situation in der Schweiz ist sehr heterogen: In den Westschweizer Kantonen und im Tessin wird das medizinische Personal von der kantonalen Krankenhausbehörde angestellt, während es in den anderen Kantonen vom Gefängnis oder von der Justiz angestellt wird. Nur das erstgenannte System ist mit der EMRK vereinbar, da es eine unparteiischere und neutralere Beurteilung der Hafterstehungsfähigkeit ermöglicht. Die individuellen Rechte werden so eher respektiert und es kann besser von einem fundierten medizinischen Fachwissen profitiert werden. Ist das medizinische Personal hingegen vom Gefängnis oder von der Justiz abhängig, besteht die Gefahr der Vetternwirtschaft und von Interessenkonflikten, was die Achtung der Grundrechte der Betroffenen gefährdet. Eine solche Beziehung zwischen den kantonalen Staatsanwaltschaften und den medizinischen Akteur*innen ist darüber hinaus problematisch, wenn die Strafuntersuchungsbehörde Druck auf die medizinischen Akteur*innen ausübt, insbesondere in Fällen, in denen die Person für die Strafuntersuchung sofort einvernommen werden müsste. Probleme mit der Unabhängigkeit können sich auch ergeben, wenn die Bezugsperson immer dieselbe bleibt, da ein stark von Vertrauen abhängiges Arbeitsverhältnis entstehen könnte, das zu ungewolltem Druck führt. Aus diesem Grund hat der Regierungsrat des Kantons Bern in einer Stellungnahme erklärt, dass ab Februar 2020 das Fachpersonaĺ für Aufsicht und Betreuung vollständig von den Aufgaben des Gesundheitsdienstes losgelöst wird. 

In der Schweiz verfügten bis 2020 nur sieben Kantone über ein unabhängiges System (S. 10), sodass es in der Praxis schwer zu glauben ist, dass sich alle Kantone bereits zum jetzigen Zeitpunkt an die internationalen Anforderungen angepasst haben. Die Auslegung des Bundesgerichts in Fällen, in denen es um die Unabhängigkeit und Spezialisierung des medizinischen Personals bei der Beurteilung der Hafterstehungsfähigkeit geht, erfüllt nach wie vor nicht die Anforderungen von Art. 2 und 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Dies zeigt sich im EGMR-Urteil Frick vs. Schweiz vom 30. Juni 2020, in dem das Bundesgericht die Qualifikation des Notarztes als unwichtig erachtete.

Auch wenn es den Anschein hat, dass sich alle Kantone an die internationalen Anforderungen anpassen, sind die Gesetzgebung und die Rechtsprechung nach wie vor nicht mit den Menschenrechten vereinbar. Daher ist ein struktureller und gesetzgeberischer Wandel erforderlich. Es muss ein Bundesgesetz erlassen werden, das die Unabhängigkeit der Hafterstehungsfähigkeitsprüfung garantiert und die Akteur*innen in diesem Bereich obligatorische spezialisierte und angepasste Schulungen durchführen und erhalten.

Link zur Masterarbeit

April 2024 / Pietro Valenti

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Livia Schmid
Leiterin Beratungsstelle Freiheitsentzug

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