14.11.2024
Stellen Sie sich vor, Sie würden in den (Deutsch-)Schweizer Zeitungen und sozialen Medien Slogans mit folgendem Inhalt sehen:
«Neue Normalität? Tessiner Mann tötet Schweizer Ehefrau ungarischer Herkunft».
«Neue Normalität? Schweizer Polizist im Ruhestand erschiesst bekannten Schweizer Winzer».
«Neue Normalität? Italienischsprachiger Mann bringt Frau um».
Die drei Slogans sind alle wahr und beziehen sich auf ein Verbrechen, das tatsächlich im Kanton Tessin begangen wurde (ein Tessiner Polizist im Ruhestand hat zuerst den Liebhaber seiner Ehefrau, danach die Frau und am Schluss sich selbst am 17. Mai 2020 in einem Restaurant in Giubiasco erschossen). Aber keiner von diesen Slogans sagt die ganze Wahrheit: Es handelt sich um Teilwahrheiten, die aus dem Kontext genommen wurden. Vor allem aber heben – und instrumentalisieren – sie den einen oder anderen Aspekt der Identität des Täters hervor.
Gastbeitrag von Prof. Nenad Stojanović, Politologe an der Universität Genf. Er war zwischen 2012 und 2023Mitglied der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus.
Welche Auswirkungen kann diese Art von Wahlwerbung auf die Wählerschaft und die öffentliche Meinung im Allgemeinen haben?
Zahlreiche wissenschaftliche Studien haben dieses Phänomen analysiert und dabei Ausdrücke wie «Populismus der Angst» oder «Strafpopulismus» verwendet. Laut Paul Chevigny, der an der New York University Rechtswissenschaften lehrte, neigen populistische Parteien dazu, nach Themen zu suchen, die alle sozialen Schichten ansprechen. «Das Verbrechen und die daraus resultierende Angst vor Unsicherheit ist ein offensichtliches Thema, das oft verwendet und manchmal sogar übertrieben wird, um die Unterstützung der Bevölkerung zu gewinnen», schreibt Chevigny. Für Wojciech Zalewski, Jura-Professor an der Universität Gdansk, bezeichnet der Ausdruck «Strafpopulismus» eine Reihe sozialer Überzeugungen sowie politischer und gesetzgeberischer Massnahmen, die «durch eine strenge Haltung gegenüber Verbrechen und die Instrumentalisierung der Opfer von Verbrechen gekennzeichnet sind».
Forschende von der Universität Wien Franziska Marquart, Florian Arendt und Jörg Matthes stellen fest, dass in ganz Europa die Verwendung negativer Darstellungen von Einwanderern in populistischer politischer Werbung «drastisch zugenommen hat». In ihrer experimentellen Studie wurden die Mechanismen und Bedingungen für die Auswirkungen solcher Werbung auf «explizite und implizite Einstellungen» gegenüber Ausländerinnen und Ausländern untersucht. Explizite Einstellungen sind die offen geäusserte Urteile. Implizite Einstellungen, hingegen, beeinflussen die subtilen «Bauchreaktionen» und sind ein wichtiger Prädiktor für die spontanen Reaktionen und das soziale Verhalten von Personen. Die Ergebnisse dieser Studie zeigen, dass populistische Werbung bei Wählerinnen und Wählern mit niedrigeren Bildungsabschlüssen die Gruppenangst und negative Stereotypen verstärkt. Dies wiederum führte zu mehr negativen expliziten Einstellungen. Bei Wählerinnen und Wählern mit höherem Bildungsabschluss wurden jedoch stärkere Auswirkungen populistischer Werbung auf implizite Einstellungen beobachtet.
Natürlich ist es nicht einfach, die Auswirkungen solcher Kampagnen auf die öffentliche Meinung und die soziale Wahrnehmung von Menschen ausländischer Herkunft in der Schweiz zu quantifizieren. Das Mindeste, was man sagen kann, ist, dass solche Kampagnen nicht dazu beitragen, ein Klima des gegenseitigen Vertrauens und des friedlichen Zusammenlebens zwischen Schweizerinnen und Schweizern und Ausländerinnen und Ausländern, sowie zwischen verschiedenen Kategorien von Ausländerinnen und Ausländern, zu schaffen. Ähnliches würde passieren, wenn – nehmen wir an – die Medien in der Deutschschweiz Anzeigen veröffentlichen würden, in denen Straftaten von Italienischsprachigen im Allgemeinen und Tessinern im Besonderen thematisiert würden (siehe meine fiktiven Beispiele am Anfang dieses Beitrags). Ich glaube, es würde niemanden überraschen, wenn bei den Medien in der Deutschschweiz protestiert würde, dass sie die Tessiner pauschal in ein negatives Licht rücken.
Meine Kritik ist, dass sich Parteien mit rassistischen und diskriminierenden Kampagnen in Hinblick auf den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft unverantwortlich verhalten. Die negativen Auswirkungen, die solche Kampagnen kurz-, mittel- und langfristig auf die Gesellschaft haben sind nicht zu unterschätzen und sollten nicht zugunsten eines Wahlkampfgewinns in Kauf genommen werden.
Um eine Vorstellung von den konkreten und quantifizierbaren Auswirkungen zu bekommen, die Wahlwerbung im Zusammenhang mit Kriminalität und Ausländern auf das Ergebnis einer Wahl oder Abstimmung haben kann, können wir uns auf eine Studie beziehen, die die Abstimmung über das Minarettverbot (November 2009) analysiert hat. Eine Abstimmung, die ja viele Fragen hinsichtlich ihrer Vereinbarkeit mit der Religionsfreiheit, aber auch mit den eindeutig islamfeindlichen und diskriminierenden Inseraten, aufwarf.
In der Studie von Mathieu Couttenier et al. («The logic of fear: populism and media coverage of immigrant crimes») wurde untersucht, wie sich die Berichterstattung über die Kriminalität von Einwanderern auf die Abstimmungsergebnisse auf Gemeindeebene bei dieser Volksabstimmung auswirkte. Die Kampagne, die erfolgreich geführt wurde, spielte aggressiv mit Ängsten vor muslimischer Einwanderung und brachte den Islam mit Terrorismus und Gewalt in Verbindung. Die Forschenden kombinierten einen umfassenden Datensatz zur Erkennung von Gewaltverbrechen mit detaillierten Informationen zur Kriminalitätsberichterstattung aus zwölf Schweizer Zeitungen. Anhand dieser Daten konnten sie das Ausmass der Medienverzerrung bei der Berichterstattung über die Kriminalität von Migranten vor der Wahl quantifizieren. Sie fanden einen positiven Effekt der Nachrichtenberichterstattung auf die politische Unterstützung für das Minarettverbot. Gemäss ihrer Schätzung wäre die Zustimmung zum Verbot um 5 Prozentpunkte (von 57,6 auf 52,6 %) gesunken, wenn den Zeitungen verboten worden wäre, die Nationalität des Täters zu veröffentlichen.
Diese Erkenntnisse legen nahe, dass auch die eingangs erwähnter Kampagne jedoch eindeutig eine noch extremere Entwicklung in diese Richtung ist. Es ist bedenklich, wenn Wahlkampagnen für kurzfristige Wahlgewinne auf Kosten des langfristigen gesellschaftlichen Zusammenhalts geführt werden.
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Nora Riss
Leiterin Beratungsnetz für Rassismusopfer
nora.riss@humanrights.ch
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