Der Themenschwerpunkt im Rassismusbericht ist dieses Jahr das Gesundheitswesen. Im Berichtsjahr wurden im Gesundheitswesen 46 Meldungen verzeichnet, die Dunkelziffer dürfte aber sehr viel höher sein. Die Fallzahlen des Beratungsnetzes beziehen sich nur auf die Anzahl Fälle von Personen, die Beratung in Anspruch genommen haben. Verlässliche Zahlen über die Anzahl von rassistischen Vorfällen im Gesundheitswesen gibt es für die Schweiz – wie auch für rassistische Vorfälle in anderen Bereichen – leider nicht. Im Interview mit zwei Fachpersonen fordern diese an erster Stelle besseres Monitoring über Vorfälle von rassistischer Diskriminierung und über Chancengerechtigkeit beim Zugang zu medizinischer Behandlung.
Interview im Rahmen des Rassismusberichts mit Vanessa Kangni, Projektleiterin, Bureau lausannois pour les immigrés (BLI), Lausanne und Rainer Tan, Leiter von Unité Médicale Soins aux Migrants, Studienarzt (leitender Arzt) –Unité Santé Globale et Digitale am Centre universitaire de médecine générale et santé publique, Lausanne

Bitte stellen Sie sich und Ihre Tätigkeit kurz vor.
Vanessa Kangni: Ich bin Projektleiterin des Bereichs Rassismusprävention in der Lausanner Fachstelle «Bureau lausannois pour les immigrés» (BLI). Dort bin ich für das Angebot «Permanence Info-racisme» zuständig, eine Anlaufstelle zur Betreuung von Betroffenen von rassistischer Diskriminierung in Lausanne. Bei uns finden Betroffene ein offenes Ohr, sie erhalten Beratung und Unterstützung. Zudem zielt das Projekt darauf ab, das Bewusstsein für die Rassismusproblematik in verschiedenen Bereichen zu stärken, darunter dem Gesundheitswesen. Meine Arbeit besteht darin, den Betroffenen zuzuhören und sie zu begleiten sowie die Diskriminierungsvorfälle zu dokumentieren, die jeweiligen Institutionen zu sensibilisieren und an Strategien im Kampf gegen Ungleichheiten mitzuwirken.
Rainer Tan: Ich bin in der klinischen Forschung bei «Unisanté» tätig, dem Universitätszentrum für Allgemeinmedizin und öffentliche Gesundheit in Lausanne. Als Leiter der Abteilung «Unité Médicale Soins aux Migrants» versorge ich Menschen mit Migrationshintergrund, insbesondere Asylsuchende. In meiner Forschungsarbeit und Lehre beschäftige ich mich hauptsächlich mit strukturellem Rassismus im Gesundheitssektor und dessen Auswirkungen auf die Behandlung von Patientinnen und Patienten.
Wo begegnet Ihnen die Rassismusproblematik im Gesundheitssektor?
Vanessa Kangni: Bei der «Permanence Info-racisme» berichten uns Betroffene von ihren Erfahrungen mit rassistischen Anfeindungen im Gesundheitswesen, sowohl Patientinnen und Patienten als auch behandelnde Personen. Auf der einen Seite sehen wir Vorfälle, bei denen Menschen aufgrund ihrer Herkunft oder ihrer Hautfarbe anders behandelt werden: verspätete Diagnosen, bagatellisierte Schmerzen, verweigerte Behandlungen oder herablassendes Verhalten des medizinischen Personals. Andererseits sind auch Angehörige von rassifizierten Minderheiten, die im Gesundheitswesen arbeiten, betroffen. Bei der Arbeit kommt es zu Mobbing, die berufliche Laufbahn wird behindert oder Patientinnen und Patienten verhalten sich ihnen gegenüber herabwürdigend oder aggressiv. Es passiert ebenfalls, dass sich jemand von einem rassifizierten Arzt nicht behandeln lassen möchte. An diesen Erfahrungen zeigen sich strukturelle Ungleichheiten, die jedoch nicht immer anerkannt werden, weder von den Betroffenen selbst noch von den Gesundheitseinrichtungen.
Rainer Tan: Ich behandle häufig rassifizierte Patientinnen und Patienten und werde bei jeder Untersuchung mit meinen eigenen unbewussten Vorurteilen konfrontiert. Wie alle, die in einer Gesellschaft mit rassistischen Ungleichheiten aufwachsen, habe auch ich einige Vorurteile internalisiert. Werden sie nicht hinterfragt, können sie zu Qualitätsunterschieden in der Behandlung von weissen und rassifizierten Menschen führen.
Zudem bekommt mein Team regelmässig mit, wie von anderen Fachkräften fragwürdige Behandlungsentscheide getroffen werden. Manchmal fragen wir uns dann, ob bei einem weissen Patienten die gleiche Entscheidung getroffen worden wäre.
Welche zentralen Herausforderungen bestehen in Bezug auf rassistische Vorfälle im Gesundheitswesen?
Vanessa Kangni: Eine der grössten Herausforderungen ist, dass das Problem unterschätzt wird. Viele Betroffene haben Bedenken, Rassismuserfahrungen zu melden, aus Angst vor Vergeltung, weil sie befürchten, dass der Vorfall verharmlost wird oder weil sie nicht wissen, an wen sie sich wenden sollen. Aufgrund mangelnder Aufklärung und Sensibilisierung des medizinischen Personals wird das Thema noch unsichtbarer.
Darüber hinaus bestehen Lücken hinsichtlich der Aufarbeitung der Fälle durch die Einrichtungen: Die gemeldeten Fälle werden nicht klar protokolliert, Beweismittel werden nicht ausreichend zusammengetragen und es fehlt am Monitoring diskriminierender medizinischer Praktiken. Rassifizierte Gesundheitsfachkräfte wiederum stossen in ihrem Arbeitsumfeld häufig auf eine implizite Rassismustoleranz, was ihr Wohlbefinden bei der Arbeit und die Qualität der Behandlung beeinträchtigt.
Gleichzeitig können Statistiken das Ausmass der Problematik nicht ausreichend abbilden, da nur wenige Fälle offiziell gemeldet werden. Die Erfahrungsberichte, die Betroffene mit uns teilen, ob bei der «Permanence Info-racisme» oder im Rahmen unserer Veranstaltungen, wie der Aktionswoche gegen Rassismus, zeigen, dass rassistische Diskriminierung im Gesundheitswesen ein echtes und häufiges Problem ist.
Rainer Tan: Eine der grössten Herausforderungen ist, dass rassistische Vorfälle im medizinischen Kontext meist nicht als solche wahrgenommen werden, weder von Patientinnen und Patienten noch vom Personal. Zahlreiche Studien zeigen, dass rassifizierte Menschen im Vergleich zu weissen eine schlechtere Behandlung erhalten, und zwar unabhängig von Werdegang oder den Überzeugungen der behandelnden Person.
Diese Ungleichheiten äussern sich insbesondere durch Defizite in der Kommunikation und der Schmerzbehandlung. Zudem wird der Schweregrad eines Falls häufiger unterschätzt und die Behandlungszeit fällt kürzer aus als bei weissen Patientinnen und Patienten. Trotzdem legen die Zahlen des Beratungsnetzes für Rassismusopfer Jahr für Jahr offen, dass nur ein Bruchteil aller Vorfälle im Gesundheitswesen offiziell gemeldet wird – das Problem wird also weiterhin nicht als solches anerkannt.
Welche Lösungen sind denkbar?
Vanessa Kangni: Ein erster Schritt wäre, mehr Bewusstsein dafür zu schaffen, dass Rassismus im medizinischen Kontext ein strukturelles Problem ist, kein isoliertes Phänomen. Dafür müssten medizinische Fachkräfte über unbewusste Vorurteile und die Folgen rassistischer Diskriminierung auf die Behandlungsqualität aufgeklärt werden.
Darüber hinaus braucht es wirksame Meldemechanismen, die sowohl Patientinnen und Patienten als auch Fachkräften zugänglich sind. Damit einhergehen würde die Schaffung unabhängiger Stellen zur Beurteilung der Beschwerden, die zudem Korrekturmassnahmen in die Wege leiten. Am CHUV (Centre hospitalier universitaire vaudois) existiert ein solcher Mechanismus bereits, er könnte auf alle Gesundheitseinrichtungen ausgeweitet werden.
Spitäler und Gesundheitszentren sollten sich mehr für Diversität und Inklusion einsetzen und ein sicheres Arbeitsumfeld für rassifizierte Fachkräfte schaffen. Das bedeutet auch: Nulltoleranz bei rassistischem Verhalten und wirksame Opferbegleitung.
Schliesslich wäre es unabdingbar, Diskriminierungsfälle zu dokumentieren und Daten zur Herkunft von Patientinnen und Patienten bzw. behandelnden Personen zu erheben. Nur so können die Tragweite der Ungleichheiten beurteilt und entsprechende Lösungen gefunden werden.
Rainer Tan: Ein erster wesentlicher Schritt würde darin bestehen, die Sensibilisierung für das Rassismusproblem im Gesundheitswesen zu stärken und den Einfluss unbewusster Vorurteile auf Behandlungsentscheidungen besser zu verstehen. Allein durch ein grösseres Bewusstsein der medizinischen Fachkräfte für ihre eigenen verinnerlichten Denkmuster könnte die Behandlung rassifizierter Patientinnen und Patienten verbessert werden.
Darüber hinaus müssten strukturelle Veränderungen angestossen werden: Die Ausbildung sollte auf wissenschaftlichen Erkenntnissen fussen und die medizinischen Praktiken sowie Anti-Rassismus-Massnahmen der Gesundheitseinrichtungen müssten auf den Prüfstand gestellt werden.
Welche Forderungen stellen Sie an die grossen Spitäler und den Staat, sprich an Bund und Kantone?
Rainer Tan: Ich habe hauptsächlich zwei Forderungen:
- Stärkung und Verbesserung der Ausbildung zum Thema Rassismus im Gesundheitswesen mit besonderem Augenmerk auf unbewussten Vorurteilen und deren Auswirkungen auf die Qualität der medizinischen Versorgung – das wird an der Universität Lausanne bereits umgesetzt, an anderen Universitäten jedoch nicht immer.
- Erhebung und Analyse von Daten zur «Race» der Patientinnen und Patienten, denn ohne diese Daten sind Rückschlüsse auf das Ausmass der Diskriminierung und Behandlungsunterschiede schwierig. Es ist essenziell, sorgfältig Daten zu erfassen, um Ungleichheiten zu erkennen, zu verstehen und sie wirksam zu bekämpfen.
Beim Gebrauch des Begriffes «Race» bin ich mir bewusst, dass es sich hierbei um ein gesellschaftliches Konstrukt handelt, das in rassistischen Haltungen seinen Ursprung nimmt. Der Begriff hat keinerlei biologische Grundlage. Trotzdem können wir ihn nicht einfach ignorieren, denn das Konzept der «Race» nimmt auch heute noch Einfluss auf soziale Interaktionen, sei es bewusst oder unbewusst.
Vanessa Kangni: Ich schliesse mich Dr. Tan an, was die Bedeutung der Ausbildung und der Datenerfassung betrifft, und würde folgende Empfehlungen aussprechen:
- Vertiefte Ausbildung des medizinischen Personals: Dass medizinische Fachkräfte zu rassistischer Diskriminierung besser geschult werden, ist wesentlich, insbesondere zu unbewussten Vorurteilen und deren Einfluss auf medizinische Entscheidungen. Diese Schulungen sollten obligatorisch sein und bereits in das Medizinstudium integriert werden.
- Einrichten von Meldemechanismen und Monitoring: Es braucht unabhängige Anlaufstellen, bei denen sowohl Patientinnen und Patienten als auch behandelnde Personen ihre Diskriminierungserfahrungen melden können, ohne eventuelle Vergeltungsmassnahmen fürchten zu müssen.
- Spitäler und Gesundheitseinrichtungen zur Verantwortung ziehen: Gesundheitszentren müssen entschiedene Massnahmen im Kampf gegen Rassismus ergreifen und ein gleichberechtigtes Arbeitsumfeld für alle schaffen, in dem diskriminierendes Verhalten auch klar sanktioniert wird.
- Erhebung und Analyse von Daten zu rassistischer Diskriminierung: Momentan ist es aufgrund des Datenmangels schwer, Ungleichheiten beim Zugang zur Gesundheitsversorgung und zu einer beruflichen Laufbahn im medizinischen Bereich zu erkennen. Das konsequente Sammeln von Informationen zur Herkunft der Patientinnen und Patienten und ihrer Erfahrung im Gesundheitssystem würde zu einer Anpassung der Gesundheitspolitik beitragen und die Behandlung der betroffenen Bevölkerungsgruppen verbessern.
Das Rassismusproblem im Gesundheitswesen kann nur bekämpft werden, wenn das kollektive Bewusstsein gestärkt und strukturelle Veränderungen vorangetrieben werden. Es ist an der Zeit, dass Gesundheitsbehörden, Spitäler und medizinische Ausbildungsstätten diese Herausforderungen ernst nehmen, um einen diskriminierungsfreien Zugang zur Gesundheitsversorgung sowie ein respektvolles Arbeitsumwelt für alle zu gewährleisten.
kontakt

Nora Riss
Leiterin Beratungsnetz für Rassismusopfer
nora.riss@humanrights.ch
031 302 01 61
Arbeitszeiten: Mo-Do